Rewind Today 1996: The Prodigy machen ‚Firestarter‘ zum Hit

The Prodigy gelingen mit "Firestarter" ein Nummer-1-Hit in Großbritannien. Das heute antiquiert klingende Lied markiert den Höhepunkt der Big Beat- und Drum-and-Bass-Bewegung.

Für die Ausgabe 3/1997 widmete sich Rolling Stone dem „neuen Zwitter aus Rock, Techno und Elektro“, vertreten durch Bands wie The Prodigy und Chemical Brothers. Anlass war die Veröffentlichung des Prodigy-Albums „The Fat Of The Land“, das 1997 Verkaufsrekorde brach, und das fast ein ganzes  Jahr zuvor durch die Single „Firestarter“ angekündigt wurde. Der agressiv-repetitive Track, ein Nummer-Eins-Hit in England, zeigte im Musikvideo einen entfesselten Keith Flint. Das machte britischen Eltern derart Angst machte, dass sie in Großbritannien ein Fernsehverbot für den Clip durchsetzen wollten.

Aus der Ausgabe 3/1997:

Die neuen Zwitter aus Rock, Techno und Elektro: Prodigy, Chemical Brothers

Gehört die Zukunft dem Zwitter aus Rock, Techno und Elektro? Mit Prodigy, den Chemical Brothers, Daft Punk, Atari Teenage Riot, Underworld und anderen Neutönern bereitet sich eine Stil-lose Generation auf die Zukunft der „nächsten“ Rockmusik vor.

Die amerikanische Musikbranche ist in heller Aufregung. Schließlich liegt Grunge, der letzte große Trend, schon fünf lange Jahre zurück, und das Britpop-Säuseln verhallte dort – von Oasis und Elastica abgesehen – ungehört.

Nun aber glauben die sensibilisierten Ohren der A&R-Propheten wieder das Gras wachsen zu hören. Einer neuen Generation von Elektronik-Bands, die keine Berührungsängste vor dem Rock haben, traut man auch kommerziell den großen Wurf zu. Madonnas Label Maverick nahm gerade The Prodigy für eine Millionen-Garantie unter Vertrag, und auch vor kurzem noch klanglose Namen wie Chemical Brothers, Underworld und Orbital werden in den Chefetagen inzwischen nur noch ehrfurchtsvoll geflüstert.

Zugegeben – die betagteren Musikverwalter, die sich mit einem Eddie Vedder gerade noch identifizieren konnten, haben mit den neuen Propheten Probleme. Jch weiß genau“, so Aristas kalifornischer A&R-Mann Lonn Fried, „wie die Industrie das Thema angehen wird: Wie die Lemminge werden sie losrennen, zweitklassige Bands unter Vertrag nehmen und nachher auf einem Haufen Platten sitzen, die niemand hören will. Genauso war’s bei Green Day, als plötzlich Tausende Punk-Bands gesignt wurden; genauso war es bei Guns N’Roses, die einen Rattenschwanz tätowierter Langhaariger nach sich zogen; genauso war’s bei all den Indusrrials-Bands, die im Gefolge von Nine Inch Nails angeschwemmt wurden; genauso war es bei Alanis Morissette und all ihren Miniaturausgaben. Weil die wenigsten Musikmanager kompetent sind, laufen sie einem Trend hinterher.“

Und der ist bereits mächtig ans Laufen gekommen. MTV, das jahrelang Alternative Rock auf seine Fahnen geschrieben hatte, schlug plötzlich einen radikalen Haken und setzt nun auf die Elektro-Techno-Jungle-Punks. David Bowie, U2 und Depeche Mode haben mit ihren jüngsten Alben eine allseits vernehmbare Verneigung vor dem Phänomen gemacht – und Richard James alias Aphex Twin, selbst eine Institution der britischen Elektro-Szene, wagt gar die Prophezeiung, daß „Prodigy das Potential haben, die größte Band der Welt zu werden“.

Und wie schon so oft, kommt das neue Ding aus England. Von einer neuen „britischen Invasion“ wird sogar schon gesprochen – was Tom Rowlands von den Chemical Brothers gar nicht hören mag: „Zu behaupten, daß die Briten den Amerikanern jetzt beibringen, was dance music sei, ist lächerlich. Alle unsere Platten haben wir in Amerika gekauft, und die meisten Samples stammen auch von hier.“

Die Stunde der Chemical Brothers schlug Ende der 80er in Manchester, als House aus Detroit und Chicago auch in den Clubs Nordenglands Einzug hielt. Ihr zweites Album „Dig Your Onti Hole“, gefüllt mit wuchtigen Bässen und präzise modulierten HipHop-Beats, legt die Latte für elektronischen Rock ein ganzes Stück höher.

Prodigy, die im Sommer ihr neues Album veröffentlichen, stehen also unter Zugzwang. Im Gegensatz zu den in Sportswear herumschlurfenden Chemical Brothers verfügen sie mit Keith Flint über ein theatralisches Talent, über einen Rockisten reinsten Wassers, der – mit zu Hörnern gekämmtem Rotschopf und weit aufgerissenen Augen – besonders eindrucksvoll Luzifer mimt.

Auch Prodigy wurden einst vom Wummern des Acid House infiziert, allerdings stand bei ihnen Rock stets plakativ im Vordergrund. Howlett liebt die Smashing Pumpkins und hält Nirvanas „Nevermind“ für die BibeL Prodigy würden sich prächtig in der Juke-Box einer Bikerkneipe machen: Sie sind rüpelig und laut und walzen alles nieder.

Das tun auch Underworld, wenn auch auf andere Weise. Ihre ausladenden Tracks werden von elektronischen Rhythmus-Schlaufen getragen, in die sich kaleideskopartige Rock-Riffs schieben. „Born Slippy“, ihre durch den Soundtrack zur NarkotikaKomödie „Trainspotting“ bekanntgewordene Single, sprach sogar bisherige Elektro-Vferächter an. Daft Punk aus Frankreich, die House mit der ledernen Härte des Rock produzieren, sprechen in den liner notes ihres Albums den Seeds oder 13th Floor Elevators Respekt aus und betiteln ihren besten Track schlicht „Rock’n’Roll“. Erstaunlich auch, daß die englischen Raver von Orbital ihre neue Triple-Maxi „Satan Live“ mit jenem diabolischen Monolog beginnen, den einst die amerikanischen Gaga-Rocker Butthole Surfers ihrem „Sweet Loaf vorweggestellten. Vbn den Gitarren-Riffs, die zur Zeit allerorten über elektronische Beats bratzen, muß also nicht mal geredet werden, wenn ein Zusammenhang zwischen Techno und Rock hergestellt werden soll.

Auch in Deutschland interessiert man sich verstärkt für elektronische Musik. Sogar für intelligente. Für das Körner House-Ensemble Whirlpool Productions blieb der kommerzielle Knall zwar aus, ihr exzellentes J)ense Music“ aber konnte sich 1996 immerhin in die Top 100 schleichen. Wohl auch deshalb, weil diese Mischung aus Sprungfeder-Rhythmen und Pop-Klassizismus nicht als angestrengter Spagat funktioniert.

Alec Empire von den Berliner Elektronik-Punks Atari Teenage Riot sorgte sogar im Ausland für Aufmerksamkeit: In den USA veröffentlichte er gerade eine Reihe mit den guten alten 7-inches auf Grand Royal, dem Label der Beastie Boys.

Gute Zeiten also für neue elektronische Musik. Aber schlechte für puren Techno. Stefan Strüver, A&R-Manager beim Elektro-Laden K7: „Techno-Verkaufszahlen sind rückläufig, zumindest in Deutschland. Leute, die früher nur Techno gekauft haben, interessieren sich heute für alles mögliche – Drum’n’Bass, Trip-Hop usw. Deshalb versuchen wir, einen Crossover hinzukriegen.“

Die Charts sind dabei nicht relevant Vom letzten DJ-Album der Austria-Stars Kruder 8C Dorfmeister etwa, die irgendwo zwischen Jungle und abstraktem HipHop arbeiten, hat K7 inzwischen so viele Einheiten abgesetzt, daß sie locker in die Charts hätten einsteigen können wären sie binnen weniger Wochen abgesetzt worden und nicht über sechs Monate. „Aber so ist mir das lieber“, gesteht Strüver, der wenig in herkömmliche Werbung investiert. Die Verkaufszahlen sind hoch, aber die Aura des Exklusiven wird gerettet – wichtig in einem Marktsegment, das sich vor allem über den Innovationswert seiner Waren regelt. Auch Thomas Peckruhn, Produktmanager der Tanz-Sektion bei Rough Trade, ist nicht erpicht darauf, die von ihm betreuten Künstler in Top-Ränge zu hieven. Eine interessante Erfahrung bescherte ihm Jimi Tenor, dessen Platten häufig unter „Techno“ einsortiert werden, obwohl der Finne eher ein herkömmlicher Alleinunterhalter mit Orgel und Rhythmusmaschine ist. ,Jimis letzte Single ,Take Me Baby‘ pirschte sich immer mal wieder auf die unteren Positionen vor“, so Peckruhn. Und das sei viel besser, als wenn sie hoch in die Charts gehe, um dann gleich wieder wegzusacken. Auch das ist neu: Klassikerwerdung in einem Genre, in dem sonst nur die Novität zählt.

Längst Klassiker sind Atari Teenage Riot Alec Empire ist einer der schillerndsten Köpfe des Elektronik-Untergrunds. Für das Label Mille Plateaux hat er etliche Solo-Alben eingespielt, die das Niemandsland zwischen Industrial Ambient und schroflem Breakbeat erkunden. Das freundliche Großmaul aus Berlin produziert Tracks für die Jungle-Chanteuse Nicolette und wird von den Beastie Boys hofiert. Auch das neue Album von Atari Teenage Riot hat Grand Royal für die USA lizensiert „The Future Of War“ lautet der Titel – und Gabba-Beats und Hardcore-Riffs finden sich hier einträchtig mit Ambient-Elektronik vereint Nie war Techno dem Punk näher.

Seltsame Dinge passieren in einer Musik, die wir früher einmal, vielleicht voreilig, als Techno belächelt und abgetan haben.

„DAS ARCHIV – Rewind“ umfasst über 40 Jahre Musikgeschichte – denn es beinhaltet die Archive von Musikexpress, Rolling Stone und Metal Hammer. Damit ist von Popmusik über Indierock bis zu Heavy Metal nahezu jede Musikrichtung abgedeckt – angereichert mit Interviews, Rezensionen und Reportagen zu Filmen, Büchern und popkulturellen Phänomenen.

>>> Hier geht es zu DAS ARCHIV – Rewind.

Eine Leseprobe:

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates