Unfrieds Urteil: Ein grüner Bundespräsident – was Van der Bellen jetzt tun muss

Österreich hat den grünen Europäer Van der Bellen zum Bundespräsidenten gewählt und nicht den nationalistischen Rechtspopulisten. Aber nur hauchdünn. Was folgt daraus für Deutschland, die Volksparteien und die Grünen?

Auf den Straßen kann man am besten erleben wie „die Leute“, also wir, drauf sind.

Kommen sich zwei entgegen, ob nun mit Auto oder Fahrrad oder zu Fuß und die Straße verengt sich, passiert es ganz selten, dass einer den anderen vor lässt und durch winkt. Meist schaut jeder, dass er zuerst durch den Engpass kommt. Faktisch bringt das überhaupt nichts, es sind zehn Sekunden Leben – so oder so. Es geht um die Haltung, die dahintersteht. Ich zuerst. Oft wird sie genährt oder gerechtfertigt von dem Gefühl, dass alle anderen bevorteilt sind und zudem rücksichtslos ihren Vorteil suchen und man selbst zu kurz kommt, weil einem keiner hilft und man ja eben nicht rücksichtslos ist. Eigentlich. Weshalb man auch rücksichtslos sein muss. Selbst wenn es real keinen Vorteil bringt, geht es psychologisch darum, mit dem nagenden Gefühl umzugehen, der Blöde zu sein. Blöd fühlt man sich in der Wirklichkeit der Straße, wenn man sozial handelt. Asozialität ist demnach Notwehr.

Es geht nicht mehr um die Veränderung der (Verkehrs)Politik, darauf kann man als Fahrradfahrer auch kaum hoffen. Es geht um Eskalation der Lage, um sich für einen kleinen Moment selbst in seiner Verbitterung spüren zu können.

Dieses Gefühl ist die Pest der Gegenwart.

Manche lassen es nur auf dem Fahrrad raus und sehen ansonsten die Lage tendenziell positiv. Dabei hilft es, ordentlich beschäftigt zu sein und ordentlich zu verdienen. Andere aber sehen sich von der Realität und der Politik grundsätzlich benachteiligt und haben das Gefühl der Verbitterung 24/7. In Europa werden das zunehmend mehr.

Die Wahl einer rechtspopulistischen Partei, EU-feindlich, nationalistisch und anti-offen, erfolgt aus unterschiedlichen Gründen. Menschenhass wäre ein Grund, der keinen Spielraum für Dialog lässt. Interessanter sind die Wähler der AfD und des österreichischen FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer, die dieses Gefühl der strukturellen Benachteiligung nicht schon immer, aber zunehmend umtreibt. Die sich von den Volksparteien und speziell den Sozialdemokraten verlassen fühlen und letztlich sogar verhöhnt. Die wirkliche Struktur und die Projektionen verschwimmen zu einem großen Anti-Gefühl, so wie im Straßenverkehr auch. Jenseits der Frage, was eine rechtspopulistische Partei wirklich für sie tun kann, ist so eine Wahl zunächst ein Moment, in dem man sich spüren kann. Was tun? Manche sagen, wie der Wiener Schriftsteller Robert Menasse, er könne es nicht mehr hören, dass man „die Sorgen und Nöte“ dieser Leute Ernst nehmen müsse.

Das seien „Faschisten oder Idioten. Basta.“ Man solle die Sorgen und Nöte der weltoffenen Menschen Ernst nehmen, die sich gegen die Idioten wehren. Aber die beste Art, autoritäre, nationalistische, illusionistische Parteien in einer Demokratie zu bekämpfen, ist ihnen Wähler wieder wegzunehmen. Dafür muss man sich an die wenden, die ansprechbar sind.

Rechte Wähler glauben, das „System“ habe sich gegen sie verschworen

 Nun haben sich in Österreich – wie das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl zeigt – zwei praktisch gleichgroße gesellschaftliche Gruppen formiert: Beide überzeugt, dass die jeweils andere und ihr Kandidat das Problem sind. Es geht nicht um das gemeinsame Richtige. Es geht darum, das Falsche der anderen zu verhindern. Die Hälfte der Wähler des neuen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen wollte nur den nationalen Rechtspopulisten verhindern, ein Drittel der Hofer-Wähler wollte den ökoliberalen Europäer verhindern. Dass es etwas perspektivisch „Richtiges“ für eine – noch dazu europäische – Gesellschaft geben könnte, dafür lässt sich weder im klassisch rechten noch in klassisch linken Milieus mobilisieren.

Aus Sicht vieler Hofer-Wähler sind die Van-der-Bellen-Wähler die Autofahrer, also Städter, die alles haben, alles kriegen, alles besser wissen. Der eine FPÖ-Attraktionskern besteht darin, dass das „System“ sich gegen einen selbst verschworen hat. Der andere Attraktionskern Ausländerfeindlichkeit bedient das Gefühl, dass selbst noch für „andere“ mehr getan werde, die es „nicht verdient haben“ – und denen es gefälligst schlechter als einem selbst zu gehen hat. In der Analogie gesprochen: Man hetzt die Fahrradfahrer auf die Fußgänger, womit der Kern des Problems aus dem Blick ist, die riesigen Autostraßen. Das meint nicht nur Wohlstandsgefährdung durch das irre Finanzsystem und das Ende der Industriegesellschaft, sondern Klimawandel, Digitalisierung, Verlustbedrohung von Freiheit und sozialen Errungenschaften. Diese komplexen Probleme sind alle nicht national zu lösen. Sie werden aber nicht nur von den Rechtspopulisten geleugnet, sondern von den Volksparteien weitgehend auch verdrängt.

Aus Sicht vieler Van-der-Bellen-Wähler sind die Hofer-Wähler moralisch abzulehnende Subjekte, mit denen man nichts gemein haben kann. Sie zu bekämpfen, ist für sie ein Grund, sich aus ihrem individualistischen Lebensstil heraus zu engagieren – und sich auch als Teil von etwas zu spüren.

Immerhin. Aber für etwas – das einem zukünftigen guten Ganzen dient –hat man sie bisher auch nicht auf die Straße gebracht. Der moralische Unterschied ist längst nicht so gewaltig, wie sie das gerne hätten.

Die Wahl in Österreich ist ein Donnerschlag auch für Deutschland

Make no mistake: Es ist hochproblematisch für eine Gesellschaft, wenn 49,7 Prozent einen Rechtspopulisten wählen. Aber auch die 50,3 Prozent für den Grünen sind ein Gong, der den Traditionsparteien sagen müsste, dass sie sich wirklich transformieren müssen. Und das ist der zweite Donnerschlag nach dem Wahlsieg in Baden-Württemberg, der den Grünen sagt, dass die Misere für sie eine Chance ist.

Van der Bellen hatte im ersten Wahlgang so viele Stimmen wie die beiden Regierungspartei-Kandidaten von SPÖ und ÖVP zusammen. Im zweiten gewann er als Vertreter der offenen Gesellschaft eine knappe, aber doch absolute Mehrheit. Weil er eben nicht das tat, was Grüne schon immer gern getan haben. Nämlich aus dem Gefühl ethischer Überlegenheit heraus den Riss in der Gesellschaft zu betonen und zu vertiefen. Sondern weil er da schon mit moderatem Ton eine Mehrheitsgesellschaft ansprechen wollte – und musste.

Es ist hart, aber die Aufgabe des neuen Bundespräsidenten besteht jetzt darin, allem Verschwörungsgerede der Hofer-Wähler und der rechten Funktionäre zum Trotz im Sinne des Berliner Soziologen Heinz Bude ein „reparatives Sprechen“ zu finden, mit dem er nicht nur seiner formalen Funktion als Bundespräsident gerecht wird, das „Ganze“ zu repräsentieren. Sondern mit dem er tatsächlich weitere Teile der auseinanderstrebenden Gesellschaft neu zusammenklebt.

Man kann es durchaus als Grünen-pädagogische Hinterlist der Geschichte sehen, dass Van der Bellen nach dem Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann der zweite Grüne ist, der die „Idee kollektiver Handlungsfähigkeit“ (Bude) symbolisieren und wiederbeleben muss.

Er hat den Reparierversuch in seiner Antrittsrede angekündigt, und das war erst einmal wichtig.

Aber bei dieser vor allem auf dem Land fortgeschrittenen hegemonialen Rechts-Entwicklung wird das nicht ohne eine modernisierte Regierungspolitik funktionieren.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de.

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