Madness :: A Guided Tour Of Madness
Box-Set der großen englischen Band mit drei CDs und einer DVD
Damals kümmerte es uns nicht, wo die U-Bahn-Station Chalk Farm war, der Primrose Hill, die Venus Bar, das Arlington House. Das London, das diese komischen Vögel besangen, war immer schon vergangen und strahlte noch einmal im nostalgischen Glanz der Songs der späten Beatles und der Kinks. Auf unserer imaginären Karte lagen „Cardiac Arrest“ und „Grey Day“, „Land Of Hope And Glory“ und „The Return Of The Los Palmos 7“ ganz eng beisammen. Manche schäbige Imbissbude in Camden wurde in den Songs und Videos von Madness illuminiert und zur Stätte englischen Schabernacks und englischer Melancholie. Noch heute kann ich mir keine schöneren Lieder vorstellen als „Prospects“ und „Victoria Gardens“ von „Keep Moving“ (1984). Mike Barson, Graham McPherson und Carl Smyth schrieben im Verbund die glänzendsten Songs jener Zeit.
„A Guided Tour“ versammelt 70 Stücke auf drei CDs und das „Madstock“-Konzert 1992 im Finsbury Park, nach dem die Band gleich wieder für ein paar Jahre verschwand. Im Booklet gibt es ein Madness-Comic von Fanclub, einen Stadtplan, auf dem man erkennt, wie sehr sich die Schauplätze auf Camden Town konzentrieren – und Kommentare der Musiker und ihrer genialen Produzenten Clive Langer und Alan Winstanley, der besten Pop-Arrangeure damals. Wenn Langer auch glaubt, dass sie und Trevor Horn (!) die Pop-Single an ihre Grenzen trieben und „It Must Be Love“ und „Our House“ die Erfüllung waren – und nicht „The Sun And The Rain“ und „Yesterday’s Men“, wie wir wissen! Fotos dokumentieren die Stätten der Madness-Lieder – die meisten Orte, Straßen, Gebäude gibt es nach 30 Jahren noch.
Sich in einer Stadt verirren, das ist nach Walter Benjamin die eigentliche Kunst. Madness machten es wie die Beatles bei „Penny Lane“ und „Strawberry Fields Forever“, erinnerten sich an die tatsächlichen Entitäten und verdichteten sie zu etwas vollkommen Überzeitlichem. Noch auf ihrem jüngsten Album, „The Liberty Of Norton Folgate“ (2009), gelang Madness bei „That Close“ und „Sugar And Spice“ die Evokation einer Jugend in den letzten Ruinen des Zweiten Weltkriegs. Daher rührt ihr Pathos – und ihr wehmütiger Humor. (Salvo) arne willander
O Brother, Where Art Thou? ****¿
„10th Anniversary Edition“ des berühmten Soundtracks
Mit den Produktionen der Debütplatten von A. J. Croce und Gillian Welch hatte sich T Bone Burnett endgültig als Spezialist für ambitionierte Projekte und ausgesprochen schwierige Fälle erwiesen. Auch andere Kollegen schätzten längst, was er an Ideen beibringen konnte. Mit seinem Soundtrack zu „O Brother, Where Art Thou?“ – vier Grammys, zweifach von der Country Music Association ausgezeichnet und mittlerweile allein in den USA an die neun Millionen Mal verkauft – erwarb er sich dann aber doch auch jenseits der Indie-Rock-Gemeinde einen Ruf wie Donnerhall.
Die Idee, diesmal ausnahmsweise nicht Carter Burwell die musikhistorische Folie für die in der Depressions-Ära angesiedelte Handlung liefern zu lassen, war schon mal sehr gut. Genial aber war die Überlegung, den Soundtrack nicht exklusiv mit historischen Originalaufnahmen von alten Schellacks zu bestreiten, sondern neben den allenfalls Kennern geläufigen Namen auch zeitgenössische Interpreten mit exzellenten Aufnahmen berühmter Evergreens der Folk-, Bluegrass- und Country-Vergangenheit zu präsentieren. Schon lange vor den Dreharbeiten hatten sich die Coen-Brüder mit Burnett bei einem Trip nach Nashville darauf verständigt, welche Art von Aufnahmen aus welchen Gattungen infrage kommen könnten. Am Ende gingen die neuen Aufnahmen von Emmylou Harris, Ralph Stanley, den Soggy Bottom Boys und Alison Krauss genauso zu Herzen wie die alten.
Der von manchen Puristen zwischen den Zeilen erhobene Vorwurf, Burnett habe die berühmten Vorlagen aus merkantilen Erwägungen doch einem leichten musikalischen Weichspülvorgang unterzogen, geht ins Leere. Der Film der Coen-Brüder war keine Dokumentation, der Soundtrack keine historische Rekonstruktion mit demselben Ziel von absoluter Authentizität wie etwa bei dem zu Bogdanovichs „The Last Picture Show“. Während die Brüder bestrebt waren, ein wenig an das komödiantische Flair von Preston Sturges‘ berühmtem Film „Sullivan’s Travels“ anzuknüpfen, beschwor Burnett nur ausnahmsweise – etwa mit dem von Ralph Stanley a cappella gesungenen Dock-Boggs-Evergreen „O Death“ – in grimmigstem Realismus die ganze Misere der 30er-Jahre. Die meisten der 14 Session-Outtakes auf der zweiten CD der Anniversary-Edition sind auch im Film nicht verwendet worden, aber ganz exzellente Interpretationen findet man dort allemal, etwa den „Tishomingo Blues“ in einer Aufnahme von John Hartford an der Fiedel, die hinreißend altmodische Interpretation der Kossoy Sisters und Erik Darling von „I’ll Fly Away“.
Am Ende, erzählt T Bone Burnett in den Liner Notes, fanden Detektive auch den ehemaligen Kettensträfling James Carter, dessen „Po‘ Lazarus“ Alan Lomax ursprünglich aufgenommen hatte. Endlich konnte man dem alten Herrn einen fetten Scheck in die Hand drücken. (Universal)