Out Of The Vinyl Deeps :: von Ellen Willis

Pro-Sex-Feminismus

Als Ellen Willis über Musik zu schreiben begann, Ende der 60er-Jahre, war Popkritik meist männlich, besserwisserisch, faktenhaberisch. „The New Yorker“ gab ihr eine Kolumne, weil die damals 26-Jährige nicht räsonnierte, sondern kleine Rhapsodien schrieb, nicht unkritisch, aber kurvenreich, entwaffnend offenherzig und eins nie: nüchtern. Willis kehrte ihr Innenleben nach außen, trug in ihrer Prosa Kämpfe mit sich selbst aus, unterschlug keinen Zweifel. Was bei aller analytischen Scharfsinnigkeit bisweilen so wirkte, als bemühe sie Dialektik nur, um etwa kontroverse Kunst ihrer Favoriten in Einklang zu bringen mit eigenen Überzeugungen.

Bob Dylans viele „masks hidden by other masks“ verhinderten Kratzer auf seinem Heiligenschein, „Under My Thumb“ von den Rolling Stones schien sich zwar nicht so ohne Weiteres mit Willis‘ entschiedenem Feminismus zu vertragen, doch sie argumentierte, es ginge darin um süße Rache und man könne durch Rollentausch den Song nicht beschädigen. Mick Jagger sei ja nicht vorzuwerfen, ein Mann zu sein, sie nehme sich freilich die Freiheit, seine Texte im Sinne ihres „pro-sex feminism“ umzupolen und beim Hören oben zu liegen, wenn es ihr beliebe. Sexistisch sei eher die rücksichtsvoll-schleimende Herablassung in der Lyrik von Cat Stevens.

So leidenschaftlich sich Willis ideologischem Lagerdenken entzog, so unbedingt war sie kreativer Bestandteil der Gegenkultur Amerikas, von deren explosiver Energie und Experimentierfreude ihre popkulturellen Observationen und Provokationen beredt Zeugnis ablegen. Ihre Liebe zu zeitgenössischer Musik im Allgemeinen, im Besonderen zu ihren Heroen, fand zu Beginn der 80er-Jahre ein jähes Ende.

The Rolling Stones entfernten sich in riesigen Stadien, Dylan flüchtete ins Irrationale. Fortan schrieb Willis theoretische Abhandlungen über Feminismus, Weltpolitik oder Wilhelm Reich, 2006 starb sie im Alter von 64 Jahren in ihrer Heimatstadt New York an Lungenkrebs. Ihre Tochter Nona Willis-Aronowitz übernahm das Edieren dieser Anthologie, bestehend aus der bereits erwähnten Kolumne „Rock, Etc.“ sowie nicht weniger anstößig-intelligenten Artikeln für die amerikanische Ausgabe des ROLLING STONE oder „Village Voice“, über einige der relevanteren Künstler, von The Who über The Velvet Underground bis Van Dyke Parks. (University Of Minnesota Press, ca. 25 Euro) aber Aliens können ihm jetzt noch helfen. Extras: Audiokommentar, entfallene Szenen, Dokumentation. (Sidgwick & Jackson, ca. 23 Euro)

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