Schriftsteller Jonathan Franzen im Interview: „Die IT-Industrie ist eine Fabrik für Idiotie“

In Jonathan Franzens neuem Roman "Unschuld" spielt Deutschland eine wichtige Rolle. Ein Gespräch über Schuld, Idealismus und die Frage, warum nicht jeder Whistleblower das Zeug zum Helden hat. Von Wieland Freund

Juni 2008: Jonathan Franzen ist mal wieder in Berlin zu Gast. Mit der S-Bahn ist er bis Friedrichshagen gefahren, in den äußersten Osten der Stadt. Jetzt steht er zum ersten Mal am Ufer des Müggelsees, der bedächtig gegen das Ufer schwappt. „Very Minnesotan“, sagt Franzen unter Bäumen. Er steckt tief in seinem Roman „Freiheit“, der damals noch gar nicht geschrieben ist – darin spielt ein namenloser See eine Rolle, der wirklich in Minnesota liegt. Der Müggelsee muss warten.

In „Unschuld“, Franzens neuem Roman, der nächste Woche erscheint, hat er sieben Jahre später seinen Auftritt. „Zwischen ausladenden Nadelhölzern“ liegt dort das „Wolf’sche Sommerhaus“ versteckt – Wolf wie Markus Wolf, denn Andreas Wolf, eine von Franzens Hauptfiguren, ist mit dem Stasi-Chefspion verwandt. Es sind die letzten Jahre der DDR, der „Republik des schlechten Geschmacks“. „Unschuld“ reicht von den Achtzigern bis in die Gegenwart, spielt in den Vereinigten Staaten und in Südamerika, wo sich Andreas, mittlerweile ein Whistleblower à la Julian Assange, versteckt hält.

Die Welt: Man kann Ihren Titeln nicht trauen. „Die Korrekturen“ waren nur insofern Korrekturen am Roman, als sie die Korrekturen der Postmoderne rückgängig machten. In „Freiheit“ steht kein Begriff so infrage wie der Begriff der Freiheit. Und in „Unschuld“ sind alle schuldig – des Mordes, des Missbrauchs, am häufigsten des Verrats.

Jonathan Franzen: Sie haben recht, ich habe Gefallen an Titeln gefunden, die über sich lachen. Aber ich glaube nicht, dass sie nur ironisch sind. Man könnte behaupten, dass die „Korrekturen“ wieder und wieder die Selbstdarstellung ihrer Figuren korrigieren, und dass „Freiheit“ versucht, falsche von richtigen Freiheitsbegriffen zu scheiden. Warum mein neuer Roman auf Deutsch „Unschuld“ heißt, fragen Sie vielleicht besser den Rowohlt-Verlag. „Purity“ – Reinheit – schien mir ein guter Titel für einen Roman über Idealismus. Der Idealismus der Piraten-Partei unterscheidet sich sehr vom Idealismus der DDR, dem Idealismus der linken Sprachpolizei oder dem Idealismus irakischer Selbstmordattentäter. Gemein haben sie irgendein Verlangen nach Reinheit.

Die Welt: Ist mit dieser Reinheit auch das pure, schiere Erzählen gemeint? Ist das die Korrektur von „Unschuld“?

Franzen: Mir gefällt die Unerschrockenheit Ihrer Frage, und vielleicht ist etwas daran, auch wenn ich nicht den Eindruck hatte, meine letzten beiden Romane hätten einer Korrektur bedurft. Eigentlich ist es mir, als ich sie schrieb, so vorgekommen, als hätte ich meinen Weg zum reineren Geschichtenerzählen gefunden – einem, das unmittelbar aus den Figuren erwuchs, ohne eine raffinierte Handlung, die von ihnen ablenkte. Meine ersten beiden Romane hingegen wurden mehr von der Handlung getrieben. Beide handelten von Verschwörungen und weil ein junger zorniger Idealist sie geschrieben hatte, waren die Verschwörer von Macht und Gier getrieben. In „Unschuld“ habe ich mir diese beiden Bücher wieder vorgenommen und versucht, es besser zu machen: den Konsequenzen eines jugendlichen Idealismus nachzuspüren, wenn er in die Untiefen der Wirklichkeit gerät, und einen handlungsgetriebenen Roman zu schreiben, in dem die Beweggründe persönlich und irrational sind, nicht mechanistisch.

Dank des Internets ist Berühmtheit heute eine noch gewaltigere Größe, die noch deformierender wirkt. Schließt „Realismus“ Menschen wie Kanye West und Edward Snowden und Osama Bin Laden notwendig aus?

Jonathan Franzen

Welt: Apropos persönlich. Sie haben ein ausgeprägtes Talent dafür, sich schuldig zu fühlen, nicht wahr?

Franzen: Empfänglich für Schuldgefühle zu sein ist einer meiner Charakterzüge. Aber ich würde unterscheiden zwischen dem Schuldgefühl, das ich als junger Mensch hatte, und der Einsicht in eine unausweichliche Schuld, die ich als älterer Mensch habe. Irgendwann in meinen Dreißigern ist mir klar geworden, dass jeder Satz, der mit „Ich bin schuld“ beginnt, stattdessen auch mit „Ich bin wütend“ anfangen könnte und immer noch genauso Sinn macht. Und Wut ist ein nützlicheres Gefühl; man kann etwas dagegen tun. Die Schuld, die ich heute gestehe, ist abstrakter, und ich spüre sie weniger, als ich sie vielmehr anerkenne – die Schuld, so viel mehr von meinen Eltern genommen zu haben, als ich ihnen gegeben habe; die Schuld, an einem Lebensstil teilzuhaben, der den Planeten überhitzt; die Schuld, der weiße Bürger eines Landes zu sein, das die Indianer betrogen und ermordet und, dreihundert Jahre lang, schwarze Afrikaner versklavt hat. Das sind Fakten, keine Gefühle.

Die Welt: Sie haben einmal geschrieben, dass Sie für jeden neuen Roman neue Freundschaften schließen. Ich finde „Hamlet“ und Conrads „Herz der Finsternis“ im Roman, am auffälligsten aber ist der Bezug zu Charles Dickens. Wie „Große Erwartungen“ ist „Unschuld“ der Bildungsroman einer jungen Frau namens Pip. Die Frage ist: Wie hat sich der Bildungsroman seit Dickens verändert?

Franzen: Obwohl ich fast alles von Conrad gelesen habe, und manches mehr als einmal, kenne ich „Herz der Finsternis“ immer noch nicht. Es ist befremdlich und peinlich, aber ich muss es gestehen. Und in „Unschuld“ sind, vielleicht, gleich drei Bildungsromane eingebettet, einer im Amerika der Achtziger, ein anderer in der DDR und ein dritter in der Gegenwart. (Ich mache Dinge gern mehr als einmal in meinen Romanen.) Und ehrlich, ich habe nicht viel über den Dickens-Roman nachgedacht; es reichte, Pip den Spitznamen zu geben. Dickens hat auch eigentlich gar keine Bildungsromane geschrieben, nicht mal mit „David Copperfield“. Bei aller Herrlichkeit seiner Sprache und Beobachtungen wird seinen Helden doch eher mitgespielt (vom Schicksal, von der großen Welt), als dass sie das Drama der Individuation selbst aufführten. An der Problematisierung ihrer Psychologie oder Moral hatte Dickens kein Interesse. Vielleicht wäre der Wilhelm Meister der „Lehrjahre“ deshalb der bessere Vergleich. Und die vielleicht größte Veränderung seit den Bildungsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts ist, dass die jungen Leute heute keine großen Erwartungen haben. Stattdessen wachsen sie hinein in eine Welt sich verschlechternder Berufsperspektiven, zunehmender Einkommensungleichheit, globaler politischer Instabilität und einer sich zuspitzenden ökologischen Krise. Viel Geld zu erben wie Dickens‘ Pip, garantiert kein Happy End mehr. „Bildung“ ist jetzt dem Psychologischen und Moralischen verpflichtet.

Die Welt: Andreas Wolf, im Roman DDR-Dissident und weltberühmter Whistleblower, hat aber durchaus das Format eines Dickens-Schurken. Wäre das früher nicht ein Ding der Unmöglichkeit gewesen: Eine nicht hundertprozentig realistische Franzen-Figur?

Franzen: Ich bin mir nicht sicher, ob all meine Figuren immer so plausibel waren. Das fängt an mit Jammu in „Die 27ste Stadt“. Ich hatte schon immer Gefallen an der Überzeichnung und an extremen Figuren. Das wäre eine Antwort. Eine andere könnte sein, dass es solche extreme Figuren wirklich gibt. Dank des Internets ist Berühmtheit heute eine noch gewaltigere Größe, die noch deformierender wirkt. Schließt „Realismus“ Menschen wie Kanye West und Edward Snowden und Osama Bin Laden notwendig aus? Außerdem ist mir unwohl dabei, Andreas als Dickens-Schurken zu charakterisieren. Vielleicht habe ich ihn mehr als jede andere Figur im Buch geliebt, und ich hatte Mitleid mit ihm wegen seiner schwierigen Kindheit und seiner Prädisposition zu einer psychischen Krankheit.

Die Welt: Whistleblower wie Julian Assange oder Edward Snowden gelten in weiten Teilen der Gesellschaft als Helden. Sie scheinen ein Unbehagen gegen sie zu spüren. Welches?

Franzen: Die lange Antwort darauf wäre richtig lang. Eine kurze könnte sein, dass die IT-Industrie eine Fabrik für Idiotie und falsche Versprechen ist und dass jede öffentliche Figur, die von den Techies für einen Helden gehalten wird, a priori suspekt ist. „Wenn jeder jedes Geheimnis kennen würde, gäbe es keine Kriege und Verbrechen mehr.“ Wenn Visionäre aus dem Silicon Valley so etwas behaupten, ist es schon verblüffend, dass man sie dafür nicht in Grund und Boden lacht. Ich habe keinen Einblick ins Snowdens Psyche – er könnte wirklich heldenhaft gehandelt haben –, aber was wir über die Persönlichkeit von Julian Assange wissen, ist nicht gerade der Stoff, aus dem Helden sind.

Wenn ein ahnungsloser Neunzehnjähriger Transparenz für ein Allheilmittel hält, ist das verzeihlich. Bei einem CEO aus dem Silicon Valley ist es erschreckend und arglistig.

Jonathan Franzen

Die Welt: Whistleblower sind die Ikonen der Transparenz. Kein schönes Wort?

Franzen: Ein schönes Wort, wenn man neunzehn ist und keine Ahnung hat, wie die erwachsenen Welten der Diplomatie, der Gesetzgebung, des Handels und intimer Beziehungen wirklich funktionieren. Wenn ein ahnungsloser Neunzehnjähriger Transparenz für ein Allheilmittel hält, ist das verzeihlich. Bei einem CEO aus dem Silicon Valley ist es erschreckend und arglistig. IT-Firmen hüten ihre Geheimnisse streng.

Die Welt: Sind persönliche Geheimnisse konstitutiv für das Subjekt?

Franzen: Andreas Wolf glaubt das. Er hält Pip eine kleine Rede zum Thema. Vor drei Jahren war mein Instinkt, einen Roman über Geheimnisse zu schreiben, nicht mehr als das – ein Instinkt. Aber jetzt, wo ich „Unschuld“ geschrieben habe, wird mir klar, dass ich auf eine weitverbreitete, vom Internet geschürte Angst um Geheimnisse und das Ich reagiert habe. Es ist eine komplizierte und etwas diffuse Angst und Andreas‘ Rede ist nicht das letzte Wort. Ein Roman löst keine Probleme, er verkörpert sie.

Die Welt: Andreas‘ Gegenspieler ist der Journalist Tom Aberant. Andy Aberant war eine Figur, die Sie sowohl aus den „Korrekturen“ wie aus „Freiheit“ gestrichen haben – weil er Ihnen zu ähnlich gewesen sei. Ist Ihnen Tom auch so ähnlich?

Franzen: Sie stellen schlaue Fragen! Ich möchte anmerken, dass das, was Andy Aberant unschreibbar machte, die Ähnlichkeit seiner Subjektivität mit meiner war, keine Ähnlichkeit der Umstände. Ich bin das Gegenteil von Philip Roth – eine Figur, die wie ich klingt, finde ich langweilig und peinlich. In den Ur-„Korrekturen“ war Andy ein Regierungsanwalt, der nie geheiratet hatte. In der Urfassung von „Freiheit“ war er ein republikanischer Parteifunktionär, der seine Schwägerin liebte. Tom Aberant hat mit Andy nicht viel gemein außer dem Nachnamen, der in meiner Vorstellung einer männlichen Figur gehörte, die in ihren mittleren Jahren eine gefühlsmäßige Lähmung erlebt. Ich habe den Namen beibehalten, um die Energien, mit denen er schon aufgeladen war, anzapfen zu können. Aber allein die Tatsache, dass es mir gelungen ist, über Tom zu schreiben, bedeutet, ipso facto, dass seine Subjektivität meiner nicht ähnlich ist.

Die Welt: Tom, könnte man sagen, ist der letzte der Journalisten. Ein Bob Woodward im Zeitalter des Zeitungssterbens. Sie hat man als letzten der Romanciers beschrieben. Das wäre schon mal eine Ähnlichkeit, oder? Zumal im Gesellschaftsromancier Franzen immer auch ein Journalist gesteckt hat.

Franzen: Wahr ist, dass ich seit Langem selber Teilzeitjournalist bin und der Roman eine Verbeugung vor den professionellen Journalisten sein sollte, die ich bewundere. Aber Tom ist keinesfalls der Letzte von ihnen, so wenig wie ich der letzte Romancier bin. Eher ist er ein Modell dafür, wohin der Journalismus steuert – Tom leitet ein stiftungsbasiertes Nonprofit-Onlinemagazin. Selbst im Silicon Valley gibt es Menschen, die begriffen haben, dass Demokratien richtige Journalisten brauchen, und die darüber nachdenken, was an die Stelle der Zeitungen treten könnte, die vom Internet aus dem Geschäft gedrängt werden. Genauso wie Verleger und Schriftsteller darüber nachdenken, wie sie die Literatur und den Buchmarkt am Leben erhalten können. Die alten Modelle könnten dem Untergang geweiht sein. Aber das heißt nicht, dass es keine neuen Modelle gibt. In meinem Fall ist jeder meiner Romane ein bewusstes Experiment gewesen, wie die Gattung in einer sich verändernden Welt lebendig bleiben kann.

Die Welt: Nach dem Roman zu urteilen, ist Ihre Sorge um den guten alten Journalismus gewaltig.

Franzen: Ja, aber sie ist Teil einer noch größeren Sorge um die wachsende Kluft zwischen den Reichen und dem Rest der Welt. Die Besitzer der Plattformen – Facebook, Twitter, Google und so weiter – werden reich, während die, die die Inhalte zur Verfügung stellen, kaum oder gar kein Geld verdienen. Das Beispiel Journalismus ist besonders bedeutend, weil die Demokratie auf ihn angewiesen ist und weil sich Profis nicht durch Amateure ersetzen lassen. Julian Assange fehlten alle Möglichkeiten, Sinn zu machen aus dem, was er geleakt hat. Er brauchte die „New York Times“, er brauchte den „Guardian“.

Die Welt: Kommen wir noch mal auf Tom zurück, dessen hermetische erste Ehe im Roman breiten Raum einnimmt. Wer Ihre Essays kennt, wird auf gewisse Ähnlichkeiten mit Ihrer eigenen ersten Ehe stoßen.

Franzen: Nolo contendere. Ich leugne nicht. Die Details und die Persönlichkeiten sind andere, aber ich weiß genau, wie es ist, jung zu heiraten und sich dann in der Falle seines jugendlichen Idealismus wiederzufinden. Die Geschichte von Tom und seiner Frau ist eine Art Geschenk an die Leser, die wissen, wie das ist. Mein Eindruck ist, das sind viele.

Den Bezug zur deutschen Schuld gab es schon im ersten Exposé. Dreißig Jahre lang habe ich ein Buch schreiben wollen, in dem Deutschland eine Rolle spielt.

Jonathan Franzen

Die Welt: Sie schildern Toms und Anabels verkorkste Beziehung als Komödie. Doch der Wunsch nach Vergebung, der sich darin verbirgt, der Wunsch, endlich lauthals darüber lachen zu können – ist der nicht bitterernst?

Franzen: Autsch. Vielleicht. Aber hoffentlich – ohne allzu viel von der Geschichte zu verraten – stimmen Sie mir zu, dass diese Komödie Teil einer noch größeren Komödie ist. Der Roman ist sich Toms Sehnsucht nach Vergebung bewusst und auch der des Autors. Die Komödie von Tom und Anabel mag eine große Rolle spielen, und der Autor mag in sie verwickelt sein, aber es ist nur ein Kapitel des Buchs.

Die Welt: Muss ein Roman über Schuld zu Teilen in Deutschland spielen?

Franzen: Ich dachte schon! Den Bezug zur deutschen Schuld gab es schon im ersten Exposé. Dreißig Jahre lang habe ich ein Buch schreiben wollen, in dem Deutschland eine Rolle spielt, und der Tag, an dem mir klar wurde, dass jede der fünf Hauptfiguren in meinem deutschen Roman an einer Schuld litt, war ein glücklicher Tag. In manchen Fällen ist diese Schuld ein Gefühl. In anderen eine echte Blut-an-den-Händen-Schuld. Kein Volk der Weltgeschichte hat sich seiner Schuld je so gestellt wie die Deutschen nach 1945. Es ist enorm und bewundernswert, was die Deutschen geleistet haben. Und doch heißt das nicht, dass die Geschichte zu Ende wäre. Die DDR hat Hunderttausende schuldiger Kollaborateure hervorgebracht, und die heutige Bundesrepublik trägt, aufgrund ihres schieren ökonomischen Erfolgs, einige Verantwortung für die wirtschaftliche Misere in Griechenland und Spanien. In „Unschuld“ wollte ich Charaktere schaffen, die ihrer Schuld, obwohl sie sie anerkennen und hart dafür arbeiten, sie wiedergutzumachen, doch nicht entkommen können. Tatsächlich verstricken sie sich bei dem Versuch, ihr zu entfliehen, oft nur noch tiefer.

Die Welt: Am Ende könnte man „Purity“ auch mit „moralischer Rigorismus“ übersetzen. Ist das eine typisch deutsche Eigenschaft?

Franzen: Na ja, Kant war Deutscher und hat das Buch über moralische Rigorosität geschrieben. Ich weiß noch, wie meine deutsche Freundin Inge Rahtz 1981 in Berlin zu mir sagte: „Wir machen alles gründlich.“ Das kommt mir wie Glanz und Elend des Deutschseins vor: Gründlichkeit. Sicherlich klingt derzeit so etwas wie moralische Rigorosität in Deutschlands Umgang mit Griechenland an. Dabei gibt es, Menschen sind Menschen, doch auch in Deutschland Lügner und Betrüger und Kriminelle. Verallgemeinerungen über den Nationalcharakter sind ein Problem – man findet sich schnell in einem Sumpf aus Einschränkungen und Gegenbeispielen wieder.

Die Welt: War die DDR auch das Produkt einer solchen Rigorosität? „In ihrem Bestreben, konsistent zu sein und die Dinge richtig zu machen, war die Republik herzzerreißend deutsch“, heißt es im Roman.

Franzen: Das ist wiederum Andreas‘ Sicht, aus dessen Perspektive dieser Satz geschrieben ist. Aber es ist in der Tat auffällig, wie viel rigoroser und gründlicher die Stasi im Vergleich zu ihren osteuropäischen Gegenstücken war. Zum Teil war diese Rigorosität der DDR natürlich von den Sowjets erzwungen, die massive Reparationen und Wiedergutmachung forderten. Aber wie viele Kilometer Akten hat die Stasi produziert? Derselbe deutsche Geist, der im 19. Jahrhundert Bräuche und Pflanzen und organisch-chemische Verbindungen so brillant katalogisiert hatte, wurde auf die Katalogisierung der Schwächen einer kompletten Bevölkerung angesetzt. Herzzerreißend scheint mir das richtige Wort.

Die Welt: Andererseits sind Sie sich selbst in Ihrem Leben öfter mal ziemlich deutsch vorgekommen, oder?

Franzen: Schwer zu sagen, weil große Teile meines eigenen Individuationsdramas in Deutschland stattgefunden haben und in meiner Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur. Aber die moralische Strenge der Deutschen hat mich angesprochen, als ich jung war und ein Idealist, und ihre intellektuelle Strenge spricht mich heute noch an. Selbst meine verzweifelte Flucht nach Italien und Spanien während meiner Münchner und Berliner Jahre war so urdeutsch wie Goethe. Ich habe an anderer Stelle erzählt, wie ich Deutschland und Erwachsensein gleichgesetzt habe, und meine Kindheit war von dem Wunsch geprägt, kein Kind mehr zu sein. Aber jetzt, wo ich mehr oder weniger ein Erwachsener bin, halte ich mich doch für ein ziemlich albernes Exemplar. Ich schreibe komische Romane, ich sehe weit mehr fern, als gut für mich ist, ich habe seit Langem eine Affäre mit Vögeln. Diese Albernheit kommt mir nicht sehr deutsch vor.

Die Welt: Ist „Unschuld“ dann vielleicht ein Roman, der gegen seinen Autor rebelliert? Gegen dessen Hang, alles richtig machen zu wollen?

Franzen: Überhaupt nicht. Meine Romane benehmen sich so, wie ich es ihnen sage. Beim Schreiben bin ich der strengste deutsche Vater. Das soll nicht heißen, dass ich einem strengen Plan folgen würde oder einen Entwurf hätte. Aber ich lasse sie nicht los, bis sie sagen, was ich ihnen sage, das sie sagen sollen.

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