Rockmusik 2017: Das Jahr der Depressionen

Weder Ruhm noch Rock’n’Roll schützen vor der Volkskrankheit unserer Zeit

Als sich der Torwart Robert Enke vor acht Jahren vor einen Zug warf, wollten wir alle mehr Verständnis haben für Menschen mit einer Depression, sie als Krankheit anerkennen und sie nicht als höhere Form von Selbstmitleid abtun. Hat nicht richtig geklappt, wie sich zeigte, als sich am 18. Mai Chris Cornell erhängte. Sofort wieder die üblichen Fragen, die wie Vorwürfe klangen: Warum macht der so was, er war doch ein berühmter Sänger, er hatte doch eine Frau und Kinder? Was kann denn so schlimm gewesen sein? Als stünde es reichen Familienvätern nicht zu, sich umzubringen.

Nun beruhigt genügend Geld natürlich ein bisschen die Nerven, und eine Familie kann vor Einsamkeit schützen (oft genug allerdings auch das Gegenteil bewirken), aber ein Mittel gegen die Todessehnsucht ist keines von beiden.

Dann ist Musik kein Rettungsanker mehr

Der Depression ist es außerdem egal, ob einer prominent ist oder nicht – sie ist keine Entscheidung, sondern eine psychische Störung. Und sie breitet sich gerade immer weiter aus: Vor einigen Monaten teilte die Weltgesundheitsorganisation mit, dass heute 18 Prozent mehr Menschen an Depressionen leiden als vor zehn Jahren – etwa 322 Millionen weltweit. Einer, der immer wieder ziemlich offen darüber geredet hatte, war Linkin-Park-Sänger Chester Bennington.

Am 20. Juli, dem Tag, an dem Cornell 53 geworden wäre, folgte er seinem Freund in den Tod, auf die gleiche Art. Selbstmorde entwickeln häufig eine Art Sog – als würde den Menschen durch den Suizid eines Nahestehenden erst bewusst, dass das ja tatsächlich eine Möglichkeit ist, den Schmerz zu beenden. Manchmal, so bitter das ist, helfen eben weder Therapie noch Medikamente, zumindest nicht schnell genug. Und auch die Musik ist dann kein Rettungsanker mehr. Uns bleibt als Trost, dass ein Mensch ja nicht verschwindet, solange wir uns an ihn erinnern, und dass Lieder wie „Fell On Black Days“ ewig bleiben: vertonte Verzweiflung und doch durchdrungen von Überlebenswillen.

Chester Bennington von Linkin Park will dem Publikum auf dem Hurricane und dem Southside einheizen
Chester Charles Bennington (* 20. März 1976 in Phoenix, Arizona, † 20. Juli 2017 in Palos Verdes Estates)

Vielleicht liegt es daran, dass die Rockmusik jetzt auch schon im Rentenalter ist, aber es scheint, als würden sich neuerdings immer mehr Alben um den (drohenden) Tod drehen. Vergänglichkeit war natürlich schon immer ein Thema, aber 2017 kam doch einiges zusammen (und 2018 wird sich das nicht ändern, wie das neue Tocotronic-Album, „Die Unendlichkeit“, beweist).

Zum Beispiel U2: Die Freude an der Musik ist so deutlich zu spüren auf „Songs Of Experience“, weil sie aus dem Gefühl entstanden ist, dass jeden Moment alles vorbei sein kann. „Ich trotze dem Tod, um ihn seiner Kraft zu berauben, über mich und über alle anderen“, behauptet Bono in den Linernotes. Er ist gerade noch mal davongekommen – genau wie Conor Oberst, dessen „Salutations“ schon fast wie Grüße aus dem Zwischenreich klingen. Wird Zeit, dass mal wieder jemand „Death Is Not The End“ covert. Einstweilen die fünf besten Lieder über den Tod 2017:

1. Randy Newman: „Lost Without You“

2. Conor Oberst: „You All Loved Him Once“

3. U2: „Lights Of Home“

4. Die Toten Hosen: „Eine Handvoll Erde“

5. Mark Kozelek: „The Robin Williams Tunnel“

Chiaki Nozu WireImage
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