Tanzen mit Kippenberger

Manchmal braucht es exakt 1.018 Seiten, um eine kurze Epoche der Zeitgeschichte zu Ende zu erklären. Der preisgekrönte Historiker Sven Reichardt von der Uni Konstanz widmet sich in üppiger Detailtiefe einem spezifischen Sujet der alten BRD: dem linksalternativen Leben in den 70er-und frühen 80er-Jahren. Der Untertitel des geradeaus geschriebenen Wissenschaftstitels lautet „Authentizität und Gemeinschaft“. Wir tauchen ab in die bizarre Welt der K-Gruppen, Hausbesetzer, Wohngemeinschaften und lila Latzhosen, einer kleinen, aber extrem wirkungsmächtigen Subkultur, die bis heute besonders das Weichbild unserer Großstädte prägt. Auch wenn die antiautoritären Kinderläden und die mit Tropfkerzen geschmückten Haschbuden weitgehend verschwunden sind, sind die Nachwehen in Berlin, aber auch in Frankfurt, Hamburg und Köln doch bis heute zu spüren. So heißt es etwa im Kapitel „Musikveranstaltungen“:“In der von der Band Ideal besungenen Discothek Dschungel in Berlin-Schöneberg konnte man sogar Foucault beim Tanzen beobachten.“ Popkultur ist in dem soliden Suhrkamp-Buchklotz zwar nur ein kleiner Aspekt innerhalb der großen Linien „Politik und Selbstreflektion“,“Lebensräume“ und „Körper und Seele“. Doch immer wieder tauchen gute alte Bekannte wie David Bowie und Blixa Bargeld in der oberlegendärsten Westberliner Absturzkneipe Risiko oder auch im Frankfurter Liveclub Batschkapp auf, der direkt aus der Sponti-Szene (siehe auch: Joschka Fischer) hervorging.

Wenn es an dieser facettenreichen Arbeit überhaupt etwas zu kritisieren gibt, dann ist es die strikte Beschränkung auf Quellenarbeit. Das ist zwar wissenschaftlich korrekt, doch Reichardt übersieht in seiner Conclusio, dass das von ihm beschriebene Milieu bereits seit 1978 von einer nochmals kleineren, aber letztlich nochmals einflussreicheren Gruppe „unterwandert“ wurde. Stichwort Punk, New Wave und die Neuen Wilden der Malerei, eine wuchtige Strömung, die sich explizit am beschriebenen Alternativ-Millieu abgearbeitet hat. „Pogo on a Hippie“ mag ein derber Nietenlederjacken-Slogan gewesen sein. Doch er beschreibt prägnant die radikale Anti-Haltung gegenüber dem verschwafelten Befindlichkeitsgetue der Linksalternativen, die sich etwa im neonkühlen Interieur der frühen deutschen Punk-und Wave-Läden äußerte. Der Großkünstler Martin Kippenberger, der 1978 den Liveclub SO36 auf der Kreuzberger Oranienstraße managte, mag stellvertretend für diese Avantgarde stehen. Mangels eigener Szenekenntnis übersieht Reichardt diese (eigentlich gut dokumentierte) neue Strömung in der alten allerdings nahezu komplett. Was schade ist, so aus historischer Sicht. RALF NIEMCZYK

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