RS-Reportage

Thailands hippe Heiden: Wotans Clan im Fernen Osten

One Night in Bangkok mit der deutsch-skandinavischen Nordic-Ritual-Band Heilung. Fotos: Aurélien Foucault

Über ein Jahr hat Guythip Saraswatimonthon auf diesen Tag hingearbeitet. Zwei Millionen Baht (rund 52.000 Euro) Schulden hat der junge Mann mit dem Britpop-Haarschnitt und den bunten Hemden auf sich genommen, um eine Schar halb nackter, rußverschmierter Wilder einzufliegen, die hier heute Abend eine martialische Zeremonie abhalten sollen.

Nervös wuselt er durch das Foyer der Veranstaltungsräume im obersten Stockwerk einer Hochglanz-Mall im Herzen Bang- koks. In einer Ecke der japanisch inspirierten, kulleräugig-süßen Konsumkulisse stapeln sich bereits die Schwerter und Streitäxte. Wer möchte, kann sich mit einem als Wikinger verkleideten Thai-Boxer fotografieren lassen. Teen- ager zücken kichernd ihre Handys, als er unterm Umhang den Waschbrettbauch entblößt – K‐Pop trifft auf Hägar den Schrecklichen.

Nordische Subkultur in Bangkok: K‐Pop trifft auf Hägar den Schrecklichen

Schon seit den frühen Morgenstunden sitzen junge Thais in der schicken Lobby auf dem Teppich und warten, bis sich die Saaleingänge öffnen. Erstaunlich viele tragen germanische Runen als Tätowierungen auf der Haut. Manche haben sich die exotischen Schriftzeichen gleich aufs Gesicht gemalt. Der Kassenwart und Hüter am Eingang trägt Schulterstücke aus Fell und ein Gehörn auf dem Kopf – typische Insignien von Heilung, jener Gruppe, die hier alle sehnlichst sehen wollen.

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Das Kollektiv mit Sitz in Dänemark gibt heute Abend sein allererstes Konzert in Bangkok, oder besser gesagt sein „erstes Ritual in Asien“, wie die von Guythip designten Plakate stolz verkünden. Mit ihren Live-Spektakeln wollen Heilung die Wikinger- und Eisenzeit wiederauferstehen lassen. Zu hypnotischen Klängen tanzt sich die als Schamanen- und Kriegerschar herausgeputzte Truppe in eine Trance, die auch auf die Zuschauer übergehen soll. Dabei tragen sie Geweihe und historische Trachten, blasen in hoch aufragende Bronzetrompeten, dreschen auf Tierhäute ein und stoßen Speere in die von Stroboskopblitzen durchzuckte Luft. Sie nennen das „Amplified History“. Die Texte, die teilweise in ausgestorbenem Altnordisch verfasst sind, handeln von Sexualmagie, von vorzivilisatorischen Schlachten und einer von Göttern und Geistern beseelten Natur. Ihre düster dräuende Weltmusik, für die sich der Genrebegriff „Nordic Ritual Folk“ eingebürgert hat, hat in Europa und den USA einen neuheidnischen Trend losgetreten. Sogar in die Top Ten der deutschen und österreichischen Album-Charts schafften es Heilung und Wardruna, die anderen großen Helden der Szene.

Archaisches Spektakel: Kai Uwe Faust und Maria Franz von Heilung

Einar Selvik, der Kopf hinter Letzteren, erklärte in einem Interview, dass alles darauf hindeutet, dass sich der Heidenlärm langsam zum globalen Phänomen entwickelt. „Es ist ein bisschen wie damals, als sich der Westen für Kung Fu begeisterte.“ In Thailand habe es gerade einmal 46 Sekunden gedauert, bis die Karten ausverkauft waren, sagt Guythip, während er sein im Sekundentakt aufleuchtendes Smartphone zurück in die Tasche schiebt. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er ein Konzert organisiert, und dann gleich eines in dieser Größenordnung.Vieles musste bis zur letzten Minute ausgehandelt werden, von einer Sondergenehmigung für den Einsatz von Räucherwerk bis hin zur Beschwichtigung des Venue-Managers, dass es sich um eine Veranstaltung kultureller Tragweite handelt und europäische Frauen mit nackten Oberkörpern nun mal ein unverhandelbarer Teil des Konzepts sind.

„Ich habe drei Tage nicht geschlafen!“, seufzt er und weist den Weg zum Backstageraum, vorbei an meterhohen Bildern des thailändischen Königs Maha Vajiralongkorn. Hier hinten herrscht noch Stille. Die Krieger sind auf Sightseeing-Tour oder bei der Thai-Massage, die Guythip ihnen als guter Gastgeber spendiert hat.Eigentlich ist er Wahrsager, ein in Thailand durchaus angesehener und lukrativer Beruf. Staatsoberhäupter lassen sich hier ebenso selbstverständlich die Zukunft voraussagen wie Hausfrauen und Universitätsstudenten. „Wir Thailänder glauben an Geister und das Übernatürliche“, erklärt Guythip und verweist auf die vielen Miniaturtempel, die vor jedem Neubau errichtet werden, damit die vertriebenen Erdgeister schnell neues Quar- tier beziehen können. „Wir respektieren Buddha und die Hindu-Gottheiten, ebenso die chinesischen Götter und Feng-Shui. Wir können zu allen beten, ohne uns schuldig zu fühlen.“

Veranstalter Guythip Saraswatimonthon vor dem Konzert

Spirituelle Offenheit

Die in Thailands alltäglich gelebtem Animismus wurzelnde spirituelle Offenheit hat im digitalen Zeitalter noch zugenommen. Millionen Thais konsultieren bei Entscheidungen im Beziehungs- und Berufsleben astrologische Online-Angebote von Influencern mit Namen wie Wittykrystal, die teilweise wie Popstars verehrt werden. In dieser Welt der „Mutelu“, der „Magiegläubigen“, wie man sie hier nennt, hat Guythip sich auf ein Gebiet mit Novelty-Faktor spezialisiert: Er benutzt germanische Runen, um seinen Landsleuten das Schicksal vorauszusagen. „Die Runen dienten den Wikingern als Schriftsystem, sie hatten aber auch magische Bedeutung und wurden zur Wahrsagerei genutzt“, erklärt er. Durch ihren Einsatz würden die Thailänder sofort Zugang zur Welt der fremden Götter finden. Sein Geschäftsmodell beinhaltet auch ein Tattoo-Studio namens Veldismagn, wo man sich Symbole wie das namensgebende Schutzzauberzeichen mitsamt Segen in die Haut stechen lassen kann. Neben dem Empfang hat Guythip einen Schrein mit einer goldenen Odin-Statue errichtet, über deren Speer täglich frische Girlanden aus Jasminblüten drapiert werden, eine Respektsbekundung, die hier sonst vor allem Tempelbuddhas zuteil wird.

In Guythips Tattoo-Studio steht ein goldener Odin

Guythip pilgerte selbst schon einige Male in die Heimat von Freya, Odin und Thor, wo er unter anderem den Tempel der Ásatrú in Island besuchte, dem einzigen Land, das diese Religionsgemeinschaft des germanischen Heidentums staatlich anerkennt. Zurück aus Skandinavien entwickelte er sein eigenes Runen-Tarotkarten-Set und begann Schüler in der Kunst ihrer Deutung zu unterrichten. „Guythip hat die Sache für uns interessant gemacht. Er hat einen magischen Touch!“, schwärmt Sukanya Nimitvilai, eine seiner Studentinnen, die wie viele hier einen Thorshammer als Talisman um den Hals trägt. Bis heute hat Guythip etwa zweitausend runengläubige Thais um sich geschart, von denen rund dreißig heute Abend unentgeltlich im Orga-Team mithelfen.

„Ein Grund, warum ich zu den nordischen Göttern bete, ist, dass sie uns Menschen gleichen. Odin musste sich selbst opfern, um die Runen zu empfangen. Ich mag die Idee, dass man sich die Dinge erst verdienen muss“, sagt Sukanya, die als Dozentin am Institut für Englisch und Linguistik an der Ramkhamhaeng University, der größten Hochschule des Landes, arbeitet. Im Zehn-Millionen -Einwohner-Moloch Bangkok erinnern die mit den weiten Wäldern Skandinaviens assoziierten Götter sie zudem daran, wie wichtig es ist, mit der Natur in Kontakt zu bleiben. Zusammen mit Guythip hat Sukanya eine aufwendig gestaltete Broschüre mit dem Titel „Heilung Explained“ übersetzt, die jeder Konzertgast am Saaleingang in die Hand bekommt. Einzelne Titel der Setlist werden darin minutiös erklärt, inklusive mythologischer Querverweise zum Buddhismus und durchaus expliziter Übersetzungen alter Inschriften aus Norwegen: „Lovely is the cunt, may the cock fill it up.“ „Wer die Runen verstehen will, muss auch die Mythen dahinter kennen“, sagt Guythip und verabschiedet sich zum Rest der Crew hinter die Bühne, während immer mehr Besucher zu den Eingängen drängen.

Im Zeichen der Götter: Eine Kundin lässt sich ein nordisches Schutzzeichen mitsamt Segen in die Haut stechen

Etwas mehr als tausend Menschen passen in das Siam Pic-Ganesha Center of Performing Art. Normalerweise finden hier Musicals, Theateraufführungen und Auftritte lokaler Comedians statt. Jetzt wirkt das Foyer jedoch, als würde ein Fantasy-Blockbuster Premiere feiern. Vor einer weißen Fotowand posieren Gäste in Leinentracht und Kopfschmuck. Vor allem Geweihe ragen von den Köpfen, drapiert mit Plastikblumen, Farn und Glitzer. Wer selbst nichts mitgebracht hat, kann sich für das Selfie Umhänge und Schilde leihen. Eine junge Frau hat sich mit schneeweißem Kleid und Blondhaarperücke offensichtlich von der Drachenmutter aus „Game Of Thrones“ inspirieren lassen. Während das Publikum einer Heilung-Show im Westen dem eines Metal-Konzerts ähnelt – schwarz gewandet, langhaarig und tätowiert –, sind die Menschen hier in Alter und Aufmachung verblüffend breit gefächert. Junge Familien haben ihre Kinder mitgebracht, die auch ein bisschen Kriegsbemalung ins Gesicht bekommen. Eine Gruppe älterer Damen trägt ihre ledernen Häuptlingsgewänder mit matriarchaler Würde. Selbst die Männer in Kriegerkluft wirken eher geschmeidig als machohaft. Der Wotan-Clan im fernen Asien versucht sich gar nicht erst an historisch akkuratem Reenactment.

Zuschauer des ersten „Heilung-Rituals“ in Asien

Niemand käme auf die Idee, sich einen Deko-Buddha irgendwo hinzustellen

„Auch was wir machen, ist ja nur eine Interpretation“, sagt Kai Uwe Faust, der aus Hessen stammende Sänger und konzeptuelle Vordenker von Heilung. Er hat sich vor dem Auftritt unter die Menge gemischt und sich zum Spaß einen Plastik- Wikingerhelm aus der Foto-Op aufgesetzt. „Unsere Musik und unser Ritual sollen vielmehr eine Idee davon vermitteln, was unsere Vorfahren getan haben könnten.“ Schon seit der frühen Steinzeit seien Menschen gereist, hätten Dinge fremder Kulturen angenommen und neu interpretiert. „In Wikingergräbern fand man Münzen aus dem Nahen Osten, Kleider aus chinesischer Seide und sogar eine asiatische Buddhafigur aus dem 6. Jahrhundert, die über Handelsrouten ins heutige Schweden gelangte.“

Umgekehrt hat der Westen erst in geschichtlich jüngster Zeit aus Heiligtümern Asiens Wellness-Devotionalien gemacht. Sich einen Buddha als Deko ins Regal zu stellen, wie es in Europa fast jedes zweite Yoga-Studio tut, käme im buddhistischen Thailand einem Frevel gleich. Abseits religiöser und königlicher Symbole werden Diskussionen über kulturelle Aneignung jedoch kaum scharf geführt. Wenn „Farangs“, weiße Ausländer im Sarong, über die Strände flanieren, sorgt das meist nur für ein Lächeln. Thailand, „das Land der Freien“, entging als einziges in Südostasien der formalen Kolonialherrschaft durch die Westmächte. Vielleicht erklärt auch das die arglosere Neugier im Umgang mit dem Fremden.

Von den Köpfen der Gäste ragen selbstgebastelte Geweihe

Als Guythip um Punkt acht auf die Bühne schreitet, sind die Trommeln und Requisiten um ihn herum mit Blättern eines Bodhibaums dekoriert. Unter so einem Baum soll Buddha einst zur Erleuchtung gefunden haben. Mit maßgeschneidertem Cape und knorpeligem Holzzepter steht Guythip am Mikrofon und wirkt selbst wie ein Hüter heiligen Wissens. Noch einmal spricht er über die Götter und die magischen Texte von Heilung, von denen er einige akzentfrei rezitieren kann. „Wenn euch das Gefühl überkommt zu tanzen, tut es! Kümmert euch nicht darum, was andere von euch denken!“, sagt er mit Nachdruck zu den Zuschauern, die sichtlich gespannt vornübergebeugt auf den Rängen sitzen. Expats und Touristen, die sonst bei Auftritten westlicher Bands in Asien einen nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums ausmachen, fehlen fast völlig. Neben der Crew haben nur noch zwei Deutsche in der letzten Reihe Platz genommen, Langzeitfans von Heilung, die das Konzert mit einem Thailand-Urlaub verbinden. Einer verteilt Schweizer Rachenbonbons. „Wenn das hier mit dem Räuchern losgeht, fangen alle an zu husten, wirst schon sehen.“

Dann kündigt Guythip eine Überraschung an und verschwindet im aufsteigenden Nebel. Als kurz darauf der erste Trommelschlag einsetzt, kommen keine Barbaren auf die Bühne, sondern paradiesvogelbunte Gestalten mit konischen Kopfbedeckungen. Die künstlichen Fingernägel sind struwwelpeterlang, die Bewegungen grazil, würdevoll, hypnotisch. Es sind Menora, magische Trance-Tänzer, die Guythip extra aus dem Süden Thailands eingeladen hat. Mit ihrer jahrhundertealten Choreografie, die 2021 zum UNESCO-Kulturerbe erklärt wurde, wollen auch sie die Brücke zur Ahnenwelt schlagen. Die Trance sei ein kulturübergreifendes „Herzstück“ aller schamanischen Traditionen, schreibt der US-amerikanische Anthropologe Michael Harner, auf dessen Theorie des „Core-Schamanismus“ sich Heilung beziehen. Alle Menschen reagieren demnach auf dieselben spirituellen Trigger, die uns in Tausenden Jahren neurophysiologisch einprogrammiert wurden, etwa rhythmische Trommelklänge oder auch psychedelische Drogen.

„Unsere ursprüngliche Spiritualität hat durch das Christentum einen herben Cut erfahren“, sagt Heilungs Neo-Schamane Faust, auf dessen Vision eines wiederbelebten europäischen Animismus auch der Bandname anspielt. „Es ist für uns wunderschön, hier in Thailand eine Spiritualität zu erfahren, die mehr oder weniger unbeschnitten gewachsen ist!“ Wie vor jedem Auftritt trägt er auch heute Abend ein selbst verfasstes Gedicht vor: „Remember that we all are brothers, all people and beasts and trees and stone and wind …“

Kulturelle Fusion: Heilung-Sängerin Maria Franz (r.) und ein Menora-Tänzer in andachtsvoller Stille

Nach der feingliedrigen Performance der Menora wirkt der Auftritt von Heilung jedoch geradezu brachial. Stampfende Rhythmen, tiefes Dröhnen, bedrohliche Gesten. Verdauliche Folklore ist das nicht, eher hartgefrorenes Brot aus dem Permafrost, das schwer in die Magengrube fährt. Trotzdem kommt Bewegung ins Publikum. Einige nutzen die Gelegenheit für ein bisschen archaische Ekstase und tanzen haareschüttelnd in den Gängen. Anderen stehen die Augen weit offen, und vermutlich auch der Mund, was man aber nicht sehen kann, da die meisten noch immer Corona-Masken tragen, obwohl die Maskenpflicht schon seit Langem gefallen ist. Der Gast aus dem Westen wird selbstreflexiv: Finden die Thais dieses Spektakel faszinierend, weil sie hier einem Archetyp des kriegerischen Europäers begegnen? „Ich weiß, dass diese Musik bei euch mit Satanismus und anderen dunklen Dingen in Verbindung gebracht wird“, hatte Guythip erklärt. Auch dass die Nazis seine geliebten Runen zweckentfremdeten und deren Image nachhaltig schädigten, ist ihm bewusst. Mehr darüber sprechen möchte er nicht. Er hat seine eigenen Ideen, seine eigene Faszination, die sich nicht an unseren Standards misst.

Der Runen-Visionär: Guythip Saraswatimonthon auf der Bühne

Nach dem Konzert geht er noch einmal auf die Bühne, um sich unter rasendem Applaus zu verbeugen. Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Alles hat geklappt, die Menschen haben getanzt. Einige im Publikum werden vielleicht schon bald seine neuen Schüler sein und ihn eventuell sogar auf einer seiner nächsten Pilgerfahrten nach Europa begleiten. Eine junge Heidin aus seinem inneren Kreis hat erst kürzlich einen Platz an der Universität von Island ergattert, wo sie einen Master in Nordischer Mythologie machen will. Dort an der Quelle wird sie sich dann mit der europäischen Herangehensweise kultureller Selbsterforschung arrangieren müssen – weniger Gebet, mehr Literaturanalyse. Aber so ist das eben: Weil alles im Fluss, in Bewegung ist, lässt sich keine Kultur je vollständig verstehen, solange sie noch am Leben ist.

Aurélien Foucault · Aurélien Foucault ·
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Aurélien Foucault · Aurélien Foucault ·
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