Alles, was ist :: von James Salter

Auf Seite 235 ereignet sich ein Schwelbrand im Zug von New York nach Chicago. Mutter und Sohn hatten einen vergnügten Nachmittag verbracht und im Speisewagen zu Abend gegessen, jetzt lagen sie in ihren Kojen. „Sie stemmten die Türen auf, kamen aber wegen dem Rauch nicht weiter.“ Die Mutter ruft nach ihrem Kind, Rauch dringt durch die Türritzen. „Als der Zug endlich angehalten hatte und die Fenster eingeschlagen wurden, waren sieben der Passagiere aus Abteilen, die dem Feuer am nächsten waren, erstickt. Darunter auch Dena und ihr Sohn Leon.“ Trennungen, Abschiede und Todesfälle dauern bei James Salter nicht lange, er trauert niemandem nach. In seinen Erinnerungen „Verbrannte Tage“ verliert er beiläufig ein paar Zeilen über einen Unfall im Badezimmer, bei dem eines seiner Kinder stirbt. Er gestattet sich keine Sentimentalität. Salter schreibt Sätze wie Ernest Hemingway, schmucklos und brutal – umso geheimnisvoller und verrätselter erscheint das Erzählte. Vielleicht weist es gar nicht über sich selbst hinaus. Jedenfalls erlaubte sich Salter einen köstlichen Scherz, indem er sich auf den monumentalen Schnurrenerzähler Thomas Hardy berief.

Als James Salter noch Horowitz hieß, war er das Kind einer wohlhabenden Familie in New York City, 1925 geboren. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er -wie schon sein Vater -in West Point ausgebildet und belegte in seiner Klasse Rang 49 von 852 Kadetten. Er war Kampfpilot im Korea-Krieg und flog 100 Einsätze, dann war er einige Jahre in Deutschland stationiert und schrieb nebenher Erzählungen. 1957 verließ er das Militär und veröffentlichte den Roman „The Hunters“, der bald mit Robert Mitchum verfilmt wurde. 1961 entschied sich James Horowitz endgültig für ein Leben als Schriftsteller und änderte seinen Namen in Salter, als wollte er alles auslöschen, was früher war. 1969 verfasste er das Drehbuch für Robert Redfords Filmprojekt „Schussfahrt“, doch der Film über Ski-Rennfahrer wurde dann weitgehend improvisiert. In Deutschland wurden Salters Romane „In der Wand“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ erst 1999 veröffentlicht und von der Kritik wie eine Offenbarung aufgenommen. In der Heimat bewundern ihn die ehrwürdigsten Kollegen: Richard Ford und John Irving preisen seine Prosa; Susan Sontag schrieb vor vielen Jahren einen Satz, mit dem der Verlag mittlerweile nicht mehr wirbt: „Salter belohnt besonders jene, für die Lesen eine intensives ästhetisches Vergnügen ist.“ Eine ambivalente Bemerkung, die impliziert, dass es, zum Beispiel, kein ethisches oder philosophisches Vergnügen ist.

Nun hat James Salter noch einmal einen Roman vorgelegt, der freilich aus Episoden besteht, die ein Eigenleben führen. „Alles, was ist“ suggeriert eine gewaltige, materialsatte Bestandsaufnahme, doch tatsächlich bleibt Salter der Aussparer und Pointillist, der er immer war. Ohne Humor (und manchmal fürchtet man: ohne Empathie) erzählt er Stationen aus dem Leben des Philip Bowman, der mehr oder minder zufällig Lektor wird, Frauen begehrt und heiratet und verliert – und leider als Mensch mit Meinungen, Leidenschaften und Gewohnheiten kaum erkennbar wird. Die Helden bei Salter treffen Frauen meistens bei Empfängen oder Vorträgen, in Bars oder Hotel-Lobbys, und meistens sind es etwas mysteriöse und reizende Damen, die in Scheidung leben oder seit drei Jahren nicht mehr mit einem Mann geschlafen haben. Fast immer aber zeigt sich bald das Luder, das unter dem Bademantel nach dem erigierten Gemächt des Protagonisten greift, während im Fernsehen ein italienischer Film läuft.

Salters Männerfiguren sind komplett illusionslos, nicht ohne Besitz und Bildung, aber emotional unbehaust. Der Zeithintergrund ist beinahe egal -ein Kapitel endet mit der Stille nach der Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys, und einmal liegen sie „halb schlafend im Arm des anderen. Es war Neujahr 1969.“

Manchmal wird es nachgerade amüsant. „,T.T.T.‘, sagte Wells. – ,T.T.T.?‘ – ,Tempel, Titten und Tortellini.‘ Er grinste und entblößte die Lücken zwischen seinen Zähnen, die wie Walrosshauer in alle Richtungen standen. Es gab auch noch eine Schwarz-Weiß-Fotografie von ein paar deutschen Frauen, die, vor Ergriffenheit weinend, einer Naziparade beiwohnen, und oben hing, obwohl es nie jemand sah, ein gerahmtes Foto von Beinen und dem Unterleib einer nackten Frau, die über ein Bett drapiert lag. Er schrieb anspruchsvolle Krimis, in denen eine übergewichtige Frau Mitte fünfzig namens Gwen Godding die Ermittlungen führte „

Salters von Fatalismus und Erfahrung gesättigter Altersstil kippt manchmal ins Betuliche wie die beschwörende Plauderei Ernest Hemingways in „Über den Fluss und in die Wälder“, einem Roman, auf den bald Parodien geschrieben wurden. Hemingway war 50 Jahre alt und rettete sich, indem er den schlichten Märchenonkel-Tonfall von „Der alte Mann und das Meer“ anschlug. James Salter ist jetzt erstaunliche 88 Jahre alt und noch einmal verheiratet, er lebt kommod auf Long Island und in Aspen, Colorado. Am Ende von „Verbrannte Tage“ schreibt er: „Das Feuer war bis auf die Glut niedergebrannt, die Gäste waren fort. Wir gingen in der eisigen Dunkelheit mit dem alten lahmen Hund noch einmal hinaus. Auf der Straße Leere, kein Auto, kein Geräusch, keine Lichter. Das Jahr vorüber, kalte Sterne am Himmel. Den Arm um sie gelegt. Ein Gefühl von Mut. Großes Verlangen, weiterzuleben.“ (Berlin Verlag, 22,99 Euro)

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