U2 :: All That You Can t Leave Behind
Irony is over. Viele Menschen haben in den vergangenen Monaten diesen Satz gesagt, aber keiner hat so rigoros die Konsequenzen gezogen wie jetzt U2. Es dauert einige Lieder lang, bis man „All That You Can’t Leave Behind“ geschluckt hat, weil es überhaupt keine Weiterführung von „Pop“ ist, sondern tatsächlich das, was Bono versprochen hat: ein altmodisches Rock ’n’Roll-Album. Mit mehr Pop als „Pop“ zwar, aber mit noch mehr Pathos, Seele – manche werden auch sagen: Kitsch. Dabei haben U2 nur das gewagt, was vielen ihrer gleichaltrigen Kollegen gut zu Gesicht stünde. Sie pfeifen auf die Moderne, verzichten weitgehend auf elektronische Spielereien und konzentrierten sich statt dessen darauf, Songs zu schreiben. U2-Songs. Songs über das Leben, die Liebe, den Glauben, die Hoffnung. Völlig uncool natürlich, aber endlich wieder echt. Als nächstes wird Bono die Sonnenbrille für immer abnehmen, die Arme ausbreiten, und alles wird gut.
„Tm not afraid of anything in this world/ There’s nothing you can throw at me that I haven’t already heard“, singt er zu Beginn von „Stuck In A Moment“. Und zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit (ungefähr seit „The Unforgettable Fire“) klingt ein U2-A1bum nicht wie ein Kraftakt, der mehr dem Kopf als dem Bauch entsprungen ist. Dass etliche Songs in ungefähr 200 Takes aufgenommen wurde – man hört es nicht. „I’m just trying to find a decent melody/ A song that I can sing in my own Company“- mit dieser Prämisse gelingt den Iren, was ihnen die Freunde von R.E.M. seit Jahren vormachen: Sie scheren sich nicht mehr um die Konkurrenz, die es ja schon lange nicht mehr gibt. Von den großen Bands der 80er Jahre sind nicht viele übrig geblieben, und wie Bono kürzlich, auf Backstreet Boys und Konsorten angesprochen, so stolz formulierte: „Das sind Jungs, und wir sind Männer.“
Sensible Männer freilich. Auf Rockstar-Soli hat Gitarrist The Edge immer noch keine Lust, und das ist ausgesprochen angenehm. Da sticht die Vorab-Single „Beautiful Day“ mit fast monströser Instrumentierung schon heraus und täuscht den Hörer. Den Rest des Albums haben Daniel Lanois und Brian Eno mit äußerster Zurückhaltung produziert. Immer stellen sie Melodie und Stimme in den Vordergrund, nie den Sound. Eine Erleichterung, denkt man an misslungene Mischpult-Versuche wie „Zooporopa“ zurück.
„Peace On Earth“ ist – trotz des etwas ungeschickt gewählten weihnachtlichen Titels – wohl exemplarisch für das Anliegen der Band. Seit „Achtung Baby“ ging es vor allem darum, das unvermeidliche Popstar-Dasein durch Ironie zu brechen, was natürlich nicht funktioniert, wenn man sich von vornherein gar nicht zum Popstar eignet. Mit Grauen erinnert man sich an Bonos Poser-Show während der letzten Touren, die besonders albern wirkte, wenn dazu ernsthafte Songs gespielt wurden. Auf ein bisschen Message wollten U2 nie verzichten. Statt dessen verzichten sie jetzt auf die Show. Back to basics, allerdings mit den Erfahrungen der 90er Jahre: „They say what you mock/ Will surely overtake you/ And you become the monster/ So the monster will not break you.“ U2 wollen kein Monster werden. Sie wollen amnesty unterstützen, den Schuldenerlass für die Dritte Welt durchsetzen und Stück für Stück die Welt retten. Wenn nebenbei noch die Rockmusik gerettet werden kann, okay. Priorität hat das nicht mehr. Nach Jahren des verzweifelten Kampfes sind die vier anscheinend bereit, einen Platz in der zweiten Reihe einzunehmen. Sie müssen nicht länger State of the art sein, dafür gibt es ja jetzt Radiohead.
Im Grunde ist „All That You Can’t Leave Behind“ der missing link zwischen den beiden besten U2-Alben, „The Joshua Tree“ und „Achtung Baby“:
elegisch und ernst, aber nicht mehr naiv und missionarisch. Jedes Mal, wenn man denkt, da sind sie wieder, „die alten U2“, wird man doch positiv überrascht von den ganz neuen U2, die sich wohl fühlen in ihrer Unentschlossenheit. Das Gospel-Stück („Stuck In A Moment“) ist nicht nur Gebet, sondern auch abgeklärte Bestandsaufnahme. Mitten im Fast-HipHop-Groove von „Elevation“ hebt Bono seine Stimme und bittet um Vergebung: „I can’t sing but I’ve got soul“, selbstverständlich Understatement. Aufbruch ist das große Thema, irgendwohin, dem Stillstand entkommen. Manchmal hört sich das wunderbar leicht an („Wild Honey“), manchmal sehr anstrengend. Auf der Suche nach einer besseren Welt trägt man nicht nur eine Menge Gepäck mit sich herum (siehe Albumtitel!), sondern – und da erweist sich das hymnische „Walk On“ doch al srecht traurig – muss auch noch feststellen, dass die Heimat einem das Herz bricht: „Home is where the hurt is.“ U2 laufen trotzdem weiter und finden nirgends Ruhe, schon gar nicht in „New York“: „In New York I lost it all to you and your vices/ Still I’m staying on to figure out my mid life crisis.“ Was Unsinn ist. Die Krise ist schon Jahre her, jetzt kommt das Alterswerk, und wir freuen uns darauf.
Das Album endet mit dem Satz „Grace makes beauty out of ugly things“. Geben U2 der Rockmusik die Schönheit zurück? Zumindest machen sie einem- nach Woodstock II, nach Kid Rock und Marilyn Manson – wieder Mut. Eventuell geht die Welt so bald noch nicht unter.