Tristan Brusch
„Am Anfang“ – Betörendes Kunstwerk
Wasser & Licht/Sony (VÖ: 24.10.)
Der Berliner Singer-Songwriter beendet seine Albumtrilogie grandios – mit hinreißenden Chansons.
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schrieb 1843 in sein Tagebuch, dass das Leben zwar vorwärts gelebt werden muss, aber nur in der Rückschau verstanden werden kann. In diesem Sinne hat Singer-Songwriter Tristan Brusch nun seine rückwärts erzählte, dunkelromantische Albumtrilogie komplettiert. Aufgenommen in einem alten Kinderheim, ausgerechnet an der dänischen Grenze, mit Produzent Olaf Opal und den exzellenten Komplizen Felix Weigt (Bass) und Timon Schempp (Schlagzeug).
Dass „Am Anfang“ mit einer Person beginnt, die am Ende zu sein scheint, entspricht der feinsinnigen Dramaturgie, wie man sie bereits von den Trilogieteilen „Am Rest“ (2021) und „Am Wahn“ (2023) kennt. „Grundsolider Schläger“ ist mit dem österreichischen Musiker Ariel Oehl entstanden, und das titelgebende Motiv der Gegenpole zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Album. Es geht in jener ersten Single um jemanden, der sich immer weiter selbst verliert, aber seine desolate Lage negiert: „Mach dir um mich bloß keine Sorgen, Tristan/ Ich bin an vielen Wochentagen nüchtern.“
Tristan Brusch pflückt Poesie im Hochseilgarten, wagt sich ungesichert und mit offenem Visier in jede Schlucht, geht nie Umwege
Die Musik kontrastiert die Verwahrlosung mit bedingungsloser Schönheit: himmelhohe Melodien und nostalgisch-elegante Streicher, arrangiert von Friedrich Paravicini (Tocotronic, Annett Louisan). Die welke Würde blüht in der Musik wieder auf, während sie im echten Leben nur noch kleingeschrieben existiert: im Konjunktiv II. Das Stück kulminiert in einer Beinahe-Transformation zum rauschhaften „Wicked Game“ von Chris Isaak, in dem es ebenso um verheerende Verlockungen und Kontrollverlust geht.
Das tägliche Duell zwischen (verpasster) Selbstwirksamkeit und Ohnmacht wird auch im aznavouresken „Haifisch“ verhandelt, mit der unheilvoll gezupften Lagerfeuergitarre am Entree des internen Infernos: „Jede Seele ist ein Taucher/ Ein Haifisch die Gedanken.“ Die Coming-of-Age-Hymne „Vierzehn“ transportiert den jugendlichen (Über-)Mut in pulsierendem New-Wave-Sound, liefert ein Polaroid der Endstation Erwachsenenleben aber direkt mit: „So leicht fängt man tausend Träume ein/ Die werden später erst zu Blei.“
Fragmente, Zeilen und Bilder aus den beiden anderen Trilogieteilen erscheinen, etwa die am Ufer stehende Zeit aus „Baggersee“ oder die zermürbende emotionale Dysbalance zwischen zwei Liebenden. Die hinreißend orchestrierte Klavierballade „Geboren um zu sterben“ ist das Herzstück einer Platte, die oft näher am Chanson als am Pop verweilt. „Es gibt auf dieser Erde/ Genau zwei Dinge zu lernen:/ Lieben und geliebt zu werden“, heißt es darin. Und zwei Lieder später im nonchalanten Knef-Modus: „Für die Liebe in Maßen habe ich kein Talent.“ Tristan Brusch pflückt Poesie im Hochseilgarten, wagt sich ungesichert und mit offenem Visier in jede Schlucht, geht nie Umwege. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit machen seine Lieder so betörend, so exzessiv und speziell. Und diese Albumtrilogie zu einem erhabenen Gesamtkunstwerk.
Diese Review erschien zuerst im Rolling Stone Magazin 11/2025.