Mama und Mascara
Die Nacht war lang, der Kaffee schmeckt ihnen „salzig“ und Placebo sind eigentlich fertig mit der Welt. Doch die drei werden diesen Interviewtag durchhalten, sie sind ja schließlich Profis. Man mag es nicht glauben – nach Jahren der Angeberei und Exzesse gibt sich das Trio jetzt freundlich und Allürenfrei. Drummer Steve Hewitt lässt sich zwar kaum zu einem Kommentar hinreißen, und auch Bassist Stefan Olsdal ist eher schweigsam. Aber Sänger Brian Molko findet schnell seine Form. „Sorry, dass ich so verschlafen bin“, sagt er und setzt das entzückendste Lächeln auf, das sein müdes Gehirn zu bieten hat. Dann fällt ihm ein Vergleich ein, der ihn gleich selbst aufheitert „Weißt du, ein Albuma ufzunehmen ist wie eine Schwangerschaft. Wir haben neun Monate durchgehalten, nun ist es endlich auf der Welt. Und jetzt haben wir viele schlaflose Nächte deshalb.“ Selbst das ziegenhafte Gekicher klingt bei Molko charmant. Die Nacht vor diesem Interview verbrachte das Trio damit, beim Terremoto-Festival zu spielen, sich mit der Crew von Limp Bizkit anzulegen und danach ein bisschen zu „entspannen“. Ein bisschen? Placebo? War das denn nicht die Band, die immer von allem sehr viel hatte: sehr viel Sex, zu viele Drogen, noch mehr Berichte darüber? Molko grinst und gibt alles zu: „Natürlich waren wir wild, und natürlich war es irgendwann zu viel. Du kannst nur eine begrenzte Zeit am Abgrund stehen, ohne runterzufallen. Ich bin immer noch dafür, dass man alles ausprobiert, was man in die Finger bekommt, aber man muss dann auch wissen, wann es genug ist“
Das dritte Album „Black Market Music“ ist ein Resultat der neuen Vernunft. Gab es bisher bei Placebo vor allem Lieder über Liebe, Sex und allem, was dazu gehört, geht es nun schon mal um Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt, Geschichte und Politik. Molko mag sich noch nicht gerade als den neuen Bob Dylan sehen, aber immerhin: „Langsam werde ich wohl ein richtiger Songwriter. Wenn man erwachsen wird, schaut man sich immer mehr um und will auch über das schreiben, was man sieht. Die Welt dreht sich nun mal nicht nur um mich.“
Ihren Glamour geben Placebo so schnell aber nicht auf. Eyeliner, sexy Shirts und eine schicke Mädchenfrisur gehören einfach zu Molko, und auf seine „geheimnisvolle Aura“ legt er Wert „In Großbritannien gibt es zurzeit so viele Bands, die das musikalische Äquivalent zu Braten mit Kartoffeln sind total unspektakulär. Mir fehlt die Farbe, das Risiko. Ich bin eben Fan von David Bowie, Michael Sripe – Typen, die nicht sofort zu durchschauen sind. Das macht doch den Appeal eines Popstars aus.“
Und Popstars, soviel ist sicher, sind Placebo. Inzwischen haben sie nicht nur ihre sozialkritische Seite entdeckt, sondern auch eine Gleichgültigkeit entwickelt, die „Black Market Music“ zu solch grandiosem Pop macht: Es ist ihnen einfach egal, ob sie cool sind oder nicht So baute Molko ein rührendes „hi mom!“ bei „Blue American“ ein. „Ich sehe mich da als Anti-Eminem. Ich finde es gemein, Mütter so zu beschimpfen. Ich mag meine. Ist das peinlich?“ Von wegen. Auch wenn Mama manchmal an seinen Sprüchen verzweifelt ist, hält Brian an seiner Theorie fest dass kleine Menschen eine größere Klappe brauchen. „Ich bereue nichts, was ich getan und gesagt habe. Ich wünschte nur, die Leute würden sich jetzt mal mehr auf unsere Musik konzentrieren und nicht darauf, was ich letzte Nacht gemacht habe.“ In diesem Falle: bis vier Uhr morgens gefeiert Molko verzieht das Gesicht: „Erinner mich nicht daran. Mit dem Alter wird der Kater immer schlimmer.“