Bob Dylan :: Die 100 besten Alben: 1. Time Out Of Mind
Es war ein weihnachtliches Votum: Zur 100. Ausgabe wählte die Redaktion 100 Alben aus, und zwar auf der Grundlage von etwa 10 000 Rezensionen aus acht Jahren. Die Favoriten waren schnell bestimmt, doch auf manchem Nebenschauplatz gab es zähe Scharmützel. So sind die 100 Platten Spiegel der Zeit wie auch der Redaktion. Welche Werke fehlen und welche womöglich überschätzt werden, ist hiermit zur Diskussion freigegeben.
Dieses Album kam komplett unvermittelt. Mitten in eine Zeh, in der man es längst gewohnt war, ein neues Pop-Album immer nur im Kontext anderer Alben zu hören. Da hagelte es Referenzen in den Plattenbesprechungen, da wurde nach cleveren Verweisen gesucht, eingeordnet, abgelegt Doch diese Platte stand allein. Monolithisch.
„Time Out Of Mind“ riss ein Loch in die Zeit. Durch dieses sah man das „alte unheimliche Amerika“, das Greil Marcus einige Monate zuvor in seinem Buch „Inbvisible Republic“ über die „Basement“-Aufhahmen von Bob Dylan und den späteren The Band heraufbeschwor und das sich nach Marcus in Harry Smiths „Anthology Of American Folk Music“ manifestierte. Von der spielerischen Leichtigkeit der 1967er Session im Keller eines hässlichen pinkfarbenen Hauses in den Bergen um Woodstock war auf „Time Out Of Mind“ allerdings nichts zu spüren. Dort herrschte tiefste Dunkelheit, es regnete unaufhörlich. Wie in Ridley Scotts „Blade Runner“. Endzeitstimmung. „It’s mighty funny/ The end of time has just begun.“ Bob Dylan verstand die Welt nicht mehr. Die Menschen waten ihm fremd geworden. Was blieb, war der Ekel. Ein Replikant? Bezeichnend, wie der misogyne, mürrische Ich-Erzähler und eine Kellnerin im stoischen, fast 17-minütigen „Highlands“ umeinander kreisen und sich nicht näher kommen können, wie er schließlich das Lokal verlässt und feststellt: „Nobody is going anywhere.“ Die Kette der Alltägglichkeiten war zerrissen, Dylans Herz suchte in diesen Songs das Glied, das sie wieder zusammenfügen konnte. Er besann sich auf alte Bluesklischees und stöberte in ihnen nach Wahrheit und Schönheit Der Einbruch der Metaphysik in die längst sinnentleerte Postmoderne – ausgerechnet durch den Meister des Verldausulierens und Verweises himself. Die Ironiker der Literaturkritik konnten zu Hause bleiben. Regenpause. „I’m strummin‘ on my gay guitar/ Smokin‘ a cheap cigar.“ Hatte man die beiden Vorgänger-Alben “ Good As I Been To You“ von 1992 und „World Gone Wrong“ von 1993, auf denen Dylan alte Blues- und Folksongs coverte, zunächst noch als schöne, vor allem aber skurrile Äußerungen eines wunderlich gewordenen alten Mannes gesehen, bekamen sie nun den Stellenwert kostbarer archäologischer Funde mit prophetischer Bedeutung. Vor allem die sonderlichen liner notes zu „World Gone Wrong“ deuteten die lyrische Grundstimmung von „Time Out Of Mind“ schon an, und auch musikalisch folgte das Album den bereits ausgelegten Spuren. Seine Exzellenz, der Songpoet, gab sogar bereitwillig Auskunft über Anleihen und Einflüsse: die Memphis Jug Band, Charley Patton, die Mississippi Sheiks, Buddy Holly, Hank Williams.
„Time Out Of Mind“ war eine Selbsterschaffung, der Versuch, aus Tradition und Vorstellung ein neues Ich zu formen, und somit zunächst einmal die Suche nach einem Fundament, einer Heimat, einer Gemeinschaft, in der dieses neue Ich zu Hause wäre, in der sein Werk voll und ganz verstanden werden könnte. Dieses fand Dylan im Rückgriffauf die eigenen musikalischen Wurzeln und die Einschreibung in dieselben, die sich von den in einfachen Bluesstrukturen angelegten Songs bis in das Artwork des Albums erstreckte. Das gab ihm den Halt, den er in den 80er Jahren so vergeblich gesucht hatte, nachdem ihn zunächst die Liebe und dann wohl auch die Heilserwartung verlassen hatten. Dylans Suche nach Schönheit und Wahrheit war so am Ende tatsächlich von Erfolg gekrönt „Time Out Of Mind“ funktionierte in seiner Gesamtheit besser als jedes andere Dylan-Album der letzten 20 Jahre, die atmosphärische Produktion von Daniel Lanois ließ den neuen Stücken erstaunlich viel Luft, was wohl der rechtzeitigen Intervention von Dylan selbst zu verdanken war, und „Not Dark Yet“, „Can’t Wait“, „Standing In The Doorway“ und „Trying To Get to Heaven“ gehörten zu den besten Songs, die er seit einer sehr langen Zeit geschrieben hatte.
So wurde aus der Parodie seiner selbst plötzlich der alte, gefeierte Bluesmann und fahrende Sänger Bob Dylan, die schon zehn Jahre währende „Neverending Tour“ zum Triumphzug. Seine Zukunft lag nun nicht länger in der eigenen Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt, auf den Bühnen dieser Welt