TV-Tipp: Victoria :: Regie: Sebastian Schipper

Ein furioses Kino-Experiment dokumentiert eine abenteuerliche Reise von der Nacht in den Tag. Unser TV-Tipp: „Victoria" auf Arte.

Zu einem Technobeat von DJ Koze flackert die Leinwand im Stroboskopgewitter, dass einem die Augen müde werden. Und ein Zustand der Erschöpfung ist auch angemessen, denn dieser Film nimmt uns mit in die tiefste Nacht, kurz vor dem Morgengrauen. Langsam zeichnen sich Körper ab, eine Haarsträhne, eine Wange, das Gesicht eines Mädchens. Es heißt Victoria, wie wir später erfahren werden, kommt aus Madrid, ist seit drei Monaten in Berlin und muss in wenigen Stunden ein Café aufschließen, in dem sie für vier Euro die Stunde jobbt. Aber momentan ist sie einfach eine, die man im Club vor sich tanzen sieht, die glückselig zur Bar taumelt, erfolglos versucht, mit dem Hipster hinterm Tresen anzubändeln, einen Wodka auf ex trinkt, ihre Sachen von der Garderobe holt, um zu gehen.

Am Eingang gibt es einen kleinen Tumult, ein paar Proleten kommen nicht rein. Einer hat Blickkontakt zu Victoria aufgenommen. Als sie den Club verlässt, verwickelt er sie mit ein paar Brocken Schulenglisch in ein Gespräch. Er nennt sich Sonne, seine Kumpel heißen Boxer, Blinker und Fuß. Alles Berliner Jungs, keiner zugezogen. Fuß hat Geburtstag und ist naturgemäß am betrunkensten. Victoria lässt sich überreden, ihnen ins „real Berlin“ zu folgen. Zusammen streifen sie durch die Straßen, klauen in einem Spätkauf Wegzehrung, steigen auf ein Hochhausdach. Als Sonne Victoria schließlich zu ihrem Café begleitet, umkreisen die beiden einander unschuldig, ungelenk, zögerlich wie Ethan Hawke und Julie Delpy in „Before Sunrise“. Victoria spielt den Mephisto-Walzer von Franz Liszt, gesteht unter Tränen, dass sie mal Konservatoriumsschülerin war und am Ende nicht gut genug. Sie habe keine Freunde gehabt, nur Konkurrenten. Bis jetzt.

Moderne Variante eines Klassikers

Die Szene wird jäh unterbrochen, als Boxer an die Scheibe klopft. Er hat eine Weile im Knast gesessen und ist einem Typen, der ihn dort beschützt hat, einen Gefallen schuldig, soll mit seinen drei Freunden bei ihm antreten. Fuß ist allerdings nicht mehr zu gebrauchen, kotzt sich die Seele aus dem Leib. Victoria soll für ihn als „vierter Mann“ einspringen. Sie zögert nicht lang, kutschiert die Jungs in einem gestohlenen Wagen in eine Tiefgarage.

Bewaffnete Männer tauchen auf und ein schmieriger Gangster. Wie im Film. Das nächtliche Abenteuer entwickelt sich in der Dämmerung zum Albtraum: Die vier sollen eine Privatbank überfallen.

Regisseur Sebastian Schipper, der in seinem Debüt, „Absolute Giganten“ von 1998, schon einmal eine Clique durch die Nacht begleitete, hat „Victoria“ in einem Take gedreht, ohne Schnitt. Aber nicht wie Hitchcock einst „Cocktail für eine Leiche“ als Kammerspiel, sondern in der rechten Herzkammer von Berlin, in Kreuzberg und Mitte, zwischen halb fünf und sieben in der Früh. Dieser Kunstgriff lässt „Victoria“ stellenweise dokumentarisch erscheinen. Die unstete Kamera von Sturla Brandth Grøvlen beglaubigt die Authentizität, erinnert jedoch zugleich daran, dass man einer Inszenierung für einen Beobachter beiwohnt.

Während sie immer dranbleibt, schweift die Tonspur ab, blendet vom Originalton auf Nils Frahms Score-Musik, und „Victoria“ wird zum Stummfilm – zu einer modernen Variante des Klassikers „Menschen am Sonntag“ vielleicht, der 1930 ja ebenfalls die Freizeit junger Leute in der Hauptstadt zeigte. Und auch wenn dieser an einem sonnigen Wochenende auf belebten Straßen und am Badesee spielt, „Victoria“ hingegen in einem verwaisten Moloch aus Mietskasernen, sind es doch in beiden Fällen die Figuren, die der anonymen
Metropole ihr Gesicht geben.

In „Victoria“ ist man ganz nah dran. Die Handkamerabilder, die spontan erscheinenden, zwischen Englisch, berlinerisch eingefärbtem Deutsch und Slang hin und her holpernden Dialoge und das fantastische Spiel der Hauptdarsteller – vor allem Laia Costa in der Rolle der Victoria und Frederick Lau als Sonne – lassen dabei eine ungeheure, geradezu fordernde Unmittelbarkeit entstehen. Man wird zum Komplizen dieser Außenseiter und Verlorenen, die sich in einer fremden Sprache an verwaisten Orten gefunden haben, während die Stadt wie ein schlafendes gefährliches Tier vor ihnen liegt.

Wenn der Morgen graut, verlieren sie sich wieder, so wie sich auch „Victoria“ verliert, von der charmanten Reise ans Ende der Nacht zum klassischen Bankräuberfilm inklusive Verfolgungsjagd, Schießerei und tragischer Liebesgeschichte wird. Die Kamera gibt ihre passive Beobachterperspektive auf und inszeniert einen Thriller – nach allen Regeln der Kunst (nur ohne Schnitte). Es scheint, als habe die filmische Konvention das Experiment irgendwann eingeholt. „Victoria“ beginnt also im Club und endet im Kino – wenn man den Saal verlässt, geht man mit anderen Augen durch die Nacht.

TV-Tipp

03.05 – Victoria – ARTE: 20:15 Uhr

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