Istiklaliya :: Zwei virtuose Pianisten machen abenteuerlichen Elektro-Pop

Übertriebene Virtuosität kann fürchterlich nerven. Oft ist es, als würden erwachsene Männer (und es sind fast immer Männer) in aller Öffentlichkeit ihr Ding herausholen, um damit nach Herzenslust herumzuspielen. Immer schneller, immer intensiver, immer leidenschaftlicher -zumindest fühlt es sich für den Virtuosen so an. Als Rezipient gähnt man und denkt an den nächsten Tag und was da wohl im Büro wieder alles anliegt.

Das Trio Aufgang ist ganz anders virtuos, nämlich so, dass einem beim Hören die Kinnlade runterklappt. Die Pianisten Franceso Tristano und Rami Khalifé scheinen über Hunderte von Fingern zu verfügen, die präzise ihre komplexen Ziele verfolgen. Der Schlagzeuger Aymeric Westrich lässt dazu auch die Rhythmen funky klingen, die nur ein Mathematiker versteht. Alle drei arbeiten im Bereich der klassischen Musik -doch das gemeinsame Interesse gilt den interdisziplinären Grauzonen des elektronischen Pop. Die Sounds und Beats von Techno spielen eine wichtige Rolle, aber auch die Kraft des Rock und die abstrakt verspielten Läufe des Jazz. Francesco Tristano veröffentlicht bei Deutsche Grammophon Alben mit der Musik von Bach, Buxtehude oder John Cage, doch er schreibt auch Orchester-Arrangements für Carl Graig, einen der Großmeister des Detroit-Techno, und arbeitet mit Moritz von Oswald, eine Hälfte der legendären Basic Channel.

Der Grenzgängertum von Aufgang klingt ungeheuer selbstverständlich. Hier gibt es keinen platten Cultureclash. Die Strukturen von Techno werden einfach mal in eher akustische Klangwelten überführt. Wo üblicherweise Computer, Sequencer und Synthesizer herrschen, lässt das Trio präparierte Pianos erklingen und raffinierte jazzige Schlagzeug-Exkursionen. „Diego Maradona“ zum Beispiel beginnt mit dem trockenen Beat eines auf und ab hüpfenden Balls. Doch dann kommt Dynamik ins Spiel. Immer vertrackter wird die Angelegenheit, schnelle Haken folgen auf irrwitzige Drehungen und Kopfbälle -und trotzdem kann man dazu problemlos tanzen. Die frei modulierten Synthesizer, die den Track am Ende ins Weltall schießen, hören sich an wie Louis und Bebe Barrons legendärer Soundtrack zu „Forbidden Planet“. Wahrscheinlich das dynamischste Stück dieses zweiten Albums ist „The Stroke“: Vorwärts! rufen da die Pianos und stürmen voran, immer ein bisschen anders klingend, kühl und dennoch kraftvoll. „Balkanik“ spielt mit klassischen Balkan-Motiven, wild und leidenschaftlich.

„Istiklaliya“ ist ein beispielloses und atemberaubendes musikalisches Abenteuer. Das Album wäre allerdings nur halb so gut, hätte das Trio nicht dieses gigantische Wissen über die Quellen seiner Musik.(infiné/Rough Trade) JÜRGEN ZIEMER

The Virgins

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