Rockpalast: Der Dauerbrenner

Vom "„Wünschen und Wollen" zum "„Können und Wissen": Mit dem WDR-Rockpalast hielt der live gespielte Rock'n'Roll Einzug in bundesdeutsche Wohnzimmer. Die Gemeinsinn stiftende Wirkung mag 30 Jahre und ganze Technologie-Revolutionen später ein wenig verflogen sein, doch das Prinzip "„Live-Konzert im TV" funktioniert noch immer. Hoffentlich noch lange.

Anfang war der Palast nur ein einfacher Raum; grauer Linoleum-Boden, schwarz gestrichene Wände und „gar nicht mal so besonders groß“, erinnert sich Christian Wagner an den bescheidenen Beginn einer deutschen TV-Legende. Im Jahr 1974 trafen Schmidt, damals junger Regisseur und Kameramann, und die WDR-Musikredaktion im Studio Hamburg auf das Electric Light Orchestra, um das Live-Set der Band für die Sendung „Rockpalast“ aufzuzeichnen – „„wir hatten das ja nicht in der Ausbildung gelernt“, meint Christian Wagner, „es war Wünschen und Wollen, statt Wissen und Können“. Der Raum war „„in zwei Hälften getrennt“, wie zwei Fußballmannschaften standen sich Rockband und TV-Crew gegenüber, auf der einen Seite die Musiker mit Keyboards, Verstärkern und E-Gitarren, auf der anderen Seite die Fernsehleute mit Kameras, Scheinwerfern und Tonbandgeräten. Im Laufe des Tages und „„in unzähligen Takes“ versuchten sie herauszufinden, wie man die Kabel und Tonabnehmer des ELO mit den audiovisuellen Aufnahmeapparaten des WDR – und damit die sich fremden Medien Fernsehen und Live-Musik – miteinander verbinden könnte. Wie man Kontakt herstellt.

Im Jahr 2008 stellt Wagner zufrieden fest, „dass „wir damals etwas geschaffen haben, das Bestand hatte“, nämlich „die unnachahmliche Atmosphäre eines Konzerts mit der Kamera einzufangen und zu übertragen“. Der Rockpalast sendet seit mehr als 30 Jahren – mit Unterbrechungen wegen ignoranter Programmplaner und der einen oder anderen Medienrevolution und präsentierte in dieser Zeit Künstler wie The Who, The Grateful Dead oder David Bowie. Aus dem einzelnen Studioraum wurde im Laufe der Zeit wirklich ein Palast, eine enorme, komplexe Struktur, in der viele Formate und Bewohner Platz finden. Ohne die Sendung ist Musikfernsehen in Deutschland kaum denkbar spätere Live-Sendungen wie das New Pop Festival (SWR) wurden von ihm ebenso beeinflusst wie VIVA oder Tracks.

Der Rockpalast ist ein Mythos, der aus irgendwelchen Gründen noch am Leben und Werden ist. Regisseur Christian Wagner und Redakteur Peter Rüchel (seit 2003 in Rente) weigern sich wie ihre Rock-Helden alt zu werden – und haben wohl einen geheimen Schwur abgelegt, nicht vor Mick Jagger die Bühne zu verlassen. Im Jahr 2003 gab es dann doch einen Generationswechsel: Peter Sommer übernahm die redaktionelle Leitung. Er hatte die erste Rockpalast-Nacht im Jahr 1977 mit Rory Gallagher und Little Feat als Teenager vor dem Fernseher verfolgt. „„Ich organisierte im Hobbykeller Partys um diese Konzert-Ereignisse herum“, erzählt Sommer. „„Wir tranken, tanzten und diskutierten über die Bands, die uns vorgestellt wurden. Jeder hatte das Gefühl, Teil einer großen Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu sein“. Der Theater-Star Frank Castorf, Intendant der Volksbühne Berlin, erinnert sich, dass der Rockpalast aus der Grugahalle in Essen „bis nach Ostdeutschland ausgestrahlt hat. „Das war ein Stück Highway, Offenheit“. Der Verbindungskanal für die Provinzjugend in die In-Clubs von London und New York, Radio Free Europe für den Popbetrieb. Die Verdienste der Vergangenheit sind eine Herausforderung für die Gegenwart. Die Frage lautet: Wie gewinnt man neue Zuschauer ohne die alten Fans zu vergraulen, meint Sommer, wie verleiht man dem TV-Dinosaurier neue Energie, und bleibt sich gleichzeitig treu? Wie filmt man im Jahr 2008 ein Konzert, wenn sich viele Zuschauer dank der portablen Digitalkamera daran gewöhnt haben, sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen. Schwenkt die Kamera heute ins Publikum, dann filmt sie automatisch ein paar Dutzend andere Kameras, die die Konzertbesucher wie Periskope in die Höhe strecken. Die grell leuchtenden LED-Displays der Handys erscheinen auf dem TV-Bildschirm als neuartiger Effekt.

Christian Wagner baut noch immer mit routinierten Handgriffen seine Kameras und Mikrophone vor den Bands auf – bei einzelnen Konzerten genau so wie bei Festivals wie Rock am Ring, Eurosonic, Melt oder Haldern. Die Rockpalast-Crew arbeitet mit acht bis zwölf Kameras. „Am wichtigsten sind die beiden „Führungskameras“, die im Konzertgraben platziert werden, um die Perspektive des Publikums einzunehmen, oder besser, zu optimieren: „„Wir stehen nicht in der ersten Reihe“, sagt Wagner, „wir stehen in der allerersten Reihe“, und zitiert dabei ungewollt einen TV-Werbeslogan: „Mittendrin statt nur dabei“. Dazu hat der Regisseur noch Handkameras, eine Kran-Kamera und manchmal auch einen Dolly (auf Schienen) oder eine Steadyeam zur Verfügung. Der Schaltplan und die Kameraführung haben sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Wagner kam in den Siebzigern frisch von der Filmhochschule, und „wollte „das Fernsehen neu erfinden“. Während heute der Businessplan die Grundlage allen Handelns ist, berief man sich damals auf die Theorie: mit den Mitteln der Filmsprache – der Abfolge von Closeup, Totale und dynamischen Kamerabewegungen – sollte der Blick des Konzertbesuchers simuliert werden: Schließlich konzentriert man sich bei einem Konzert nicht kontinuierlich auf die Gesamt-Performance der Band (Totale), sondern achtet auf ein filigranes Gitarrensolo (Closeup auf die Finger des Musikers) oder vergisst die Band und hüpft in der Menge herum (Schwenk über das Publikum). Manchmal, gibt Wagner gerne zu, brauchte man aber ein vier- oder fünfdimensionales Medium, um die Magie eines Live-Konzerts zu übertragen.

Musik mit Fernsehen gab es in den Siebzigern nur vom Fernsehorchester der Rundfunkanstalten. Der Bildraum des TV-Apparats war in der Bonner Republik ein Ort für Erwachsene, an dem Herren mit Krawatten und riesigen Brillen über die deutsche Frage diskutierten, oder andere Herren mit Krawatten und riesigen Brillen ein paar Witze machten, wie sie auch der peinliche Onkel auf dem Familienfest erzählte – im Fernsehen Rockmusik machen zu wollen, war in etwa so revolutionär, als würde man sich im Heimatort am Sonntagabend an den Honoratioren-Tisch setzen, ein Bier kippen und ganz laut „Like A Rolling Stone“ singen.

Die Rockpalast-Macher waren Hardcore-Fans (Peter Rüchel etwa versuchte über Jahre und am Ende mit einer gewissen obsessiven Note, Bruce Springsteen für die Show zu gewinnen – ohne Erfolg) oder, wie Christian Wagner, der Gitarre, Schlagzeug und Bass spielt, selbst Musiker. Die Fernsehleute holten die Künstler persönlich am Flughafen ab, tranken mit ihnen zusammen ein Bier zu viel, und müssen mit den schweren Ü-Wagen, in denen sie ihr Material transportierten, und manchmal auch schliefen, wie Musiker auf Tour gewirkt haben – eine Band zweiter Ordnung.

Der Rock’n’Roll ist auch deshalb heute noch so mächtig, weil seine Anfangsjahre hemmungslos verklärt werden. Das gilt selbstverständlich auch für den Rockpalast. Und die Mythen des Backstage- und Backcamera-Raums werden von Machern und Zuschauern durchaus gepflegt – Patti Smith zum Beispiel antwortete in einer ihrer eher desorientierten Phasen auf die Fragen des Reporters mit dissonanten Klängen aus der Klarinette, schrie dann laut und vernehmlich: „Let’s get on the fucking stage“. Und Jerry Garcia brach vor dem Konzert in der Grugahalle den Soundcheck nach nur zwei Songs mit den Worten ab: „Wenn wir jetzt weiter spielen, macht es uns keinen Spaß mehr, das wird sich negativ auf unsere Vibes auswirken. Das wollt ihr doch sicher nicht?“ Der Rockpalast hat eine Fan-Gemeinde wie ein Fußballverein. Show und Fans haben genau wie Borussia Dortmund im Ruhrpott gemeinsam Triumphe gefeiert, und hätten beinahe die (Sende-)Lizenz verloren. Die Menschen lieben die Sendung, mit der sie oftmals aufgewachsen sind, und die ihre Plattensammlung und damit das Ich entscheidend geprägt hat, und wenn die Sendung mal wieder auf der Streich-Liste der Programmverantwortlichen steht, dann starten die Zuschauer schnell mal Unterschriftenaktionen (80er) oder machen virales Marketing (00er) unter der Headline „„Rettet den Rockpalast!“.

Die emotionale Nähe und persönliche Verbundenheit führt jedoch oft auch zu einer „gewissen Intoleranz“, wie Christian Wagner meint. Fans misstrauen Veränderungen, und genau wie Fußball-Anhänger oft einen Transfer oder einen Taktikwechsel mit Buh-Rufen und zivilem Ungehorsam beantworten, bekommt auch der Rockpalast immer wieder die Stimme der Fankurve zu hören. „„Wir haben Traditionalisten“, meint Wagner, „die wollen, dass wir wie in den Anfangstagen nur komplette Konzerte übertragen“. Dahinter steht einerseits die pop-philosophische Frage, ob ein Konzert ein Gesamtkunstwerk oder eher eine Abfolge von Songs ist, andererseits der Verdacht, dass die zwanzigminütigen Best-Of-Segmente, die das Rockpalast-Team auf den Festivals einsammelt, schon ein Zugeständnis an die Clip-Kultur von MTV darstellen. Peter Sommer meint dazu lapidar: „„Wenn man ehrlich ist, dann ist auf einem Konzert auch nicht jeder Song gut.“ Auf diese Weise offenbart er eine Flexibilität und einen gesunden Pragmatismus, den man wohl auch braucht, um den alten Dampfer Rockpalast durch die medialen Strudel und ökonomischen Taifune des 21. Jahrhunderts zu steuern.

Das Fernsehen ist ein Massenmedium – und strebt deshalb immer in Richtung Masse. Spätestens seit Einführung des Privatfernsehen herrscht auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ein gnadenloser Quotendruck. Die telemedialen Happenings, die den Entscheidern in der Sendezentrale wohl schon immer ein wenig suspekt waren, müssen nun auch gute Zahlen liefern. Peter Sommer meint: „Das Rockpublikum ist am Ende nur eine Minderheit – wir werden niemals die Dimensionen von ‚Wetten, dass ..?‘ erreichen.“ Und Gregor Friedel, Musikredakteur beim SWR, der das New Pop Festival veranstaltet, sagt: „„Livekonzerte sind in den letzten Jahren zunehmend in die Nachtschiene geschoben worden“. Immer wieder gibt es Gerüchte über die Einstellung der Livemusik-Formate, und manchmal stimmen die Gerüchte sogar. Die großartige Sendung „„Ohne Filter“ wurde vor einigen Jahren (und nach insgesamt 300 Folgen) eingestellt. Friedel weiß genau, dass Live-Musik im Fernsehen nicht zu einer Art musikalischer „Space Night“ werden darf, zu einem Ersatz für das Sendezeichen (oder das Kaminfeuer auf Kabel 1), das man in den Äther jagt, wenn es gerade nichts anderes zu senden gibt. Gregor Friedel kämpft deshalb dafür, die New-Pop-Künstler (in diesem Jahr unter anderem Duffy, One Republic und Amy MacDonald) „früh im SWR-Programm zu platzieren und so Aufmerksamkeit für die Konzert-Reihe zu schaffen“. Man merkt, dass er eine gewisse Routine darin besitzt, in Konferenzräumen um Sendeplatz und Budgets zu streiten. Routiniert zitiert er die Sendekosten pro Minute und die Quoten der vergangenen Sendungen, die „allesamt zeigen, dass es immer noch ein Interesse an derartigen Inhalten gibt“ – das Special zum New Pop Festival habe um ein Uhr morgens immer noch eine Quote von zehn Prozent gehabt.

Live-Musik ist ein hartes Geschäft geworden. Nicht nur nehmen Künstler im Zeitalter von Bittorrent und CD Clone mittlerweile einen Großteil ihres Verdienstes bei Konzerten ein. Auch die DVD-Aufnahmen sind neben Album-Verkauf und klassischem Fanartikel fester Teil des Business-Plans einer postmodernen Band. „„Vertragsverhandlungen sind heute ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit“, meint Sommer, „„die Zusicherung, ein Konzert für alle Ewigkeit senden zu dürfen, wird immer seltener gegeben. Bei weltbekannten Bands werden die Fernsehrechte meist drastisch eingeschränkt.“ Gleichzeitig versuchen Plattenfirmen und PR-Berater stärker als früher die Kontrolle über die Bilder, das Image einer Band, zu behalten. Rockpalast-Regisseur Christian Wagner muss immer öfter mit Agenten debattieren, die DOs und DON’Ts der Kameraführung diktieren wollen – den Sänger bitte nicht von oben filmen (er bekommt eine Glatze), den Bassisten nicht im Closeup (er ist schon wieder betrunken). Wagner fühlt sich in seiner Berufsehre gekränkt: „Ich zeige die Bands immer von der besten Seite. Wenn es so weit kommt, dass man große Bands nur ins Fernsehen bekommt, wenn man deren eigene DVD abspielt, dann kann man eigentlich gleich aufhören.“ Das öffentlichrechtliche Fernsehen sei schließlich ein Produzent von Inhalten, und kein überdimensionaler DVD-Player.

Der Rockpalast hat früher Mega-Events (die damals natürlich noch nicht so hießen) selbst produziert, füllte die Grugahalle oder veranstaltete das Open Air Festival an der Loreley (u.a. mit Joe Cocker, U2, David Bowie). „Heute könnten wir das nicht mehr produzieren“, meint Sommer. Das geringe Budget könnte sich jedoch in anderer Hinsicht als Vorteil erweisen, wenn es nämlich darum geht, dem Publikum nicht nur Big Names zu präsentieren, sondern auch unbekannten Bands ein Forum zu geben. Gregor Friedel sagt: „Wir können uns die Bands nicht leisten, wenn sie groß sind, wir müssen sie in der Start-Phase entdecken“ – und es ist deutlich zu hören, dass er an dem Scouting-Aspekt der Arbeit große Freude hat. Die Mythenpflege der deutschen Live-Musik-Szene und der jahrelange Fokus auf das Gitarre-Bass-Schlagzeug-Setup mögen der Sensibilität für Neues manchmal im Weg stehen. Die Rockpalast-Macher wurden lange Jahre wegen ihrer traditionellen Musikauswahl kritisiert, die neue Trends wie etwa Punk solange ausblendete, bis sie nicht mehr zu überhören waren. Und manchmal fremdeln die alten Herren des Rock-TV ganz offen mit neuen musikalischen Ausdrucksformen. Etwa wenn sich Wagner, der beim WDR immerhin zehn Jahre lang die Indie-Schiene „„Bootleg“ programmiert hatte, fragt, „„was ich bei einem DJ-Set eigentlich filmen soll“. Der Rockpalast wurde in den letzten Jahren merklich vielfältiger. Gab es im Jahr 2002 gerade mal neun Veranstaltungen, betont Sommer, „kamen wir 2006 auf 26.“ Sechs Mal pro Jahr finden die „Intro-Intim“-Konzerte statt, die mit geringem Technikaufwand und kostengünstigen Handkameras gefilmt werden, was „„durchaus funktioniert“.

Die Ausrüstung von Musikern und TV-Crews hat sich in den letzten 30 Jahren mit einer unglaublichen Geschwindigkeit entwickelt – und das verändert sowohl die Art und Weise, wie Musik auf der Bühne präsentiert wird (DJ-Set!) als auch die mediale Aufbereitung der realen Performance. Die Live-Aufnahmen von Konzerten sind in den letzten Jahren gleichzeitig sehr viel größer und sehr viel kleiner geworden. Da gibt es „U2 3D“, eine Millionen-Produktion, die in IMAX-Kinos gezeigt wird, und die die Besucher in einen lebendigen Traum aus Musik, Farbe und Computer-Animationen entführt. Und da gibt es die visuellen Bootlegs, die die Konzertbesucher mit ihren Medienspielzeugen aufzeichnen und auf YouTube präsentieren, eine neue, raue Ästhetik, von der sich Wagner „gerne inspirieren lässt“. Die Medienrevolution verändert nicht nur den Look der Livemusik, sondern auch die „Lieferung“. Früher musste man, wenn man den Rockpalast anschauen wollte, genau wie bei einem realen Konzert pünktlich sein – das konnte man sich nur so lange erlauben, wie man keine Konkurrenz hatte. Musikfans haben heute nicht nur fünf Kanäle, sondern mindestens 35, dazu Satellitenradio, DVDs und das Internet. Rockpalast.de ist in den letzten Jahren deshalb zu einer Multimedia-Plattform geworden, auf der man die Sendungen per Mausklick abrufen kann. Der (Rock-)Palast besteht aus Pixeln.

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