Unfrieds Urteil: Nach dem Terror von Paris – Die Lage ist beschissen

Wir kämpfen nicht für „unsere Werte“ gegen die Werte anderer. Eine offene Gesellschaft bedeutet die friedliche Ko-Existenz der Lebensstile, Religionen und Kulturen. Davon sind wir weit entfernt. Und Verantwortung durch Raushalten funktioniert nicht mehr.

Ich rief Daniel Cohn-Bendit in Paris an und fragte ihn, wie er die Lage sieht.
„Beschissen“, sagte Cohn-Bendit. „Ich sehe die Lage beschissen.“
Der Held der Studierendenrevolte von 1968 und bekannteste EU-Politiker hatte am Vorabend mit jungen Parisern über den Terrorangriff auf ihre Stadt diskutiert.
Danach stieg er in ein Taxi, worauf der Taxifahrer zu ihm sagte: „Danke, dass Sie mit mir fahren“.
– „Wieso nicht?“, fragte Cohn-Bendit.
Fünf andere seien zuvor wieder ausgestiegen, sagte der Taxifahrer. Er sei Muslim.
Sie wollen, dass wir hassen. Dass wir auch hassen. Dass wir auch blind hassen. Das ist die Strategie des IS. Aus Angst soll Hass entstehen. Hass auf Muslime, Hass auf Flüchtlinge. Das soll das Gift sein, das eine offene Gesellschaft spaltet.

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Darum ist es so wichtig, nicht zu hassen. Und auch nicht zuzulassen, dass die Lobbies Erfolg haben, die nun den Schock von Paris nutzen, um mit einer pathetischen Inflation und Verknüpfung der Begriffe „Freiheit“ und „Sicherheit“ und „westliche Werte“ ihre Partikularinteressen durchzusetzen – seien es Geheimdienste, globale Unternehmen, Ideologien, Parteien. Besonders bemerkenswert sind die kalten Krieger der „FAZ“, die den Terror von Paris nutzen, um aus den Schützengräben heraus Angela Merkels Flüchtlingspolitik als naives Gutmenschentum hinzustellen. Als ob eine internationale Terror-Organisation sich von „geschlossenen“ Grenzen abhalten ließe oder über die Balkanroute und Passau ins Land kommt.
Wer westliche Werte verteidigen will, der muss erst mal wissen, was westliche Werte im 21. Jahrhundert sein sollen. Das ist jetzt noch nicht oder kaum zu diskutieren, im Angesicht von 130 ermordeten Menschen, von Verstümmelten, von trauernden Angehörigen, einer traumatisierten Stadt Paris, einem Frankreich im Ausnahmezustand und Millionen Menschen weltweit in Angst.

Wovon wir in diesem Moment des emotionalen Ausnahmezustandes sprechen, ist erst einmal ein Lebensgefühl. „Jung, hedonistisch, offen, kosmopolitisch“, beschrieb die französische Zeitung „Liberation“ dieses Gefühl der „Generation Bataclan“. Also der jungen Pariser, von denen 80 in der Samstagnacht im Musikclub Bataclan beim Konzert der Eagles Of Death Metal Spaß haben wollten – und mit Sturmgewehren getötet wurden. Aber eben nicht in erster Linie, weil sie Rockmusik hören, Alkohol trinken, Sex haben, sondern weil es den Angreifern darum geht, Angst und Hass zu erzeugen, damit diese Art von offener Gesellschaft sich selbst angreift und in ethnische, religiöse, ideologische Atome zerfällt. Das ist die Strategie des sogenannten Islamischen Staats.
Die zweite Strategie ist die grauenhafte Logik in der Weltmediengesellschaft, wie sie ist. Die Menschen in Paris wurden ermordet, weil ihre Ermordung an diesem Freitagabend eine maximale Einschaltquote brachte. Ob die Toten Rockfans sind, Christen, Juden, Arme, Reiche, ist zweitrangig. Es geht nicht einmal um Franzosen. Sie töten, was sie kriegen. Auch Muslime. Hauptsache, viele.
Auch wenn man den Falken nicht das Wort reden darf, so wird man nicht drumherum kommen, den IS militärisch zu schwächen und zu zerschlagen. Das ist aber kein „Weltkrieg“ („FAZ“). Es handelt sich um Verbrecher, um Mörder, so wie es sich auch bei der RAF, bei Baader und auch Meinhof um Verbrecher handelte. Staaten schützen ihre Bürger, indem sie Mörder „der Gerechtigkeit zuführen“, wie Obama das völlig richtig nennt. Dazu muss man jetzt nicht die Verteidigung der Freiheit in den Städten des Westens ausrufen. Oder gar das Kriegsrecht. Überhaupt werden die Angriffe doch schon seit Monaten geflogen.

Mit Yogamatten stoppt man keine Terroristen

Wie es sich derzeit darstellt, ist auch eine Verbesserung der Situation in den Kriegsgebieten des Nahen Ostens und eine globale Ko-Existenz mit dem IS nicht zu machen. Es gibt auch nichts, worauf man sich mit dem IS einigen könnte. Der IS macht solange weiter, wie man ihn lässt. Und da muss man Grünen-Chef Cem Özdemir auch mal Recht geben: Mit Yogamatten kann man ihn nicht stoppen. Mit einer internationalen Allianz schon, die Anrainerstaaten und Russen beinhaltet. Und Deutschland? Meine These ist: Die deutsche Außenpolitik kann nicht mehr auf Basis von Verantwortung durch Raushalten gemacht werden. Das funktioniert sowenig, wie man seine Kinder durch vornehmes Raushalten aus ihrer Erziehung zu moralisch handlungsfähigen Menschen machen kann. Es gibt Punkte, wo Raushalten unmoralisch ist und schädlich, und der Verweis auf die eigene Geschichte überhaupt nichts mehr hilft.

Ob Schießen künftig ein deutscher und europäischer Wert ist, auch angesichts der Verheerungen, die das im Nahen Osten ausgelöst hat, und wenn, dann ohne Waterboarding, Geheimgefängnisse usw. – das wird eine harte, konfrontative, aber nötige Diskussion. Und da fängt es erst an. Wie ist es mit Flüchtlinge verrecken lassen? Wie ist das mit der Bewahrung unseres Wohlstandes – gegen die Interessen der Nicht-Privilegierten? Deutschland ist eine Gesellschaft mit großen emanzipativen Errungenschaften in verschiedensten Bereichen. Aber das hängt eben nicht nur mit Goethe und den Grünen zusammen, sondern auch mit Daimler-Benz und VW. Diese Konzerne haben viele gute Leben ermöglicht, aber der eine ist auch ein Rüstungskonzern, der andere hat die Welt betrogen. Tja. Sind das auch westliche Werte?

Wie wollen und wie können wir handeln, um global miteinander oder zumindest nebeneinander existieren und die transnationalen Entwicklungen in den Griff bekommen zu können? Das meint nicht nur den Irrsinn und Terror des sogenannten Islamischen Staats. Es meint den Klimawandel, die Armut, den Hunger, die digitale Totalitarismusgefahr, die in vielerlei Hinsicht verheerenden Auswirkungen der fossilen Energien und als Kehrseite unseres Wohlstandes die Chancenlosigkeit vieler Menschen, von denen manche in den Fundamentalismus abdriften und viele davor flüchten.

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Fast alles ist miteinander verknüpft. Das zu erörtern, gehört zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der globalen Situation nach dem Terror von Paris. Zunächst mal ist wichtig: Wir kämpfen nicht für „unsere“ Werte. Erstens kann man Werte nicht leben, nur dafür sterben. Zweitens gibt es keinen ethisch-kulturellen Zwangskanon, das ist doch der Witz an einer offenen und freien Gesellschaft. Wir kämpfen für ein friedliches Nebeneinander der Lebensstile, Religionen und Kulturen. Mit Waffen. Das ist ein Widerspruch in sich, aber so ist die Welt. Die Lage ist beschissen.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

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