Silver Jews – Lookout Mountain, Lookout Sea
Poetisch, philosophisch und auch musikalisch brillant Zunächst sind es Details, die einen neugierig machen: Das Gemälde des australischen Künstlers Stephen Bush auf dem Cover — groteske Plüsch-Elefanten, die eine sturmumtoste Steilküste hinaufklettern. Oder die beigelegten tabellarischen Gitarrengriffe, die mit dem Hinweis versehen sind: „Anyone can play these songs. Just put your fingertips on the polar bear noses and strum.“ Aber so einfach sind die zehn Songs dieses sechsten Silver Jews Albums nun auch wieder nicht. Alle Musiker der 1992 als Pavement-Ableger gestarteten Band, die von permanenten Umbesetzungen geprägt ist (wobei einzelne Musiker immer wieder mal für ein Album zurückkommen), stammen diesmal aus Nashville — bis auf David Berman. Kopf und Songwriter des Unternehmens. Man könnte diese Lieder Country oder auch Americana nennen, aber das würde bedeuten, diesen klanglichen Reichtum einzuschränken. Und das, was Dan Berman einst über „Bright Flight“ gesagt hat, gilt oft auch hier: Diese Lieder sind dafür gedacht, auf ewig im Regen zu stehen, als Annehmlichkeit für jene, die Wärme und Trockenheit kennen.
Gleich der erste Song stellt ein großes Thema in den Raum: „What is not but could be if/ What could appear in the morning mist/ With all associated risks!“ David Berman singt diese Zeilen mit der Stimme des späten, altersweisen Johnny Cash, und erfragt nicht, sondern stellt fest.
Das ganze Album fordert den denkenden Hörer, denn die brillanten Bilder und herrlich absurden Geschichten, mit denen uns dieser begnadete Songwriter so reichlich verwöhnt, stecken voller Rätsel und märchenhafter Gleichnisse.
„Suffering Jukebox“ erzählt die tragisch komische Geschichte einer Jukebox und wäre in einer besseren Welt ein sicherer Hit: „Suffering Jukebox in a happy town/ You’re over in the corner breaking down/ They always keep you way down low/ The people in this town don’t want to know.“ Wir lernen: Auch Dinge können eine Seele haben, und die Hölle, das sind die anderen. Die Ignoranten, die nicht hören, nicht verstehen wollen und trotzdem prägen und konditionieren. Weniger philosophisch, dafür aber ungeheuer poetisch ist „My Pillow Is The Threshold“: Das eigene Kopfkissen als Schwelle zu einer anderen Welt: „It’s a dark and snowy secret, and it has to do with heaven, and what looks like sleep is really hot pursuit.“ Wer möchte da nicht sofort die Realität hinter sich lassen, alle Fernseher, Neonlichter und Telefone ausschalten und Gedanken wie Tomahawks schleudern — mitten ins Herz einer ungeliebten Welt.
Auch musikalisch sind diese Lieder von einem glücklich machenden Zauber. Songs wie „Party Barge“ oder „Strange Victory, Strange Defeat“ sprühen vor Leben und fantastischen Hooklines, und man spürt in jedem Moment die Vertrautheit der Musiker, die vorher zwei Jahre lang zusammen getourt sind. „Lookout Mountain, Lookout Sea“ ist nicht weniger als die poetischste, philosophischste und schönste Platte, die bisher in diesem Jahr erschienen ist.