Slipknot in Leipzig: Eine musikalische Gewalterfahrung
In Leipzig wagen Slipknot ein radikales Experiment. Erlebnisbericht von 80 Minuten Ausnahmezustand.
Anlässlich ihrer gemeinsamen Indien-Reise beschließt George Harrison seinem guten Freund, dem Komponisten Gary Weber im Jahr 1972 ein Geschenk zu machen. Er drückt ihm das Buch „Autobiography of a Yogi“ des indischen Gurus Paramahansa Yogananda in die Hand und inspiriert Weber unwissentlich damit, einen friedlichen und ziemlich erfolgreichen Song mit dem Titel „Dream Weaver“ zu komponieren. Das Lied wird formal zu einer frühen Blaupause des späteren Synthie-Pop und lässt sich inhaltlich auf das hinduistische Konzept zurückführen, dass der menschliche Geist seine Träume formt und somit den Keim des Göttlichen in sich trägt.
Es ist genau dieser Song, der am Montag um 21.03 Uhr in der Leipziger Quarterback Immobilien Arena in voller Länge gespielt wird, das Flutlicht eingeschaltet und auf die ausverkaufte Halle gerichtet. 12.000 Menschen sind gekommen. Doch von guten Träumen will man an diesem Abend wenig wissen. Viel mehr beginnt nach dem letzten Akkord, eine ziemlich dunkle Messe. Neun stämmige Männer mit roten Overalls und grotesken Masken stürmen die Bühne und leiten die Nacht stilecht mit einem brachialen Instrumental-Part und dem zur Catchphrase gewordenen Tour-Motto ein: „Here comes the pain!” Der Keim des Göttlichen verendet schon im ersten Takt. Die Härte der Riffs verstört, der Albtraum hat begonnen.
In Leipzig liegen Schweiß, Wut und Wahnsinn in der Luft
Dieser Abend ist so etwas, wie ein Experiment. Slipknot spielen ihr komplettes, selbstbetiteltes Debütalbum in (beinahe) voller Länge. Keine Songs, die nach 1999 geschrieben wurden. Kein Hit. Kein Publikumsliebling. Nur Slipknot, die „Slipknot“ spielen. Ihr härtestes, ihr kompromisslosestes und ihr unzugänglichstes Album. Schon von den ersten Akkorden überrollt diese Band alles. Blastbeats, Dissonanzen, gutturales Geschrei, völlige Abstinenz von Melodie und Schönheit, stattdessen: Rhythmus, Repetition, Rhythmus und ein klein wenig Groove, vermengt mit Dissonanz, Anarchie und Wahnsinn. Wenn hier an einem Traum gewebt wird, dann ist es wahrlich kein Guter.
Das Set walzt unaufhaltsam voran, „(Sic)“ und „Eyeless“ treiben das Publikum, erst und ausschließlich bei „Wait and Bleed“, erlaubt Frontmann Corey Taylor für die Dauer einer cleanen Gesangshook durchzuatmen, bis die Parts jede Illusion von Frieden wieder in Stücke reißen. In einem sich öffnenden Mosh Pit tanzt kurz ein einsamer Clown. Dann brechen Menschenmassen aufeinander ein. Es ist stickig. Schweiß, Wut und Wahnsinn liegen in der Luft. Eine Melange, die in dieser Nacht beinahe greifbar wird. Das alles hier ist rohe, brutale Energie, wie man sie selten auf einem Konzert erlebt. Eine musikalische Gewalterfahrung.
Es war genau diese Aura, die aus Slipknot Ende der 1990er-Jahre ein Phänomen machten. Spätestens nachdem Ozzy Osbourne die junge Band entdeckte und 1999 auf sein Ozzfest einlud, wo sie einen legendären Auftritt spielten, sprach sich herum, dass es da neun geisteskranke Psychopathen aus Iowa gibt, die in roten Overalls und Horrormasken durch das Land ziehen, auf Bühnen Purzelbäume schlagen und dazu eine neue, radikale Interpretation von Metal zelebrieren.
Ihr Debütalbum war die Soundkulisse zu diesem Wahnsinn, der Urknall, der seine tiefsten Wurzeln im Deathmetal und im Grindcore findet und zu einem musikalischen Sprengsatz wurde, der das Genre verändern sollte. Im Laufe der nächsten Jahre würde sich aus dem Fundament dieser großen, lauten Dissonanz nach und nach eine noch immer ultraharte, aber sehr viel strukturiertere Band formen. Das Nachfolgealbum „Iowa“ hatte bereits so etwas wie eine nachvollziehbare Gestalt, mit „Volume 3“ wurde der Wahnsinn schließlich gebändigt.
Slipknot beschwören die längst vergessene Anarchie der frühen Tage
Dass Slipknot aber nun ausgerechnet mit ihrem Erstlingswerk wieder die Welt bespielen, ist durchaus ein radikaler Akt. Selbst für hartgesottene Fans der Band bleibt das selbstbetitelte Album in seiner musikalischen Komplexität, in seinem krachenden Wahnsinn, eine Herausforderung. Und die Band ist nicht bereit für ein Entgegenkommen. Das Set wird auch in Leipzig in aller Härte durchgedrückt. Alles getragen von Drummer Eloy Casagrande (Ex-Sepultura), der es schafft in seiner Präzision, das hypernervöse Drumgerüst des mittlerweile verstorbenen Ursprungsmitglieds Joey Jordison außergewöhnlich gut zu imitieren. Sowieso: Die Band ist zwar mittlerweile eine andere, von den Gründungsmitgliedern ist kaum noch jemand dabei. Dennoch schaffen es Slipknot auch in ihrer neuen Inkarnation, den Sound der frühen Tage wie selbstverständlich abrufen zu können.
Beim klaustrophobischen „Prosthetics“ droht einem Atemnot, bei „Liberate“ fragt man sich, wie lange es angesichts der Aufruhr und Rebellion in diesem Song wohl noch dauert, bis irgendwo in der Halle die ersten Feuer ausbrechen. Menschenmassen verschieben, Mosh-Pits öffnen und schließen sich, immer wieder versucht jemand über eine wildgewordene Crowd zu surfen. Obwohl Slipknot mittlerweile eine etablierte, noch immer wahnsinnig erfolgreiche Band sind, weht an diesem Abend wieder der Wind der Anarchie durch Leipzig. Es ist der Spirit, der frühen Tage, der eine Ahnung des damals Möglichen eröffnet.
Dass Slipknot es tatsächlich geschafft haben, mit dieser extremen Spielart des Metal den Mainstream zu erobern, erscheint auch mit 25 Jahren Abstand wie ein zynischer Witz der Geschichte, dass ausgerechnet Grindcore und Deathmetal einmal die Billboard-Charts erklimmen könnte, wäre selbst für Szene-Optimisten schlichtweg unvorstellbar gewesen. Entgegen allen medialen Kategorisierungsversuchen waren Slipknot niemals eine NuMetal-Band, sehr wohl aber eine Band, die von der NuMetal-Welle Ende der 1990er-Jahre profitieren konnte. Nie wieder zuvor und nie wieder danach war der Mainstream grundsätzlich so offen für musikalische Härte. Verbunden mit ihrer konzeptuellen Theatralik, wurden Slipknot im Prä-Social-Media Zeitalter zu einem Phänomen.
Die toxische Verfalls-Ästhetik des NuMetal
Ihr Konzept war nicht neu, schon KISS hatten in den 1970er-Jahren verstanden, dass eine Rockshow das Maximum an Masse erreicht, wenn sie larger than life wird und daraufhin die Konsequenz gezogen, aus ihren Bühnenpersönlichkeiten übergroße Fantasie-Figuren zu machen. Doch während KISS noch die Comicbuchhelden der glamourösen 1970er und der hedonistischen 1980er-Jahre waren, sind Slipknot die Anti-Helden des ausklingenden Jahrhunderts, das Produkt einer verfaulten Musikindustrie. Personifikationen des Elends, des Außenseitertums, die musikalische Metastase einer erkrankten Gesellschaft.
Entsprechend sind ihre Bühnenpersönlichkeiten groteske Freaks und ihre Texte drehen sich um Verfall und Elend, Einsamkeit, Selbsthass und Isolation. Damit reihen sie sich in die toxische Verfalls-Ästhetik des NuMetal ein. Slipknot waren die dunklen KISS. Sie passten in eine Zeit, in der Grunge längst tot war und eine nachwachsende Generation neue Grenzen auslosten wollte. Erstaunlicherweise trifft die Botschaft von 1999 heute wieder auf eine Jugend, die in ihr ein Identifikationspotenzial erkennt. Das wird an diesem Abend sehr deutlich.
In Leipzig ist das Publikum ein Geschenk. Der Abend hier ist nicht geprägt von Metal-Nostalgikern der ersten Stunde, sondern von aufgestylte Goth-Girls in Netzstrumpfhosen mit abgeschnittenen Slipknot-Shirts und Jungs in Jumpsuits und Maske, die aussehen, als wären sie auf dem Weg zu einem Purge. Eine neue Generation, die den alten Nihilismus für sich entdeckt. Es ist eine große, böse Party, die sie hier gemeinsam feiern.
Die Keimzelle der Kreativität liegt im Osten
Und spätestens nach dieser Party sollte sich die Musikindustrie noch einmal selbst beiseite nehmen, sich tief in die Augen schauen und sich fragen, warum der Osten bei Bookings noch immer dermaßen stiefmütterlich behandelt wird. Für eine Band kann es kaum eine bessere Publikumserfahrung geben, als hier in der letzten Bastion des kulturellen Nonkonformismus. Wenn es in Deutschland eine Keimzelle neuer Kreativität gibt, dann liegt sie schon lange nicht mehr in Berlin – sondern im Osten. Das spürt man an diesem Abend, an dieser Konzerterfahrung deutlich.
Nach 80 Minuten ist schließlich alles vorbei. Es wird kein einziger Song abseits des Albums gespielt. Kein Song, der nach 1999 geschrieben wurde. Kein Hit. Kein Publikumsliebling. Keine Ausnahme. Die Bandpolitik ist in ihrer Konsequenz genauso gnadenlos, wie der gesamte Auftritt. 80 Minuten Ausnahmezustand. Als die Band die Bühne verlässt und die letzten Blastbeats verklingen, fühlt man sich, als würde man aus einem schlimmen Traum erwachen. Ist das gerade wirklich passiert?
Leipzig ist kalt und nass und grau an diesem Abend, die Luft aber ist frisch und wir schreiben das Jahr 2024. Und eine ganz neue Generation hat diesem Abend einen Geschmack von dem Wahnsinn bekommen, der 1999 den Metal nachhaltig verändern, wahrscheinlich sogar für immer revolutionieren sollte. Nichts von dieser Botschaft hat an Kraft eingebüßt. Mal schauen, was die nächste Generation aus ihr machen wird. Der Abend ist vielleicht vorbei, das Experiment aber noch nicht beendet.