Unfrieds Urteil: Schaffen wir’s oder schaffen wir’s nicht – Angela Merkels Flüchtlingsthese, Boris Palmers Gegenthese, doch was ist die Synthese?

Wir schaffen das, sagt Kanzlerin Merkel (CDU). Wir schaffen das nicht, antwortet ihr der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Was er meint: Wir schaffen es nicht, wenn wir einfach nur sagen, dass wir es schaffen. Ohne zu definieren, was genau.

Es wird der Satz sein, der von den Regierungsjahren der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bleiben wird: „Wir schaffen das“. Ihr Motto im Umgang mit dem Beginn einer Völkerwanderung Richtung Europa und speziell Deutschland. Dem entgegengestellt wird der Satz: Wir schaffen das nicht. Das haben mittlerweile schon einige gesagt, aber bei keinem war die Aufregung so groß wie beim Tübinger Oberbürgermeister Boris Erasmus Palmer.

Das liegt selbstverständlich daran, dass Palmer, 43, ein Grüner ist oder genauer gesagt: zu der Handvoll herausragender Grüner zählt. Die CDU-Kanzlerin pro Humanitas, der Grüne kontra? Wie immer wird gnadenlos ignoriert, dass die alten Orientierungsplanken – hier CDU, dort Grüne – nicht mehr funktionieren.

Denkt in hegelianischen Kategorien: Boris Palmer (Grüne)
Denkt in hegelianischen Kategorien: Boris Palmer (Grüne)

Es wird auch ignoriert, dass Palmer weder zu seiner Partei sprach, noch für seine Partei. Er spricht als Kommunalpolitiker zur Bundesregierung. Aber wer hat schon Zeit, genau zuzuhören? Entsprechend war das Echo in der eigenen Partei. Palmer wurde als eine Art gefährlicher Einzeltäter stigmatisiert, der den angeordneten Pep-Talk verweigert und damit den rechten Kräften zuarbeitet, die die Leute entmutigen wollen.

Die Gefahr ist da, die Instrumentalisierung erfolgte umgehend

Auch in diesem Fall wird mal wieder nicht über das diskutiert, was zu tun ist, sondern über das, was gesagt werden darf. Und was nicht gesagt werden darf. Begründung: Weil man damit Ängste erzeugt oder schürt, die kontraproduktiv sind und den Falschen (AfD, CSU, Orban) in die Hände spielen. Die Gefahr ist da, die Instrumentalisierung erfolgte umgehend. Gleichzeitig versteckt sich dahinter aber ein paternalistischer Gedanke. Nämlich, dass man mit den Leuten, also uns, am besten gar nicht spricht, wenn es ernst wird, weil das eh nur schiefgehen kann. Man kann aber auch sagen: Es geht genau dann schief, wenn man nicht ernsthaft mit der Gesellschaft spricht.

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Merkel hat eine Motivation und eine Grundstimmung formuliert. Wie Obama damals im Wahlkampf. Wie ein Fußballtrainer vor der Partie. Ist richtig und muss man machen. Aber darüber hinaus braucht es eine Vision, eine Strategie und eine Taktik. Was will man erreichen und wie will man es erreichen? Der Kommunalpolitiker Palmer arbeitet täglich vor Ort daran, Flüchtlingen zu helfen und kämpft dabei mit den ganzen administrativen Problemen, die sich stellen. Auch, weil die Bundesregierung die Entwicklung sehr lange ignoriert hatte.

Und deshalb hat er gegen die These Merkels die Gegenthese gestellt: Dass wir es nicht schaffen.
Der Punkt ist: Er tut es nicht um Recht zu behalten, sondern um Unrecht zu behalten. Mit der Formulierung der Gegenthese soll ein positiver Denkprozess in Gang gesetzt werden, der zu einer wirklichen Lösung führt, der Synthese. Das ist für ihn Hegel. Er sieht es so, dass die Engagierten vor Ort entmutigt werden, wenn die These nicht inhaltlich weiterentwickelt wird. Wenn zwei entscheidende Fragen nicht beantwortet werden: Was schaffen wir genau und wie schaffen wir es genau?

Seehofer spielt in einer eigenen Schizophrenie-Liga

Derzeit kommen 10.000 Flüchtlinge täglich. Da braucht man keinen studierten Mathematiker wie Palmer, um die Grenzen der derzeitigen Struktur zu sehen. Daher will er konkret wissen: Geht es um Hilfe in großer Not auf Grundlage des Notunterkunftsprinzips, auch mit Zeltstädten oder schnell zusammen gehämmerten Ghettos – oder geht es um Zuwanderung, menschenwürdige Unterbringung in Wohnungen, gute Betreuung, schnelle Integration? Oder irgendetwas dazwischen. Er will keine „feste Obergrenze“ haben, wie man ihm unterstellt. Man kann sehr viele aufnehmen, aber dann muss der Bund entsprechend mehr Mittel für den Bau von Wohnungen und Unterkünften bereitstellen und die Baugesetze entsprechend ändern. Und man kann entsprechend weniger für jeden einzelnen Flüchtling tun.

Schaffen-wir-das-01.jpgDie nächste Frage lautet: Ob nicht auch die Bürger wissen sollten, was die jeweiligen Varianten des Wir-schaffen-das für sie selbst bedeuten. Nicht um die diffusen Ängste zu schüren, sondern um sie zu entkräften oder um eine Klarheit zu bringen, auf deren Grundlage demokratische Entscheidungen fallen können.

Faktisch haben wir im Moment zwei parallele Entwicklungen: Zum einen läuft es besser, als man hätte fürchten können. Eine engagierte Teilgesellschaft will den Ankommenden helfen und tut viel dafür. Zum anderen haben wir die übliche Stimmungsdemokratie, eine diffuse Befindlichkeits- und Argwohn-Struktur, in der diejenigen profitieren, die einfache, nationale Lösungen für komplizierte globale Probleme propagieren. Also etwas, das es nicht gibt. Dass die Union sich ihre große Leistung selbst schlechtredet, ist in dieser Hinsicht der größte Stimmungskiller. CSU-Chef Horst Seehofer spielt sicher in einer eigenen Schizophrenie-Liga, wenn er gleichzeitig das Wir-schaffen-das vor Ort engagiert voranbringt und verbal noch engagierter desavouiert.

„Entdramatisierung“ ist das Gebot der Stunde

Aber auch andere kochen ihr eigenes Süppchen. Die einen versteifen sich auf grundsätzliche Asylrechtsfragen und offene Grenzen (links), die anderen auf grundsätzliche kulturelle Verlustsorgen (rechts); beides jenseits der realen Problemlage. Die sich dynamisierende globale Flüchtlingsentwicklung ist mit Asylrecht nicht zu managen. Und diejenigen, die sich am meisten vor Kulturverlust sorgen, haben ja selbst in dieser Hinsicht kaum etwas zu verlieren. Und viele Politiker können sich gar nicht mehr vorstellen, dass es nicht um 1 oder 2 Prozent Umfragenzuwachs geht, sondern um die Gestaltung der nächsten Jahre.

Meine These lautet: Wir reden zu viel über das Falsche, immer zu aufgeregt, zu absolut, zu voreingenommen und ohne – wie der Fall Palmer zeigt – so genau zuzuhören, dass die notwendige differenzierte Diskussion in Gang kommt. Vielleicht, das ist die Position des Kursbuch-Herausgebers Armin Nassehi, ist ein wichtiger Strategiewechsel die „Entdramatisierung“. Das gilt für alle politischen und sonstigen Sprecher: Nicht immer gleich so tun, als gehe das Abendland unter, Deutschland und wahlweise seine Wirtschaft oder seine Moral. Aber dafür über das Richtige reden.

Solange die Lage in Syrien, im Irak, in Afghanistan sich nicht positiv ändert, werden Flüchtlinge kommen, das betrifft auch die in der Türkei, im Libanon, in Libyen gestrandeten. Und solange Nordamerika nicht hilft, wird der einzige Weg Richtung Europa führen. Und solange in der EU nicht solidarischer verteilt wird, wird Deutschland sehr viele aufnehmen.

Wir müssen darüber sprechen, wie WIR es angehen!

Das heißt: Merkel muss geopolitisch agieren, um diesen Rahmen positiv zu beeinflussen. Das kann kein super humanistisches Projekt sein, sondern wird auch eine dunkle Seite haben. Aber es ist essentiell, dass sie das unter der Prämisse tut, es schaffen zu wollen.

Was deutsche Politik und Gesellschaft angeht, die es schaffen will, so hat Palmer im Kern Recht:
Wir müssen darüber sprechen, wie WIR es angehen. Selbst Helmut Kohl hatte einen Zehnpunkteplan für die Einheit. Also: Nicht nur die Positivoption beschwören oder empört den Negativdiskurs der Rechten ablehnen, aber dadurch mitführen, sondern leiser und dafür ernsthaft klären: Was wir schaffen wollen, was wir schaffen können und wie wir es schaffen.

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

Inga Kjer picture alliance / dpa
Jens Wolf picture alliance / dpa
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