Nicht weit vom Stamm :: von William Gibson

Systemneustart **¿

Am Anfang sollen die Ex-Rocksängerin Hollis Henry und der Ex-Junkie Milgrim ein geheimes Modelabel finden, um mit dessen Hilfe einen lukrativen Auftrag des US-Militärs an Land zu ziehen. Am Ende geht es schon gar nicht mehr um den profanen Armeehosen-Deal, sondern schlicht um alles, um das, was das Wirtschaftssystem im Innersten zusammenhält – den „Auftragsfluss“. Ihrem Chef Bigend (das dicke Ende!) gelingt, es vorherzuberechnen, was der globale Markt in 17 Minuten vorhat. Das ist wahre Macht! Dazwischen plottet sich Gibson um Kopf und Kragen. Das Buch soll ein Konterfei einer im schieren Informationsdickicht stecken bleibenden Zukunftsgesellschaft sein, die unserer auch nur noch um ca. 17 Minuten voraus ist. Und im Modus des durchgeknallten Agentenromans, in dem jeder jeden bespitzelt, bis keiner mehr Bescheid weiß, macht Gibson ihre Unsicherheit und Paranoia durchaus erfahrbar. Allerdings zu einem hohen literarischen Preis. Wie in einem schlechten „Tatort“ müssen seine Protagonisten immer wieder den jeweiligen Stand der Dinge rekapitulieren, damit der Leser halbwegs mitkommt. Vor allem aber bindet die systematische Verhedderung des Plots offenbar so viel produktive Energie, dass für eine nuancierte Profilierung seines Personals nichts mehr übrig blieb – und eben auch nichts fürs Set. Gibson war immer ein Meister der Visualisierung suggestiv-visionärer Zukunftslokalitäten, die seinen Büchern Erdung und somit auch literarische Überzeugungskraft verliehen. „Systemneustart“ hingegen ist merkwürdig ortlos. (tropen, 24,95 Euro) Frank Schäfer

Schwarze Sonne scheine *¿

von Albert Ostermaier

Hier geht’s ums große Ganze. Daher also der Versuch, einen rhythmischen, stakkatohaften Sprachfluss zu erzeugen und die Sätze möglichst fest zusammenkleben zu lassen. Das suggeriert Dringlichkeit. Essenzielle Dinge werden schließlich verhandelt: Todesangst, Katholizismus, die Erziehung der Gefühle, und zwar nicht irgendwelcher, sondern der eines aufstrebenden Dichters. Doch was die Sätze im Roman „Schwarze Sonne scheine“ des Münchner Schriftstellers und Dramaturgen Albert Ostermaier in Wahrheit zusammenhält, ist ein süß-klebriger Kitt, dessen einzige Ingredienz das Pathos ist. Nicht ein Lüftchen von Ironie weht durch Zeilen wie: „Ich bin krank, also bin ich, ich werde sterben, also schreibe ich.“ Selbst Reminiszenzen an die Popkultur wie „only the good die young“ verstärken den Eindruck, Ostermaier wolle auf Teufel komm raus in rimbaudhafter, schwärmerischer Weise über einen frühen Dichtertod schreiben. Der Teufel übrigens erscheint zugleich als der väterliche Freund und real existierender Benediktinermönch und als eine Hochstaplerin, die sich als Wunderheilerin ausgibt. Sie reden dem Jurastudenten aus großbürgerlichem, gläubigem Elternhaus ein, dass er dem Tod geweiht sei. Nur jene vermeintliche Virologin sei imstande, den Jüngling zu retten, der so gern ein Dichter (und das am liebsten bei Suhrkamp) werden möchte. Ostermaiers unverblümt autobiografischer Roman handelt von der Vergewaltigung der Seele, von kirchlichem Vertrauensmissbrauch und Fehlbarkeit. Und gewiss könnte man die eine oder andere fiebrig-funkelnde Betrachtung hervorheben. Dann geriete diese Kritik allerdings zu einer ambivalenten. Aber schreit nicht gerade das Pathos nach dem Entweder/Oder? (Suhrkamp, 22,90 Euro) Philipp Haibach

von Oliver Uschmann

Als neulich ein junger Mann in der Berliner U-Bahn aus Streitlust zuschlug, war die Hysterie allerorts groß, kam der Angreifer doch aus geordneten Verhältnissen. Wenn Journalisten später aus dem Gerichtssaal die Erosion der Täterbiografien sezieren, kommen dabeimeist arg besserwisserische Moralstücke heraus. Oliver Uschmann, Autor der „Hartmut und ich“-Romane, bringt für seine Figur Sven mehr Empathie und Papier auf. „Was ist nur aus dir geworden?“, seufzt der Vater, der sich als moralisierender Bestseller-Pädagoge schwer damit tut, dass der Sohn durch die Verleitungen einer entsicherten Peergruppe ein aggressiver, seelisch verwahrloster Schulabbrecher geworden ist. Über 500 Seiten zeichnet Uschmann Svens Coming Of Age als kleine „History of Violence“ mit Gespür für die emotionalen Abgründe der Charaktere. Das eigentliche Drama aber liegt im Zerfall einer Kernfamilie. (script 5, 14,95 Euro) Christoph Dorner

Trieb ***¿

von Jochen Rausch

Als Gerichtsreporter hat Jochen Rausch Schwerverbrecher gesehen, ihre Geschichten gehört, und er hat es manchmal mit der Angst zu tun bekommen. In fiktive Storys verpackt, erzählt er davon mit mehr Gefühl als in Polizeiberichten, jedoch nie sentimental verpanscht. Bewertet wird nicht, auch nicht gerichtet. Überall aber wird gemordet, oft haarsträubend unmenschlich, und doch gilt immer das Augenmerk den Menschen, die ihre oft meisterhaft geplanten, monströsen und doch auch nachvollziehbaren Taten durchführen. Motive sind Liebe, Gier, auch Rache. Härter, weil scheinbar realitätsnaher als Krimis mit ihren skandinavisch an- und ausziehenden Ermittlern, trotzdem sorgfältig konstruiert, dramaturgisch verblüffend. (berlin verlag, 18,90 Euro) Matthias Penzel

Meine letzten Worte *¿

von Michal Welles, Charles Manson

Charles Manson ist zurück. Warum? Außer einem Haufen Groupies hat sich zuletzt niemand mehr für den Zausel interessiert, der Amerika einst in Angst und Schrecken versetzte wie später nur noch Osama bin Laden. Die Faszination zu ergründen, die „Charly“ auf seine Jünger ausübt, tritt die israelische Journalistin Michal Welles an. 20 Jahre lang korrespondiert sie mit Manson, besucht ihn, freundet sich an, verfällt seinem Charme. Manson erklärt ihr die Welt, wie er sie sieht, gibt Einsichten in seinen Gemütszustand. Die Unterhaltungen der beiden: schwer erträgliches, sich wiederholendes Gutmenschen- bzw. eben Semi-Gutmenschengeschwafel. Interessanter die Einschätzung eines Mitgefangenen, der Charly als genialen Organisator und Manipulator schätzt. Sonst steht nichts Neues in dem Buch. Warum es „Meine letzten Worte“ heißt, bleibt unklar. Charly wird weiterlabern, etwas anderes bleibt ihm nicht. (Hannibal, 19,99 Euro) Heinrich Dubel

Black Hole ***¿

von Charles Burns

Das Grauen bricht sich im Alltag Bahn. Mitte der 70er-Jahre verbreitet sich eine bizarre Teenagerkrankheit in einem Vorort von Seattle, die viele zu Aussätzigen macht, woraufhin sie sich in die nahegelegenen Wälder zurückziehen. Dabei wollen die betroffenen Jugendlichen doch nur die Sexualität entdecken, von der großen Liebe träumen, das Elternhaus hinter sich lassen, cool sein, David Bowie hören und hin und wieder an einem Joint ziehen. Charles Burns‘ nun in einer einbändigen Gesamtausgabe vorliegender Coming-of-Age-Comic „Black Hole“, an dem er mehr als zehn Jahre gearbeitet hat, gehört inzwischen zu den Aushängeschildern des subtilen Horrors im Geiste der neunten Kunst. Der auch als Illustrator für „Time“, „The New Yorker“ oder den Rolling Stone bekannte amerikanische Zeichner und Autor erzählt darin mit stark stilisierten Schwarz-Weiß-Kontrasten vom Verlust der Unschuld in mehrfacher Hinsicht, von pubertären Begierden und Schrecken, von Ekel, Einsamkeit und mörderischer Eifersucht. Seine mit Pulp-Elementen gespickte Geschichte ist atmosphärisch dicht, beklemmend und spannend; allein die Übersetzung kommt stellenweise etwas holprig daher, während die Symbolik zuweilen überfrachtet wirkt. Die beunruhigende und verstörende Story, die durchaus über poetische Momente verfügt, als schlichte Aids-Parabel zu verstehen würde indes zu kurz greifen. Sie ist mehr als das: Testament der Jugend und der Angst, individuelles Psychogramm und vielschichtiges Porträt einer Generation. (Reprodukt, 24 Euro) alexander Müller

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