Sebastian Schipper und „Roads“: Wie dreht man einen Film nach „Victoria“?

Sebastian Schipper hat die „posttraumatische Belastungsstörung“ nach seinem Experimentalfilm-Coup verarbeitet und mit „Roads“ einen Jugendfilm auf Englisch gedreht. Eine Ode an die Freundschaft wider alle Umstände.

Sebastian Schipper kommt in einem Café in Kreuzberg vorbei. Es ist noch nicht mittags und auch nicht mehr Zeit zum Frühstücken. Der in Berlin lebende Regisseur, Schauspieler und Produzent bestellt einen Darjeeling-Tee und ist auch nicht verstimmt als er stattdessen einen Earl Grey serviert bekommt. Es ist schwer vorstellbar, ihn wütend zu erleben, das ist nach wenigen Minuten klar.

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Seit einigen Tagen beantwortet er Journalisten Fragen zu „Roads“, seinem ersten Leinwandprojekt seit er mit „Victoria“ fast über Nacht die schwierige deutsche Schnittstelle zwischen Experimentalfilm und Mainstream fand. Ein Film, der ihm viel Ruhm einbrachte und, wie man das so schön in der Fußballersprache sagen würde, Angebote aus dem Ausland. Schipper hat sich nicht verrückt machen lassen. Es war nicht sein erster Film und als Schauspieler ist er ohnehin unabhängig vom Job hinter der Kamera. Aber zu erzählen hat er noch eine Menge.

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Wie auch schon sein Debüt, „Absolute Giganten“ (1999), kreisen seine Filme immer wieder um ein Thema: Freundschaft im Angesicht des Erwachsenwerdens. Ein Thema, das eben auch in die Lehrpläne der Schulen gehört. Nach dem Interview empfängt Schipper eine Schar Schüler, die sich seinen neuen Film nur wenige Meter vom Café entfernt angeschaut haben. Er wirkt glücklich darüber, solche lernbegierigen Zuschauer zu haben. Aber auch etwas überrascht.

Sebastian Schipper mit seinen beiden Hauptdarstellern
Sebastian Schipper mit seinen beiden Hauptdarstellern

Eine Geschichte über Europa?

„Roads“ erzählt die Geschichte zweier Teenager, die zufällig zusammenfinden, der eine auf der Flucht vor seinen gutmeinenden Eltern, der andere auf der Suche nach seiner geflüchteten Familie in Europa. Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick – und doch lässt sich sofort spüren, dass hier zwei Menschen einander begegnen, die sich nötig haben. Schipper hat nach „Victoria“ ganz bewusst nicht zurück zum standardisierten deutschen Kino zurückgefunden. Der internationale Touch weitet sich darin sogar zum europäischen Panorama, das die Protagonisten von Marokko übers Meer bis hin nach Calais führt.

„Am Anfang stand die Entscheidung für Calais“, erklärt der Regisseur seinen Ansatz. Natürlich sind auch ihm die Bilder nicht entgangen von Flüchtlingen, die hier auf engstem Raum zusammengehalten werden, fast ohne Chance auf eine Weiterfahrt ins Herz Europas, nicht mehr in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren. „In der Stadt stoßen die Menschen noch einmal an eine andere Grenze, deshalb ist die Situation dort so aufgeladen.“

Schipper reiste nach Calais, um sich selbst von den Zuständen ein Bild zu machen, die im Fernsehen, in Zeitungen und im Netz ausgebreitet werden. Die Menschen schauten weg, sagt er, meint es aber nicht als Kritik. Er war von den Bedingungen in der französischen Stadt gleichzeitig verstört wie beeindruckt. Die vielen Helfer, die den Menschen vor Ort helfen, öffneten ihm auch die Augen für den Ausgang seiner Erzählung. „Wir waren dort überwältigt vom Leid der Menschen und der Brutalität des Staates. Aber es gab eben auch diese vielen helfenden Hände.“

Also handelt „Roads“ gar nicht vom Schrecken einer unhaltbaren Flüchtlingssituation?

Schipper: „Mir geht es vor allem auch darum, eine Geschichte zu erzählen, in der es eben auch Hoffnung gibt. In den meisten Filme oder Dokumentationen, in denen Migranten vorkommen, werden diese oft so dargestellt, als wäre die sogenannte Flüchtlingskrise eine Zombie-Apokalypse.“

Der Regisseur wählte für seine Protagonisten ganz bewusst den englischen Schauspieler Fionn Whitehead (seit „Dunkirk“ von Christopher Nolan auch einem großen Publikum bekannt; gecastet wurde er für „Roads“ aber schon, als das Weltkriegsdrama noch gar nicht in den Kinos war) und Stéphane Bak, der noch vor einigen Jahren als „jüngster Comedian“ Frankreichs galt, in diesem Film aber sehr zurückhaltend, fast introvertiert spielt. Gyllen (Whitehead) krallt sich während des langweiligen Familienurlaubs in Marokko den Campingwagen seines Stiefvaters, würgt das Gerät aber schon nach wenigen Metern ab. Verzweifelt versucht er eine Lösung zu finden. Die Flucht eines verwirrten angry young men aus dem Wohlstandskäfig. Er wird von William (Bak), der mit einem Wanderstock ausgestattet ist, beobachtet. Für einen Augenaufschlag wittert man als Zuschauer Gefahr, wenn der dunkelhäutige William auf Gyllens Gefährt zugelaufen kommt. Der Stock könnte ja auch eine Waffe sein. Es ist dunkel und es ist Marokko. Doch Gyllen lässt sich nicht schrecken. Er sitzt auf dem Dach und begrüßt den Unbekannten mit einem schlechten Scherz.

Flucht vor der Familie – Flucht zur Familie

Die Eingangsszene ist ein gutes Beispiel dafür, mit welcher Ruhe und fast humanistischen Gelassenheit Schipper seine Geschichte erzählt. Natürlich erinnert die Grundsituation an „Tschick“, den vielleicht größten deutschen Jugendroman der letzten Jahrzehnte. Aber anstatt mit einem Lada fahren die beiden ziemlich ungleichen Vögel mit einem Wohnmobil durch das Land. Sie werden betrogen (von Moritz Bleibtreu, der einen abgespackten Althippie spielt, und dessen Figur ein wenig Dope über die Grenze schmuggeln will) und revanchieren sich. Sie kiffen, erzählen sich Geschichten über die Vergangenheit, verhasste Fußballteams und ein ruppiges Leben ohne Ziel. Man kann nicht sagen, wer von beiden das tragischere Los gezogen hat, schon gar nicht dann, wenn Gyllen auf seinen Vater trifft, der es sich in seiner eigenen Blase gemütlich gemacht hat und bald wieder Vater
werden wird. Mit einer hübschen, jungen, neuen Freundin. Seinen Sohn als Ausreißer zu begrüßen schmeichelt ihm erst. Dann macht er ihm aber klar, was er von ihm hält. Es ist nicht viel.

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Warum nun aber wieder ein Coming-of-Age-Film, ein Genre, das sich ungebrochener Beliebtheit erfreut? „Ich mag die Einstellung der jungen Leute“, sagt Schipper ernst. Er erzählt das sicher nicht zum ersten Mal, aber es ist ihm anzusehen,dass ihm das Thema auch noch Monate nach den Dreharbeiten nahegeht. „Jugendliche haben oft einen viel klareren Blick auf die Welt, auch eine viel klarere Vorstellung von Werten. Das ist bei uns Älteren anders, wir haben gelernt, sogenannte Realisten zu sein.“

„Roads“ lebt von der Harmonie seiner beiden Hauptfiguren, die im letzten Drittel durch die harten Erfahrungen in Calais auf die Probe gestellt werden. Schipper zeigt viel. Polizisten, die ihrem Job nachgehen. Mit Schlagstöcken in der Hand. Aktivisten, die tonnenweise
Kleidung verteilen und die beiden Gestrandeten Jungen wie selbstverständlich aufnehmen. Aber er zeigt in erster Linie auch zwei Unbefleckte, die erst einmal lernen müssen, sich in die Arme zu nehmen. Oder sich Gleichnisse zu erzählen, um die Seelenwehen irgendwie ausdrücken zu können.

Keine Frage, dieser Film ist anders als „Victoria“. Die Mittel sind vergleichsweise gewöhnlich, keine Plansequenzen wie in dem rapiden Berlin-Abenteuer. Aber genau das war nötig, für Schipper, vielleicht auch für das deutsche Kino. Vielleicht kann man nun sogar einem Regisseur dabei zusehen, wie er sich selbst einen internationalen Rang erarbeitet. Das gelingt viel zu wenigen. Manche kehren auch wieder zurück und erzählen wieder deutsche Geschichten. „Roads“ ist keine deutsche Geschichte, auch „Victoria“ war es nicht, auch wenn sie in der Hauptstadt spielt.

Wie macht man nach einem Film, der viele Menschen bewegt und begeistert hat, der wahnsinnig untypisch war für das, was sonst so aus Deutschland auf die Leinwand kommt, einen neuen Film?

Schipper: „Ich habe noch immer, und das meine ich nur halb im Scherz, eine posttraumatische Belastungsstörung von ‚Victoria‘. Das war ein so überwältigender und überfordernder kreativer Akt, so dass ich das natürlich nie wieder machen werde. Abgesehen davon, dass wir mehr Glück als Verstand hatten. Die erste Idee für ‚Roads‘ war, zwei 18-Jährige fahren mit einem geklauten Wagen durch Europa. Aber so richtig packend wurde das ganze erst, als wir die Idee hatten , dass der eine aus London kommt und der andere aus dem Kongo. Ich habe mich dann selbst irgendwann erschrocken und gedacht, dass ich wohl von allen guten Geistern verlassen bin. Jetzt einen Film über Migration zu machen? Die meisten Filme, die man jetzt im Kino sehen kann, finden in der Vergangenheit statt oder sind dystopische Zukunftsfilme.“

Für Schipper ist das durchaus auch eine Form von Eskapismus, den sich das Kino leistet. Es verschließt zu einem gewissen Teil, vor allem bei den großen Publikumsfilmen, die Augen vor dem Schrecken der Welt. Die Menschen ergötzen sich bei dem Thema Migration eher an Historienfilmen oder abstrakten Parabeln. „Roads“ versucht den Balanceakt, er wurde komplett chronologisch gedreht. Man ist den Handlungsorten sozusagen hinterhergereist. Etwas Experiment musste also schon sein. Der Film fühlt sich deshalb aber auch sehr gegenwärtig an. Er lebt von seiner Spontaneität, von seinen ungekünstelten Dialogen, die in der Übersetzung etwas an Authentizität verlieren. Diesmal ist es nicht Nils Frahm, der für die pulsierenden Klänge sorgt. Es ist The Notwist. Mit der Band hatte Schipper bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Erneut ein Gewinn. Die Soundscapes der Band kommentieren die Handlung nicht, vielmehr hüllen sie das Geschehen in einen Klangteppich, der jeder Erwartungshaltung zuwiderläuft.

Mehr über „Roads“ und Sebastian Schipper erfahren Sie in einem Feature in der ab sofort erhältlichen Juni-Ausgabe des ROLLING STONE. 


Review: „Roads“

Gyllen und William könnten unterschiedlicher kaum sein. Der ­eine kommt aus wohlsituierten Londoner Verhältnissen, der andere aus dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Kongo. Was sie verbindet, sind ihr Alter und das Internet. Die beiden 18-Jähri­gen reisen von Tanger nach Calais, schmuggeln unfreiwillig Drogen und freiwillig Flüchtlinge über die Grenzen und stehen füreinander ein. Sie sind ebenso auf der Suche nach sich selbst wie nach Familie. Sebastian Schipper erzählt in seinem sehenswerten neuen Film vom Leben auf der Flucht und vom Trauma der Einsamkeit. Vor allem aber führt er die immense Bedeutung von Freundschaft, Zusammenhalt und Empathie in unserer Zeit vor Augen. (TH)

Michael Loccisano Getty Images for Tribeca Film Fe
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