Täter sind nicht die Ursache
Wenn man annimmt, dass man nicht auf der Welt ist, um die eigene Schuldfreiheit zu beweisen, kann man sich darum bemühen, andere zu unterstützen.

In einer rassistischen Welt muss niemand davon überzeugt werden, dass ein Schwarzer Mann ein Vergewaltiger ist. #notallmen ist leicht zu sagen, wenn sie weiß sind.
Wer ist angeklagt?
In den Medien sind R. Kelly, Sean Diddy Combs und Jay-Z keine gefeierten Rapper mehr. Sean Diddy Combs nennt man auch nicht mehr bei seinem Singer-Alias. Für die Schlagzeilen hält sein bürgerlicher Name her. Zig Klagen zu sexualisierter Gewalt. Und das für jeden von ihnen.
Kelly wurde schon einmal angeklagt, das war vor #metoo. Und er wurde freigesprochen. #metoo hat darauf aufmerksam gemacht, dass sexualisierte Gewalt nicht aus Einzelfällen besteht, sondern in Strukturen eingebettet ist.
Immer mehr Forschung zeigt ein klares Bild. So gibt das „Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)“ an, dass „jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt wird; etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner.“ (Stand 10. April 2025)
Nun wurde R. Kelly wieder angeklagt, doch diesmal verließ er den Gerichtssaal nicht mehr als „nicht schuldig“. Die Klagenden gelten nun auch nicht mehr vorrangig als Rufmörder:innen, die missgünstig am Glanz der Ikonen kratzen.
Privilegien und Diskriminierungsformen
Auch wenn der Diskurs um sexualisierter Gewalt ein neuer Diskurs ist, findet er in gesellschaftlichen Verhältnissen statt, die von Privilegien und Diskriminierungsformen geprägt sind, welche in einem neuen Diskurs wieder aufleben.
Wie unterschiedliche Privilegien und Diskriminierungsformen miteinander verschränkt sind und den Diskurs zu sexualisierter Gewalt beherrschen, lässt sich mitunter an der Art und Weise der Berichterstattung zu sexualisierter Gewalt ausmachen. Die Rolle, die Rassismus, Klassimus, (Hetero-)Sexismus, Fat-shaming und Ableismus in der Auswahl der Fälle, die öffentlich besprochen werden, spielen, beeinflusst auch die Auswahl der Fälle, die öffentliche Aufmerksamkeit erfahren.
So viele Privilegien es gibt, so viele Diskriminierungsformen gibt es auch. Wenn man sie isoliert betrachtet, bekommt man ein Ergebnis mit groben Einschränkungen. Alle zusammengenommen geht der Überblick flöten.
Wie lässt sich also bei einem so heiklen Thema dennoch herausarbeiten, wo verschiedene Diskriminierungsformen mit Privilegien ineinandergreifen und Vorurteile bestätigen, wie etwa das des Schwarzen Vergewaltigers?
Der Fachbegriff hierfür heißt „Intersektionalität“
Dr. Emilia Roig erklärt, dass jegliche Form von Identität, Diskriminierungsform und Privileg den Alltag aller beeinflusst, wodurch die Gesellschaft geprägt wird. Folgendes popkulturelles Beispiel: Eine Szene aus der TV-Serie „Scrubs“ zeigt die Verflochtenheit von Diskriminierungsformen und Privilegien. Der Schwarze Chirurg Christopher Turk und die weiße Internistin Elliot Reed streiten sich, wer es im Berufsleben schwerer hat: Ein Schwarzer Mann oder eine weiße Frau. Die Kamera schwenkt auf eine Schwarze Ärztin – die beiden sind betreten und geben ihr Kudos.
Es ist nicht möglich, Intersektionalität zu entwirren, aber sie hilft dabei zu zeigen, dass bestimmte Vorurteile gegen eine Gruppe dazu genutzt werden können, eine andere Gruppe zu „schützen”.
Kommen wir zurück zu den drei Rappern. R. Kellys, Sean Diddy Combs’ und Jay-Z’ haben mehrere Privilegien. Zuallererst: Alle drei sind berühmte Musiker, groß gefeiert mit viel Einfluss in ihrer Branche. Außerdem eint alle die US-Staatsangehörigkeit, dass sie cis-Männer sind, hetero, able-bodied und überreich. In einem prestigeträchtigen Musikbusiness eine Standard-Kombi.
Abgesehen davon sind sie aber auch alle: Schwarz. Egal, wie viele Privilegien sie haben, es brauchte nur eine Diskriminierungsform, damit sie zu Sündenböcken wurden. Womit sexualisierte Gewalt als moralisch verwerflich betrachtet und gleichzeitig Schuld klar zugewiesen werden kann. Wenn der Schwarze Mann oder der Mann mit Migrationsgeschichte der Böse ist, entlastet das automatisch weiße Männer und lenkt den Blick von partiarchalen Strukturen ab. So werden rassistische Vorurteile reproduziert.
Der Fokus auf einige wenige Schwarze Männer als Täter in Fällen sexualisierter Gewalt übergeht aber nicht nur strukturelle Verhältnisse, die sich aus Privilegien und Diskriminierungsformen speisen, sondern reduziert das Problem auf seltene „Einzelfälle“. Das leugnet, was mit der #metoo-Bewegung so auffällig wurde. Sexualisierte Gewalttaten sind nicht selten, sondern betreffen den Großteil aller FLINTA*-Personen und die Täter sind in aller Regel Männer – egal, ob Schwarz oder weiß – und sie kommen aus allen gesellschaftlichen Klassen.
In vielen Medien häufen sich jedoch Berichte von Schwarzen Männern und Männern mit Migrationsgeschichte, die sexualisierte Gewalt anwenden. Das verzerrt die Wahrnehmung dessen, was tatsächlich geschieht und verstärkt Diskriminierungsstrukturen, indem es eine scheinbare Rechtfertigungsgrundlage bietet.
Das Machtgefälle
Ungleiche Verteilung von Privilegien und Merkmalen, die zwischen Menschen zu Diskriminierung führen, sorgt für ungleich verteilte Machtpositionen in einer Gesellschaft, die damit auf struktureller Ebene diskriminiert. Solche Machtgefälle entstehen, sobald eine von zwei Personen ein Privileg hat, das die andere nicht hat. Es wird komplexer, wenn sie sich nicht dieselben Privilegien teilen. Und das Machtgefälle wird immer steiler, je mehr Privilegien eine von zwei Personen im Vergleich zur anderen hat.
An sich ist ein Machtgefälle nur eine Grundlage, die Gewalt begünstigt, und kein Grund, gewalttätig zu sein. Aber sobald eine Person das Machtgefälle ausnutzt, wird sie gewalttätig.
Und genau das ist das Ding.
Sexualisierter Gewalt vorbeugen
Grundsätzlich bedeutet sexualisierter Gewalt vorzubeugen auch, die Wirkmacht von Privilegien und Diskriminierungsformen auszumachen. Das Thema sexualisierte Gewalt großteils mit Tätern, die Schwarz sind, zu besetzen, überdeckt, dass eine Vergewaltigung von jeder Person ausgeführt werden kann.
Es reicht nicht aus, Täter auszusortieren. Täter sind nicht die Ursache. Die Gründe liegen tiefer und greifen schon bei scheinbar alltäglicher Misogynie, wie bei verächtlichen Aussagen gegenüber FLINTA*-Personen.
Die Gewaltpyramide, ein Modell aus der Sozialpsychologie, verbildlicht den Verlauf von Normalisierung und extremer Gewalt: Die Grundlage bilden diskriminierende Strukturen, die Spitze Homizide. Direkt darunter: sexualisierte Gewalt. Und in absteigender Reihenfolge: verbale Ausdrücke und Mikroaggressionen.
Um sexualisierter Gewalt ein Ende zu setzen, braucht es auf der Grundlage schon aufklärende und vorbeugende Maßnahmen. Diese lassen sich strukturell über Gesetze, aber auch individuell im eigenen Umfeld umsetzen.
Daniel Sloss hat dazu in seinem Bühnenprogramm „X“ folgende Gleichung aufgestellt: Da er seinem Freund jahrelang dessen frauen*feindlichen Aussagen hat durchgehen lassen, trägt er Mitschuld daran, dass sein Freund eine Frau* vergewaltigte.
Der Ausschnitt aus Daniel Sloss’ „X“
Das heißt konkret: Damit #notallmen gelten kann, braucht es Männer*, die sich für die Rechte von aller Personen einsetzen, die keine Männer* sind. Oder einfach gesagt: Es braucht Männer*, die ihren Freunden nicht durchgehen lassen, dass sie Frauen* entwerten. Statt Männer*, die sich zurücklehnen, weil sie keine Frau* vergewaltigt haben.
Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen
Medien verzerren, wer sexualisierte Gewalt ausübt. Die Vorstellung des Schwarzen Mannes als Vergewaltiger zu festigen reproduziert Vorurteile, die Hass gegen eine marginalisierte Gruppe schüren, auch wenn die angeklagten Personen tatsächlich schuldig sind. Mit #notallmen kann man sich weder die Hände in Unschuld waschen noch den eigenen Schmutz auf #onlyblackmen abladen.
Wer die Komplexität sexualisierter Gewalt aufgreifen möchte, kann sich abseits der Schuldfrage in einzelnen Gerichtsprozessen bewegen und sich Machtdynamiken widmen. Das heißt auch, sich damit auseinanderzusetzen, wie sexualisierter Gewalt strukturell vorgebeugt werden kann.
Während Daniel Sloss ein Beispiel erzählt, das zwischenmenschliche Präventionsarbeit in den Fokus rückt, brauchen die Medien für Präventionsarbeit eine Berichterstattungsweise, die den Diskurs um sexualisierte Gewalt nicht über Diskriminierungsformen verzerrt und auf Täter-Opfer-Dynamiken reduziert. Um bei strukturellen Verhältnissen zu bleiben: Es gibt keine wenigen Ausreißer einer gewaltfreien Gesellschaft, sie sind Ausdruck einer gewalt-ermöglichenden und -erhaltenden Struktur. Sexualisierte Gewalt ist in gesellschaftlichen Machtdynamiken verankert, für die es eine Berichterstattung braucht, die das Verhältnis von Gewalttaten und gesellschaftlichen Verhältnissen aufzeigt.
In „Schwarze Männer belästigen weiße Frauen – Solche Bilder sind gefährlich!“ stellte Katharina Alexander fest, dass das Stereotyp des Schwarzen Mannes als sehr sexuell aktiv, gewalttätig und übergriffig gleichzeitig rassistisch und sexistisch ist und seit Jahrhunderten reproduziert wird. Das Stereotyp ist wie auch das Stereotyp der weißen, wehrlosen, unschuldigen Frau eines, um die Unterdrückung Schwarzer Personen zu rechtfertigen. Rassistisch betrachtet muss die weiße Rasse bzw. die weiße Kindermacherin geschützt werden.
Dazu gibt Katharina Alexander an, dass das Stereotyp des sexuell überaktiven, gewalttätigen und übergriffigen Mannes zwar über Polizeistatistiken nicht widerlegt werden kann, aber: „der Anteil der deutschen Täter überwiegt klar über die der nicht-deutschen.“
Sich zu verhalten, als gäbe es nur einige wenige, die vergewaltigen oder, sobald es mehr als nur ein paar wenige werden, so zu tun, als wären sie „nicht wie ich (#notallmen)“, indem man einen rassistisch geprägten sozialen Marker verwendet, zeigt auf, dass man Frauen* nicht zuhört und weder sie noch sexualisierte Gewalt an sich ernst nimmt. Denn sexualisierte Gewalt ist keine unerhörte Begebenheit sondern alltäglich.
Um zurück zur Intersektionalität zu finden, die als Werkzeug dabei hilft, die Komplexität zu erfassen, lässt sich Audre Lorde heranziehen: „There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.“