Van Morrison

1968 war das „Boston Tea Party“ die erste Adresse für Rockbands. Meine Band, die Hallucinations, probte in dem Club, wann immer er zur Verfügung stand. Wir hatten alle das Kunststudium abgebrochen, schworen auf R&B und Chicago-Blues und spielten eine sehr ruppige, ungehobelte Musik mit viel attitude. Einmal waren wir gerade beim Proben, bereiteten uns auf einen Auftritt im Vorprogramm des großen Howlin‘ Wolf vor, als ich einen Fremden in der Tür stehen sah. Ich hatte keine Ahnung, wer das war und was er wollte, also ging ich rüber und sprach ihn an. In breitem irischem Akzent fragte er, wo man denn in Boston spielen könne.

Als mir aufging, wer da in der Tür stand, war ich erstens ganz aufgeregt und zweitens perplex. Aufgeregt, weil ich Vans Musik von seinem Chartdebüt mit der Band Them kannte und bewunderte. Perplex, weil der Junge so verloren wirkte. Er hatte es trotz seines jüngsten Top-40-Erfolgs mit „Brown Eyed Girl“ nicht leicht, sich als Solokünstler zu etablieren, aber das war ja kein Grund, so schlecht drauf zu sein.

Van lebte in einer winzigen Wohnung im Erdgeschoss eines alten Hauses in der Green Street in Cambridge. Er, seine Frau und ihr kleiner Sohn. Sie waren völlig pleite. Die Wohnung wirkte trist, kahl, sie hatten nur eine Matratze auf dem Boden, einen Kühlschrank, eine akustische Gitarre und ein Tonbandgerät Er lebte im Exil, hatte eine Familie zu ernähren, kein Geld, keine Band, keinen Plattenvertrag und keine konkreten Aussichten auf einen legalen Ausweg aus der Misere. Warum er überhaupt nach Boston gekommen war, blieb mir ein Rätsel.

Immer wenn Van aus beruflichen Gründen telefonieren musste, lief er einige Blocks weit zu mir. Ich glaube, für ihn war das immer auch eine kleine Flucht aus seinem problembeladenen Leben. Stundenlang stöberte er in meiner Plattensammlung. Immer wieder lauschten wir „dem Gospel“, wie er es nannte, von Jackie Wilson, Hank Williams, Louis Jordan, Billy Stewart, Elvis und John Lee Hooker. „Das sind die wahren Könner“, sagte Van. Gene Chandlers Liveversion von „Rainbow ’65“ legte er so oft auf, dass ich eine neue Nadel für meinen Plattenspieler kaufen musste.

Wir schauten uns alle möglichen Clubs an, Abend für Abend, aber kaum jemand kannte Van. Manchmal kam er zu den Gigs meiner Band. Einmal, als wir das Intro zu seinem Song „Gloria“ spielten, rief ich ihn auf die Bühne. Er zierte sich, aber dann kam er und legte einen brillanten Scat hin. Leider gefiel es dem Publikum gar nicht, dass da so ein „unbekannter“ Sänger einen vertrauten Song einfach abwandelte.

Schließlich bekam Van eine akustische Zweimannband zusammen und organisierte sich einen Termin in einem Jazzclub. Er lag drei Stockwerke unter einem Billardsalon, war feucht und dunkel. Der Name des Ladens passte: „The Catacombs“. Was er dann an diesem Abend spielte, war der Songzyklus, aus dem das bahnbrechende Album „Astral Weeks“ werden sollte. Nur eine Handvoll Leute hörten zu, aber nach dem letzten Song war wohl allen klar, dass sie gerade etwas ganz Besonderes miterlebt hatten.

Letzten Sommer stand ich am Bühnenrand und sah Van vor mehreren tausend Fans spielen. Mit derselben urwüchsigen Kraft und Leidenschaft, die er vor über 30 Jahren in den lang vergessenen „Catacombs“ demonstriert hatte. Einmal mehr bewunderte ich seine mysteriöse Gabe, alles Chaos zu transzendieren, alle Verzweiflung, die ihn so leicht hätte lähmen können. Er wurde ein Meister seiner Kunst und schuf ein Werk, das reflektiert, nie imitiert. Erhebende Songs. The gospel according to Van: „Turn it up, a little bit higher… You know it’s got soul… and it’s too late to stop now!“

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