DRUCKSACHEN von Wolfgang Doebeling
Progressive Rock hat in dieser Redaktion keine Lobby. Weder wurde der Meilensteine-Suchtrupp auf progressivem Terrain fündig, noch waren progressive Spurenelemente in unseren individuellen Top-lOOs auszumachen. Allein Jörg Gülden hob mahnend den Zeigefinger und gab zu bedenken, die „ersten drei Yes-LPs“ seien „so übel nicht“ gewesen. So gut, daß Gevatter Gülden sie hätte zu seinen 100 persönlichen Favoriten zählen wollen, freilich auch wieder nicht. Kurz und gut: Den Kritikern dieses Blattes geht das „Progressive“ am Arsch vorbei. Nicht so den Lesern, jedenfalls nicht allen. Rund zehn Prozent der geschätzten Leserschaft outete sich nach Veröffentlichung unserer ultimativen Top 100 per Postkarte als Progressive-positiv und als nicht-immun gegen Töne von King Crimson und Soft Machine, Jethro Tüll und Genesis, Deep Purple und Emerson, Lake & Palmer.
Und seit selbst die Mumien des Kraut-Rock wieder ausgestellt werden, exhumiert von Wirrköpfen wie Julian Cope, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Buchmarkt den Progressismus in der Rockmusik auf die publizistische Agenda setzen würde. Jetzt ist es soweit. Und einiges davon ist lesenswert, durchaus auch für Pomp-Verächter. So „THE MUSIC’S ALL THAT MATTERS“ (Quartet, ca. 42 Mark) von Paul Stump, dessen Musikverständnis geprägt wurde von der Ära zwischen Psychedelia und Punk, der trotz seiner Vernarrtheit aber darauf verzichtet, die verbale Trockeneismaschine anzuwerfen. Stump kennt die Bedeutung des Wortes „Prätention“ und wird darob schon mal von einem gesunden Ekel übermannt Hier wird wenig verbrämt, die Terminologie ist oft erfrischend (Peter Gabriels kalter Klau ist „plunderphonic“), und auch wenn einiges nur definitorischen Wert hat, so ist das sicher nicht gering zu veranschlagen. „A History Of Progressive Rock“ ist der trockene Untertitel eines Bandes, dessen Kapitel-Überschriften doch mehr versprechen als einen bloß historischen Abriß: „Düffel Coats From Outer Space“! Oder „Beat Boys In The Apollo Age“. Und dieses Versprechen wird tatsächlich eingelöst Besonders anschaulich schildert der Autor die unglückselige Metamorphose von The Nice, einer äußerst inventiven und intensiven Konglomeration virtuoser Abenteurer, in den wagnerianisch-pathetischen und erschreckend sinnfreien Kanonendonner namens ELP.
Schön auch die Passagen über die Rolle des Mellotrons (Magie! Merlin! Moody Blues!) und die spätere Faszination für den Fairlight (Fisimatenten! Fusselbärte! Frippertronics!). Der Soziologe Simon Frith seziert die gesellschaftlichen Bedingungen für den Massen-Schwurbel und äußert sich kompetent über das studentische Element bei der Bewältigung des musikalischen Fortschritts. Auch Zeitzeuge und Prog-Rock-Apologet (damals, Leute, damals) John Peel plaudert angeregt aus dem Nähkästchen eines Label-Tycoons, Radio-Piraten und Medicine Head-Mäzens. Sehr kurzweilig und nicht selten komisch. „The main reason for writing this book“, offeriert Paul Stump offensiv im Vorwort, „is that it’s high time someone did.“ Gut gebrüllt, Löwe. 4,0
Bill Martin findet als praktizierender Akademiker (er ist Sozial-Theoretiker in Chicago) einen anderen Zugang zu den Komplexitäten und Widersprüchen jener Dekade: „LISTENING TO THE FUTURE“ (Open Court, ca. 58 Mark), untertitelt „The Time Of Progressive Rock 1968 -1978“, ist aus der Defensive geschrieben und mag als Antwort auf unzählige Kritiker-Schmähungen der verehrten Prog-Protagonisten durchgehen. Martin bemüht für seine Rechtfertigungsprosa Walter Benjamin und Immanuel Kant, sucht Belege bei Thomas Mann und Zuflucht in Edward Macans Überhöhungen, etwa jener, die Prog-Rock in die Kontinuität anglikanischer Liturgie stellt Never mindthe bollocks. Was indes schon irritiert, ist der Nachweis des Proto-britischen in Sprache und Ausdruck des Art Rock, von Caravan über Gentle Giant bis zu Van Der Graaf Generator. 3,0
Martins Stil ist zuweilen weihrauchig und gravitätisch, doch was will man von einem Mann erwarten, dessen erste Platte ^Abbey Road“ war, „a record of great maturity“, der mithin bereits erwachsen zur Welt kam und den Rock’n’Roll nur noch vom Hörensagen kennt. Mehr ab alles andere ist Bill Martin bekennender „Yesologist“ und als solcher hat er beim selben Verlag auch „MUSIC OF YES: STRUCTURE AND VISION IN PROGRESSIVE ROCK“ (ca. 50 Mark) veröffentlicht, ein Geschenk für Yes-Bewunderer fraglos, für den Rest von uns eher eine Zumutung. Nicht etwa Martins geflissentlicher Theoretisierung wegen. Anti-Intellektualismus ist ja schließlich nur ein anderes Wort für Blödheit, und wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts. Andererseits verrennt sich Martin in ein nie hinterfragtes art-forart’s-sake und huldigt nicht nur zwischen den Zeilen der Maxime: Virtuosität über alles. Ein lausiges, weil letztlich seelenloses Credo. 2,0
Dem eher oberflächlich Interessierten bedingt empfohlen sei „THE BILL-BOARD GUIDE TO PROGRESSIVE ROCK“ (ca. 54 Mark) von Bradley Smith, obwohl dessen Auswahlkriterien fragwürdig sind. So sucht man Renaissance oder die Moody Blues vergeblich, stolpert aber andauernd über periphere Produkte wie Kate-Bush-Videos und obskurste Privat-Pressungen, um so ärgerlicher, als der Autor nicht etwa stringent auf die Originale rekurriert, sondern schnöde Wiederveröffentlichungen listet Das mag WOM-freundlich und Mediamarktkompatibel sein, seriös und sinnig ist es nicht Im Anhang liefert Smith „The Canon: 100 Classic Progressive Recordings“, „Five Progressive Music Styles“ (Classical Formalism, Impressionism, Surrealism, Absurdism und Postmodern) und „The Top 30 Space Music Recordings“, letztere dominiert von deutschen Künstlern, allen voran Tangerine Dream und deren Ableger. „Progressive music“, definiert der Autor aus Minnesota, „is about sound itself and all the diversity which that implies.“ Schön entlarvend. 2,5
Der Progressive Metal-Fan schließlich wird einen Freudentanz veranstalten, wenn er „DAZED AND CONFU-SED“ (Edition Olms, 40 Mark) angesichtig wird. The stories behindevery Led Zeppelin-songl „Bron-Yr-Aur“ (und) „Bron-Y-Aur-stomp“ erklärt „Carouselambra“ enträtselt, „Achilles Last Stand“ entmystifiziert! Wurde aber auch Zeit. 3,0