ROLL OVER BEETHOVEN

Es war eine nacht-und-nebel-aktion damals vor rund zwölf Jahren in der Berliner Zentrale von Universal. Eine dieser Sponti-Ideen: schnell ausgedacht und sofort umgesetzt. Tim Renner hatte gerade die Spitze des Platten-Multis übernommen und seinen Kumpel, den Jazz-Experten Christian Kellersmann, zum Klassik-Chef gekürt. Könnte man nicht schnell zum Gala-Pop-Empfang noch einige Konterfeis von Klassikstars auf hängen? Irgendwie lässig gestylt, gut ausgeleuchtet, ganz ohne Puder und Staub -dafür mit Oberflächenglanz und Sex-Appeal? Die Sopranistin Anna Netrebko neben Robbie Williams, der Bass-Bariton René Pape neben Meat Loaf, der Dirigent Claudio Abbado neben den Spice Girls -oder so ähnlich? Hatte Andy Warhol neben Elvis und Campbell-Dosen nicht auch die Queen und Goethe als Pop-Ikonen inszeniert? Renner und Kellersmann packten bis zur letzten Sekunde mit an. Und ihre Gäste reagierten erwartungsgemäß: „Who the fuck is this?“ – „Oh, classical music -wow!“

Das war der Anfang eines gigantischen Pionier-Projekts, das bis heute nachwirkt. Der Sex verkauft die Oper inzwischen so selbstverständlich wie ein hohes C, und keiner wundert sich, wenn die Tiefe der Musik hauptsächlich an der schillernden Oberfläche unter die Leute gebracht wird: halb entkleidete Soprane, freakige Pianisten, archaische Dirigenten und Pinup-Trompeterinnen. Damals verließ die Klassik den Dunstkreis des Elitären und wollte stattdessen Pop im Sinne von ‚populär‘ werden. Dafür entwickelten Renner und Kellersmann in ihren Glasbüros an der Spree unzählige Projekte: die „Yellow Lounge“, eine Party-Live-Performance-Veranstaltung mit Rock-und Klassikstars in Berliner Discos, Crossover-Ideen wie „René Pape singt Rammstein“, sie ließen Christoph Schlingensief und Harald Schmidt deren Lieblingskomponisten vorstellen, brachten Sting und den Geiger Daniel Hope zusammen, um Mittelalterlieder einzuspielen, und beauftragten den Detroit-Techno-Star Carl Craig und den Sampling-Künstler Matthew Herbert mit dem Neuarrangement von Klassik-Standards. Statt auf beleibte Sopran-Brünnhilden setzten sie auf junge Musiker. Und die schickten sie nicht nur ins „FAZ“-Feuilleton, sondern auch auf den Zeitungs-Boulevard von „Bunte“, „Bild“ und „Stern“.

Heute, zehn Jahre später, leben wir selbstverständlich mit diesem neuen Image der Klassik. Die Gralshüter des Elitären sind verstummt. Klassikmagazine sehen aus wie die „Bravo“, und zu jedem neuen Album gibt es Arienvideos in MTV-Länge. Und trotzdem: Das Konzept steckt in der Krise. Künstler sind kaum noch voneinander zu unterschieden, jedes Jahr erscheinen neue appetitliche Ton-Retorten, flackern als Sternchen auf und geraten in Vergessenheit. Wer kann schon die künstlerische Qualität beurteilen? Etwa die von David Garrett, der dem RTL-Publikum den schnellsten „Hummelflug“ der Welt vorfiedelt und behauptet, Stargeiger zu sein, der einen Exklusiv-Vertrag mit Thomas Sabo hat und unter dem Motto „Rock meets Klassik“ Spießer-Modeschmuck bewirbt, der im Film „Paganini“ blankzieht und „Bild“ mit unter die Bettdecke nimmt. Oder die von Lang Lang, diesem chinesischen Tastentrickser, der Beethoven eher mäßig spielt, dafür aber mit Metallica die Säle rockt. Oder die von einem Tenor wie Jonas Kaufmann, der sich zwar auch als dunkelgelockter Opernsänger mit Starschnitt-Attitüde in Szene setzen lässt, dabei aber nie seine Stimmentwicklung vernachlässigt.

Der Chef der Deutschen Phono-Akademie, Dieter Gorny, findet all das vollkommen in Ordnung: „Es geht in dieser Bewegung doch nur darum, den Staub wegzublasen, Barrieren abzubauen und die Kraft der Sinnlichkeit von klassischer Musik zu zeigen.“ Für Gorny ist die Pop-Klassik eine logische gesellschaftliche Konsequenz: „Wenn wir den Menschen erklären wollen, warum die hundertste Einspielung der Mondscheinsonate so besonders ist, müssen wir ihnen natürlich erklären, was an diesem Künstler so besonders ist. Die Klassik lebt vom immer gleichen Repertoire, von toten Komponisten -die Interpreten sind das Neue, sie sind unsere Zeitgenossen! Und klar, dass wir sehen wollen, wie sie sind und wie sie sich geben.“

Die Klassik soll also Mittel der Popmusik benutzen, um Schwellenängste zu überwinden. Fakt ist, dass diese Strategie der Klassik zunächst Traumzahlen bescherte. Anna Netrebko gelang es sogar, die Pop-Charts zu stürmen. Inzwischen herrscht allerdings Katerstimmung: Umsatzverluste in der Plattenbranche -und vor allen Dingen: keine Innovation. Das Seniorenpublikum hat sich mit der neuen Bildsprache arrangiert, die jungen Hörer sind längst wieder abgesprungen. Pop funktioniert irgendwie anders.

Wenn man Pop als Prozess begreift, in dem eine Subkultur zum Mainstream heranwächst, dann passt die Klassik der Nullerjahre da durchaus hinein: Sie kam aus der angestaubten Nische, wurde cool und erreichte die Masse. Ihr Problem ist, dass sie sich derzeit nicht weiterentwickelt, dass sie ihr vormals neues Image so verwaltet wie einst die Puderperücken von Bach und Mozart, dass sie in der gleichen Krise steckt wie Justin Bieber oder Selena Gomez: Alle erwarten Neues – aber es kommt nichts. Ständig neue Gesichter in den gleichen Roben, stilvoll fotografiert vor großen Bäumen oder einem New Yorker Taxi. Was bleibt, ist ein Allgemeinbild: Klassik ist bunt geworden, aber kaum jemand dringt in ihre Tiefe vor. Es geht nicht weiter, nicht unter die Oberfläche. Wer aber einen Pakt mit dem Pop schließt, muss bereit sein weiterzugehen.

Die Krise hat vor allem damit zu tun, dass die Pioniere von damals von Bord gegangen sind: Tim Renner verließ Universal bereits 2004 und gründete den Radiosender Motor FM; vor Kurzem wurde er zum Kulturstaatssekretär von Berlin ernannt. Christian Kellersmann verließ Universal 2012 -seine Abteilung, „Klassik &Jazz“, wurde aufgelöst und von der Deutschen Grammophon (dem größten Klassiklabel im Universal-Kosmos) übernommen. Auch das Team, das damals den Auf bruch wagte, ist zum großen Teil abgewandert.

Wenn Kellersmann heute das Fenster seines Appartements in Rio de Janeiro öffnet, kann er vom Balkon aus auf die Copacabana spucken. Alles sieht aus wie ein billiger Werbe-Clip: Mädchen flanieren im Bikini am Strand, ein warmer Wind weht. Kellersmann erholt sich gerade vom Karneval und wartet auf die Fußball-WM. Er hat sich in der Heimat seiner Frau niedergelassen und macht sich aus der Ferne Gedanken über die Entwicklung der Musik. Bis heute besteht er darauf, dass seine Strategie nichts mit dem Pop-Mechanismus zu tun gehabt habe. „Der Slogan von der Pop-Klassik wurde in den Medien erfunden“, sagt er, „und das ist absoluter Quatsch.“ Kellersmann erklärt, dass die Märkte und ihre Kräfte vollkommen unterschiedlich funktionierten: Im Pop werde eine neue Single mit heavy rotation im Radio bekannt gemacht, von einem Video begleitet, in Interviews und durch Konzerte promotet. Der Klassik fehle schon die nötige Aufmerksamkeit, um all das zu kopieren. „Unsere Idee war es damals, der Klassik ein neues Marketing zu verpassen. Dabei haben wir uns nicht nur am Pop, sondern auch an anderen Kulturprodukten orientiert. In der Klassik war es schon innovativ, dass ein Künstler zur Veröffentlichung einer CD zur Verfügung stehen musste, dass er mit dem gleichen Repertoire auf Tour ging und in moderner Bildsprache präsentiert wurde. Das kannte damals selbst Günter Grass schon, wenn er ein neues Buch veröffentlichte. Aber bei einem Weltklasse-Pianisten wie Krystian Zimerman war und ist es eben noch keine Selbstverständlichkeit.“ Aber natürlich war da auch ein bisschen Pop im Spiel: Rock-Fotografen wie Jim Rakete wurden nun verpflichtet, um etwa den Bariton Thomas Quasthoff abzulichten, als der gemeinsam mit dem Jazztrompeter Till Brönner ins Studio ging.

Es gab schon immer einige Klassikstars, die aus der Nische ausgebrachen und populär wurden. Caruso, Weltklassetenor der 1910er-Jahre, wurde durch erste Plattenaufnahmen, eine wilde Ehe und die Hochzeit mit einer Millionärin zum Society-Helden. Oder Maria Callas, die griechische Diva, die Onassis den Kopf verdrehte, Journalisten anpflaumte und als singender Kleiderständer für Chanel durch die Glamour-Magazine wanderte. Und da waren natürlich die drei Tenöre, die Erzfeinde Luciano Pavarotti, José Carreras und Plácido Domingo, die sich -nach Carreras‘ Leukämieerkrankung -1990 in einem Konzert mit Opern-und Musical-Schlagern zur Fußball-WM in Italien versöhnten: Eine Milliarde Menschen sahen das Event live im Fernsehen.

Der Unterschied zu vielen aktuellen Klassikstars besteht darin, dass die wenigsten von ihnen den langen Weg von der Bühne ins Scheinwerferlicht gegangen sind. Sie werden, ebenso wie Popstars, auf YouTube entdeckt oder nach einem ersten Preiskonzert engagiert. Die Pianisten Martin Stadtfeld (der seine erste Produktion noch selbst zahlte), Li Yundi (der Lang-Lang-Imitator) oder YouTube-Star Valentina Lisitsa, Geigerinnen wie Nicola Benedetti oder der Gitarrist Miloš Karadaglic wurden nach ihren ersten Erfolgen in hübsche Kleider gesteckt, um als Popsternchen zu strahlen und möglichst schnell Umsätze einzuspielen. Nicht nur die Verpackung war oberflächlich, sondern auch der Inhalt. Es werden immer mehr Kurzzeit-Karrieren und Wegwerf-Klassik produziert. Domingo, Pavarotti und Carreras waren noch so etwas wie die Rolling Stones der Oper – eine never-ending story und selbst schon Klassiker. Was an ihnen noch besonders war, ist heute gang und gäbe: Kein Boxkampf mehr ohne Klassik-Quartett, kein Olympia ohne Anna Netrebko, kein Super-Bowl-Finale ohne US-Sängerin Renée Fleming und kein Nationalelf-Kick mehr ohne den deutschen Tenor Jonas Kaufmann. Klassik macht, was sie am besten zu können meint: staatstragende Repräsentation im öffentlichen Raum.

Und auch Crossover ist natürlich keine Neuerfindung. Es gab geniale Momente, zum Beispiel als Freddie Mercury die spanische Sopranistin Montserrat Caballé 1987 überredete, gemeinsam mit ihm und Queen-Produzent David Richards den Song „Barcelona“ aufzunehmen: ein Kniefall des Rockstars vor der Diva – und eine Aufnahme, in der der Shouter Mercury ebenso authentisch klingt wie die Kunstkoloraturen der Caballé. Abgeschmackt dagegen die halbseidenen Clayderman-Erben mit ihren Kerzen, ihrem Gold und ihrem Plüsch. Rondò Veneziano, Vanessa-Mae oder Andrea Bocelli: dumme Versuche, Klassik als Mainstream zu positionieren. Auch Luciano Pavarottis Singsang-Gelddruckmaschine für große Stadien, in denen er mit Celine Dion, Zucchero und Bryan Adams als „Pavarotti &Friends“ auftrat, war künstlerisch natürlich ein Desaster.

Aber das Konzept funktioniert auch andersherum, etwa wenn Sting sich mit halb gesprochenen Liedern des Renaissance-Komponisten John Dowland und ein bisschen Lautenspiel zum Klassiker erheben will und Pop kurzerhand für tot erklärt. Wenn man mit ihm plaudert, erfährt man, dass er nicht an die Rettung der Klassik durch den Pop glaubt -im Gegenteil: „Es ist doch so“, sagt Sting, „dass wir derzeit am Ende der Popmusik stehen, die immer monotoner wird. Rock liegt im Sterben. Mich interessiert es nicht, noch einen Computer einzusetzen, noch einen Verfremdungseffekt zu suchen. Wir haben uns viel zu lange vorgemacht, dass Rock’n’Roll revolutionär wäre. Vergesst es, Freunde! Rock ist schrecklich reaktionär. Ein wirklicher Revolutionär war Strawinski.“

Wir treffen thomas Quasthoff in dessen Berliner Woh nu ng. Auch er hat Grenzen überschritten und Jazz-Standards aufgenommen. Nicht wie andere Klassiksänger, etwa Renée Fleming, die Songs von Arcade Fire, Muse und Leonard Cohen mit technisch brillanter Stimme und ohne Schmirgelpapier in perlende Arien verwandelt haben. Wenn Quasthoff Jazz singt, dann nicht als Opernsänger. Vor einem Jahr hat er seine Karriere beendet. Er ist stets ein Kritiker der Oberflächen-Klassik gewesen und hat nie an den Pop in der Oper geglaubt. Er findet, dass die beiden Genres nicht verschmelzen dürfen, sondern dass die Grenzen zwischen ihnen überschritten werden müssen: „Vor einem Klassikkonzert singe ich mich eine Dreiviertelstunde lang ein“, sagt er. „Bei einer Jazz-CD komme ich ins Studio, mache einmal ‚Brrr‘ – und los geht’s.“ Die beiden Genres verfolgen unterschiedliche Ziele: „Bei der Klassik haben die Leute das Gefühl, dass nur ich kann, was sie hören. Beim Jazz will ich, dass die Leute denken: Oh ja, das kann ich auch.“ Dennoch zählt für ihn Billie Holiday ebenso als Klassiker wie der Gegenwartskomponist Wolfgang Rihm. „Beides kann unter die Haut gehen“, sagt Quasthoff.,“Holidays letzte Aufnahmen, bei denen sie vor Drogen kaum noch stehen konnte – das war wahrhaft große Oper. Und Maria Callas hat nie schön, immer aber bedrückend authentisch gesungen.“ Pop hingegen ist für Quasthoff das, was „dazwischen“ liegt, für ihn bloß das „belanglose, bunte Nichts“. Phono-Akademie-Chef Gorny findet, dass die grundlegenden Unterschiede zwischen Klassik und Pop letztlich gar nicht so groß seien: „Im Pop haben wir doch längst auch eine Klassik-Komponente. Es geht nicht immer um die Neuerfindung: Die Reunion von Led Zeppelin, das Comeback von Johnny Cash -das beweist doch, dass Pop zum Teil auch vom Klassikphänomen des ewig Gültigen lebt. Von Bruce Springsteen erwartet niemand eine Neuerfindung, sondern nur neue Texte zur aktuellen Lage der Welt.“

Wer die Pop-Klassik von heute verstehen will, muss den ersten Scoop der damaligen Universal-Truppe kennen: Anna Netrebko. Die Deutsche Grammophon hatte die russische Sopranistin vom Mariinski-Theater, die bis dahin nur Insidern bekannt gewesen war, bereits vor den Salzburger Festspielen 2002 unter Vertrag genommen und Klassik-Journalisten dezent auf den Auftritt von „Donna Anna“ in Mozarts „Le nozze di Figaro“ aufmerksam gemacht. Die Netrebko brillierte und begeisterte Publikum und Kritiker, und wenig später erschien ihr erstes Soloalbum, „Opera Arias“. Journalisten durften mit der Diva Schuhe kaufen gehen, sie erzählte von ihren Träumen, von Wodka-Orgien und davon, dass sie früher im Sankt Petersburger Theater als Putzfrau gearbeitet habe. Während das Feuilleton ihre Stimme lobte, schauten „Gala“ und „Bunte“ ihr unter die Robe: Die Netrebkonitis war ausgebrochen und verbreitete sich von Deutschland aus in die ganze Welt. Alles, was danach kam, ist Abklatsch. Was Netrebko von anderen Klassikstars unterscheidet, ist, dass sie sowohl vom Boulevard als auch vom Feuilleton geschätzt wird. Erst neulich setzte sie einen Badeanzug-Selfie vom schneebedeckten Balkon ihrer New Yorker Wohnung in die Welt und erntete sofort 40.000 Facebook-Likes. Sie hat verstanden, dass die Oberfläche der Klassik-PR gleichzeitig eine inszenierte Authentizität im Netz verlangt. So geht Pop!

Netrebko ist für Opernfans zu einem Ereignis und für alle anderen zu einer schillernden Figur geworden. „Wissen Sie“, sagt sie, „Barrieren werden überall aufgebaut. Aber sie interessieren mich nicht: Wenn ich in einer Stadthalle Opern singe, authentisch und echt, ist es doch großartig, wenn Tausende Menschen sich daran erfreuen. Ich verrate Verdi dann nicht. Manche seiner Arien waren doch auch Gassenhauer, Schlager seiner Zeit. Und wenn ich in der Met in New York auf der Bühne stehe, ist es genauso: Ich singe authentisch und echt. Der Rahmen ist ein anderer, aber nicht die Kunst.“

Maria Callas ist an diesem Spagat zugrunde gegangen. Popstars mit ähnlicher Entwicklung fliehen oft in Rausch und Drogen. Anna Netrebko ist nur gestolpert. Sie musste spüren, dass der Pop-Marketing-Rhythmus schädlich für ihre Opernstimme ist: Vokalkrise, Auszeit, Rückzug. Ihr Kompagnon der ersten Tage, der mexikanische Tenor Rolando Villazón, hat sich davon nie erholt, sagt immer mehr Aufführungen ab, tritt als TV-Entertainer auf, arbeitet als Regisseur und schreibt Bücher.

Netrebkos Kunst besteht darin, dass sie sich ständig neu erfindet: Mit dem Boulevard plaudert sie über den Autismus ihres Sohnes, und sie erzählt, dass ihr Ex-Mann, der Bariton Erwin Schrott, im Bett eine Kanone sei. Zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele tritt sie in Sotschi auf, ohne sich mit Putin gemein zu machen. Und ganz nebenbei entwickelt sie ihre Stimme in neue Dimensionen. Das Besondere: All das tut sie glaubhaft. Ihr neues „Verdi“-Album ist eines der besten Klassik-Alben der vergangenen zehn Jahre. Logisch, dass der Klassikmarkt inzwischen die Devise ausgegeben hat, Netrebko-Retortenbabys zu zeugen, Popstars mit Klassikqualität. Hübsche Bilder, eine irgendwie persönliche Story und -das ist das Problem -ein bisschen Talent müssen inzwischen oft reichen. Sängerinnen wie Elina Garanca leben gut davon, weil sie wirklich singen können, die Geigerin Hilary Hahn hat sogar ihrem Geigenkasten einen Instagram-Account gegeben, Daniel Hope arbeit mit Sting und betreibt Musik als politische Auf klärung. Und selbst die Megastars beugen sich dem neuen Konzept, neben der Musik Schlagzeilen zu machen: Der Dirigent Daniel Barenboim will mit seinem West-Eastern Divan Orchestra Frieden in Nahost stiften, und Rolando Villazón zeichnet Mozart-Comics. Doch der Boulevard winkt ab: zu viel, zu gleich, zu bekannt. Und das Feuilleton vermisst Tiefe.

Mittlerweile sind ausgerechnet jene Künstler aufregender, die sich dem Ganzen entziehen und einfach nur Musik machen. Der Dirigent Christian Thielemann etwa, die Pianisten Rafał Blechacz und Kit Armstrong, Letzterer ein Kompositionsund Tasten-Genie, dem es, ähnlich wie einst Mozart, schon schwerfällt, seine Schnürsenkel selbst zu binden. Das ist kein PR-Gag, sondern Realität. Diese Künstler verweigern sich dem Marketing, können Pop nicht einmal buchstabieren -und wollen es auch gar nicht. Und vielleicht sind sie in ihrem reaktionären Klassikbegriff längst schon wieder moderner als die Epigonen der Pop-Klassik. Sie leben den Innovationscharakter der Subkultur, den Klassik-Mainstream von morgen.“Klassikkünstler haben in der Regel eine andere Sozialisation als Popkünstler“, sagt Kellersmann. „Als Jugendliche mussten sie üben, üben, üben, während die anderen um die Häuser zogen.“ Auch da widerspricht Phono-Akademie-Chef Gorny: „Wenn Sie sehen, wie Künstler heute etwa an der Folkwang-Universität ausgebildet werden, sehen Sie, dass da eine ganz neue Generation heranwächst: Die gehen genauso selbstverständlich in ein Popkonzert wie in die Oper und suchen Herausforderungen und Grenzüberschreitungen für ihre Instrumente. Diese beknackte Grenze, von der wir dauernd reden, gibt es in Wirklichkeit immer weniger.“ Nun ja: Viele Klassikkünstler kennen den Lebensstil der Menschen, die sie eigentlich ansprechen wollen, gar nicht. Populäre Subkulturen sind ihnen fremd.

Der Nachwuchs war schon immer das Problem der Klassik. In der Regel muss ein Mensch 40 Jahre alt werden und einigermaßen gesetzt sein, um sich zu begeistern und einzulassen. Bislang war das kein Problem. Die Klassik war der Goldpreis der Musikindustrie: nicht hoch, aber stabil. Doch inzwischen werden auch hier Expansion und schnelle Geschäfte verlangt. Und die Zahlen sind niederschmetternd: Während der nationale Pop seinen Gesamtumsatz 2012 sogar um 1,5 %steigern konnte, verlor die Klassik über 14 %. 2013 legte sie wieder um 6 %zu, aber nicht wegen des poppigen Nachwuchses, sondern wegen der Wagner-und Verdi-Alben renommierter Künstler wie Villazón, Kaufmann und Netrebko. Wie groß die Verunsicherung unter den Labels ist, zeigt der rasante Einbruch bei den Veröffentlichungen: Die Zahl der Klassik-Audioaufnahmen sank von 70.000 auf 35.000. Kein Wunder, denn Universal hat mit seiner Ästhetik-und Marktdominanz einen Großteil der Konkurrenz in den Konkurs getrieben. Warner und EMI wurden aufgelöst -nur Sony versucht noch Paroli zu bieten. Auch der Umstieg auf das digitale Geschäft geht nur schleppend voran. Während im Pop bereits 29 %aller Titel als Download verkauft werden, sind es in der Klassik gerade mal 15 %. Ein größeres Publikum scheint trotz -oder wegen -der altbackenen Popmechanismen nicht in Sicht: 74 %der Klassikkäufer sind heute über 50 Jahre alt, weitere 15 %über 40 Jahre. Nur 11 %des Marktes werden von unter 40-Jährigen bedient. Damit ist das Klassik-Publikum sogar noch älter als das der Schlager-und Volksmusik.

Die Labels und der CD-Markt verlieren in der Klassik allmählich an Bedeutung. Opern-und Konzerthäuser boomen, aber die Nachfrage nach Tonträgern sinkt. Die Konzepte von vor zehn Jahren greifen nicht mehr. Künstler wie Thomas Quasthoff haben den Markt längst abgeschrieben:“Wenn wir Klassik-CDs aufnehmen, machen wir das doch hauptsächlich für das Archiv, damit etwas erhalten bleibt – aber nicht um Geld zu verdienen.“

Die Plattenfirmen müssen mit ansehen, wie sie Opfer ihrer eigenen Strategie werden. Sie setzen Hochglanzbilder in die Welt, mit denen dann andere verdienen. Die Firmen promoten Netrebko und Co., aber anders als im Pop werden deshalb nicht mehr CDs verkauft -es wird nur der Marktwert der Künstler bei Opernauftritten gesteigert. Die Deutsche Grammophon hat daraus nun erste Konsequenzen gezogen und eine eigene Veranstaltungs-und Management-Gruppe gebildet. Sie will nun auch jenseits des CD-Marktes von der Bekanntheit ihrer Stars profitieren.

Dabei hat das CD-Marketing längst den gesamten Klassikmarkt ergriffen. Auch Orchester und Opernhäuser präsentieren sich nicht mehr als bildungsbürgerliche Einrichtungen, sondern als gesellschaftliche Orte mit Party-Ambiente und After-Work-Konzerten. Wenn man aus dem rot geplüschten Foyer der New Yorker Metropolitan Opera kommt und durch das Labyrinth der von Neonlicht illuminierten Linoleumgänge hinter der Bühne geht, gelangt man irgendwann in das großzügige, mit Designermöbeln eingerichtete Büro des Intendanten, Peter Gelb. In den 90er-Jahren war er Plattenboss bei Sony, wo er die Klassikkrise überwand, indem er einfach den Soundtrack zu „Titanic“ als Klassiktitel verkaufte und die Grenzen zum Pop öffnete. Die Girlie-Sängerin Charlotte Church war seine Erfindung, ebenso die Kompositionen von Vangelis für den Cellisten Yo-Yo Ma. Heute ist Gelb Vordenker des wirklich innovativen Opernmarketings: moderne Plakat-Ästhetik, Sponsorenbälle, vor allen Dingen aber monatlich stattfindende Live-Übertragungen aus der Met in die Kinos der Welt. „Wir erreichen mit einer Kinoübertragung inzwischen mehr Publikum als mit einem ausverkauften Haus in einer ganzen Saison“, sagt er. Das Publikum zahlt rund 20 Euro für eine Kinokarte, und Gelb freut sich: „Letztlich bezahlen die Leute dafür, dass sie einen Werbefilm für unsere Oper sehen. Wer einmal im Kino Anna Netrebko auf unserer Bühne erlebt hat, wird, wenn er in New York ist, natürlich versuchen, eine Karte bei uns zu bekommen.“ Gelbs Haus produziert die Übertragungen selbst und macht sich damit von der Musikindustrie unabhängig. „Früher haben die Plattenfirmen bestimmt, welcher ihrer Stars bei TV-Übertragungen oder auf DVD-Mitschnitten auftritt -heute sind wir unabhängig.“ Gelb schließt nicht aus, dass die Met irgendwann selbst zu einem Label wird. „Natürlich habe ich viel vom Pop-Marketing gelernt“, sagt er, „und selbstverständlich kann man viel kopieren -aber wir haben es in der Klassik nicht mit einem Tagesgeschäft zu tun. Unser Anliegen kann es nicht sein, schnell Stars zu kreieren. Wir müssen nachhaltig denken und das Publikum, das wir gewinnen, bei der Stange halten.“

Genau daran aber scheitern große Bereiche des Klassikmarktes derzeit. Er produziert einfach immer neue Popsternchen und lässt sie verglühen. Für Christian Kellersmann ist das nicht verwunderlich: „In den Führungsetagen der Labels, Sender und Musikinstitutionen sitzen oft ältere, gesetzte Menschen, die auf der einen Seite ein neues Publikum ansprechen wollen, auf der anderen aber gar nicht verstehen, wie die Subkulturen funktionieren.“ Und dass diese schon längst ein paar Schritte weiter sind, wenn das Establishment sich gerade erst an die ersten Schritte gewöhnt hat, an die Geiger mit Punk-Frisur und die Operndiven auf Taxi-Rückbänken. „Es ist längst überfällig, dass die Klassik sich neue Konzepte überlegt“, sagt er. „Alles wird noch gemacht wie vor zehn Jahren, und alle glauben, das wäre modern.“

Nicht auszuschließen, dass die neue Subkultur längst entsteht. In den Nischen der Klassik, wo man heute wieder eigene Werte entwickelt, wo ein Thomas Quasthoff wieder das Authentische sucht und Kit Armstrong sich nicht damit auf hält, sich die Schnürsenkel zuzubinden, wo man dem „Klassischen“ vertraut, dem langen Atem – der Musik.

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