Vor 50 Jahren erschien Nick Drakes âPink Moonâ: Der blasse Mond
Als am 25. Februar 1972 das letzte Album des Songwriters erschien, nahm kaum jemand Notiz. Heute gilt es als Klassiker. Eine Geschichte ĂŒber ein zu spĂ€t erkanntes Genie
An einem Tag Anfang November 1971 klingelte ein junger, etwas ungepflegt und ĂŒbernĂ€chtigt wirkender Mann an der TĂŒr des BĂŒros von Island Records an der Basing Street im Londoner Stadtteil Notting Hill. Er stellte sich an der Rezeption als Nick Drake vor. Er habe bereits zwei Alben fĂŒr das Label gemacht und wolle mit dem Chef, Chris Blackwell, sprechen.
Die Rezeptionistin meldete ihn an, und Blackwell kam wenig spĂ€ter die Treppe runter, um seinen KĂŒnstler zu begrĂŒĂen, den er seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte. Er war sich nicht sicher, ob Drake seinen GruĂ mit einem Blick, einem sachten Nicken oder gar nicht erwiderte âWie gehtâs dir?â, fragte er den Songwriter, der umstĂ€ndlich ein âgutâ herausdruckste und ihm, seinen Blick meidend, einen Tonbandkarton hinhielt: âHier ist meine neue Platteâ, murmelte er. Blackwell nahm den Karton, fĂŒhlte, ob auch wirklich ein ÂŒ-Inch-Tape drinsteckte, quittierte mit einem ĂŒberraschten âOh!â und fragte, wie teuer denn die Produktion der Platte gewesen sei? â500 Pfundâ, sagte Drake. Blackwell verschwand kurz, kam mit dem Geld zurĂŒck, ĂŒberreichte es dem Songwriter, der kurz nickte und verschwand.
Kind des Commonwealth
Es sind Geschichten wie diese, die den Mythos nĂ€hren, der um Nick Drake, diesen schönen, scheuen, geheimnisvollen Songwriter, im Lauf der Zeit entstanden ist. Dass er sich nie in langen Interviews erklĂ€rt hat, dass er auĂerhalb seiner Kunst so wenig von sich preisgab, förderte die Legendenbildung. Es ist schwer, sich Nick Drake zu nĂ€hern. Es gibt da also diesen Mythos, der ihn verklĂ€rt, es gibt die Songs, die einem nahe gehen und in ihrer Melancholie, ihrem Romantizismus und ihrer Traurigkeit aus der tiefsten Seele sprechen, und hinter all dem steht eine reale Person, die einem fremder wird, je mehr man ĂŒber sie erfĂ€hrt. Ein verwöhntes Kind aus gutem Hause, ein bisschen versnobbt und verschlossen, schnell gelangweilt; Menschen, die Drake begegneten und ihm teilweise sogar nahestanden, erklĂ€rten oft, es sei leichter gewesen, in seiner Gegenwart zu schweigen als zu versuchen, ein GesprĂ€ch zu beginnen. Auch Drakes familiĂ€rer Hintergrund entfernt ihn von uns, fĂŒhrt er doch in eine unrĂŒhmliche Epoche: die britische Kolonialgeschichte. Denn der Vater seiner Mutter Molly hatte fĂŒr den indischen Civil Service gearbeitet, sein Vater Rodney war Ingenieur fĂŒr die Bombay Burmah Trading Cooperation.
Nick Drake wurde am 19. Juni 1948 in Rangun im damaligen Burma (heute Myanmar) geboren. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie zurĂŒck nach England, auf den pittoresken Landsitz Far Leys in Tanworth-in-Arden, sĂŒdlich von Birmingham. Mit neun wurde Nick auf ein nobles Internat geschickt, an den Wochenenden brachte Molly, die ihre groĂe Melancholie zum Zeitvertreib in eigenen Gedichten und Liedern verarbeitete, ihm das Klavierspielen bei. Mit 13 wechselte er auf das renommierte Marlborough College, spielte in der Rugbymannschaft der Schule und vertrat das College als guter Sprinter bei Meisterschaften. AuĂerdem begann er, Saxophon und Klarinette zu spielen und grĂŒndete mit vier MitschĂŒlern eine Band, The Perfumed Gardeners, die vor allem R&B-Songs und Jazzstandards coverte. Der Sohn eines britischen Diplomaten aus der Klasse unter ihnen, vier Monate jĂŒnger als Drake, von kleinem Wuchs und ein ganz guter SĂ€nger und Gitarrist, fragte, ob er mitmachen dĂŒrfe. Er mochte die Beatles und die Hollies und wurde abgelehnt, weil sein Geschmack âzu poppigâ war. Er hieĂ Christopher Davison und wurde spĂ€ter unter dem MĂ€dchennamen seiner Mutter als Chris de Burgh ein ziemlich erfolgreicher Songwriter.
Drake bekam schlieĂlich ein Stipendium fĂŒr das zur UniversitĂ€t von Cambridge gehörende Fitzwilliam College, wo er englische Literatur studieren wollte. Zuvor besuchte er aber erst mal fĂŒr ein halbes Jahr SĂŒdfrankreich, um an der UniversitĂ€t Aix-Marseille sein Französisch zu vertiefen und ein gutes Leben zu haben, Bekanntschaft mit Cannabis zu machen und sich der bisher vernachlĂ€ssigten Gitarre zu widmen, um sich das Geld fĂŒr die neue Droge zusammenzuspielen.
Lieder der Unschuld
ZurĂŒck in England zog er zu seiner Ă€lteren Schwester Gabrielle, die in London Schauspiel studierte, nach Hampstead. Das Literaturstudium interessierte ihn da kaum noch, er hatte die britische und amerikanische Folkmusik entdeckt, spielte in CafĂ©s und Clubs und ergatterte schlieĂlich im Februar 1968 einen Gig als Support fĂŒr Country Joe And The Fish im Londoner Roundhouse. Dort sah ihn der Bassist von Fairport Convention, Ashley Hutchings, und war von seiner Erscheinung und seinem Gitarrenspiel so beeindruckt, dass er dem Manager und Produzenten Joe Boyd davon erzĂ€hlte. Boyd hörte sich eine Demoaufnahme an, die Drake in seiner Studentenbude aufgenommen hatte, und bot dem scheuen Songwriter einen Deal mit seiner Management- und Produktionfirma Witchseason an, deren Platten bei Island Records veröffentlicht wurden.
Anderthalb Jahre spĂ€ter, im Sommer 1969, erschien sein erstes Album, âFive Leaves Leftâ, benannt nach dem BlĂ€ttchen in den ZigarettenpapierschĂ€chtelchen der Marke Rizla, das darauf hinweist, dass der Vorrat bald zur Neige geht: âNoch fĂŒnf BlĂ€tter ĂŒbrigâ. Auf seinem DebĂŒt begleiten ihn unter anderem Fairport Conventions junger Wundergitarrist Richard Thompsons und Pentangles genialischer Bassist Dave Thompson.
âFive Leaves Leftâ ist vermutlich das ausgereifteste, feinsinnigste und stimmigste DebĂŒt, das je ein Songwriter veröffentlicht hat â eigensinnig, poetisch, virtuos und sehr britisch. Britishness war ja seinerzeit durchaus gefragt, Fairport Convention begannen gerade, sich nicht lĂ€nger von amerikanischen Songwritern, sondern von englischen Balladen zu ihrem Folk Rock inspirieren zu lassen, und Ray Davies hatte ihm Jahr zuvor mit Music Hall und Spleen die Dorfwiese gepflegt. Aber man hörte in beiden FĂ€llen – bei aller RĂŒckwĂ€rtsgewandtheit – in den Arrangements und der Haltung doch immer die Gegenwart heraus. Die war bei Drake nicht zu finden. Er schien eher ein Zeitgenosse von William Blake oder John Keats zu sein als von Jimi Hendrix. Er interessierte sich zwar immer noch fĂŒr Folkmusik und die aktuellen Songwriter, aber seine Liebe galt den Werken des britischen, vom französischen Impressionisten Claude Debussy inspirierten Komponisten Frederick Delius.
Vielleicht erklĂ€rt das, warum die Popkritik damals keinen Zugang zu âFive Leaves Leftâ fand. Die Musik schien den wenigen Rezensenten Ă€hnlich verschlossen wie der Songwriter selbst. Dem âNMEâ-Kritiker Gordon Coxhill fehlte es an musikalischer Variation, und er verglich Drake wenig schmeichelhaft mit dem One-Hit-Wonder-Troubadour Peter Sarstedt (âWhere Do You Go To My Lovelyâ). Auch wenn Alben 1969 bereits als Gesamtkunstwerk rezipiert wurden, war die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Hörer immer noch auf Singles-LĂ€nge geeicht, und Long Player mussten von Attraktion zu Attraktion springen, um zu gefallen. âFive Leaves Leftâ aber war ein geschlossenes âmood pieceâ und dem im selben Monat erschienenen Miles-Davis-Album âIn A Silent Wayâ wohl nĂ€her als den (Folk-)Rock-Produktionen jener Zeit â oder den Werken von Peter Sarstedt.
Dass Drake sein Lampenfieber vor Konzerten immer hĂ€ufiger mit Cannabis, Mandrax und anderen Mittelchen â schlieĂlich sogar mit Heroin â zu bekĂ€mpfen versuchte, half nicht unbedingt, das Publikum von seinen QualitĂ€ten zu ĂŒberzeugen. âFive Leaves Leftâ verkaufte sich schlieĂlich im ersten Jahr ganze 3.000 Mal. FĂŒr den Nachfolger strebte Produzent Boyd daher nach einem abwechslungsreicheren und gefĂ€lligeren Sound, verordnete den Songs, die nicht alle so ĂŒberzeugend waren wie die des DebĂŒts, Schlagzeug, BlĂ€ser, an einer Stelle sogar einen Gospelchor. Drake war davon wenig begeistert, spielte das Spiel aber mit. Das Ergebnis, âBryter Layterâ, ist nichtsdestotrotz eine ziemlich gute Platte, auf der ĂŒbrigens John Cale, der zeitgleich mit Boyd Nicos âDesertshoreâ produzierte, zwei Ă€uĂerst hĂŒbsche Gastauftritte hat. Als das Album im November 1970 erschien, wurde es kaum wahrgenommen, wohl auch, weil Drake sich weigerte, Konzerte und Radiosessions zu spielen. Zu einem Interview mit der britischen Zeitschrift âSoundsâ lieĂ er sich ĂŒberreden, in dem er seinem GegenĂŒber Jerry Gilbert aber wortkarg zu verstehen gab, dass er sich seines aktuellen Albums selbst nicht so sicher war. Es kam schlieĂlich zum Streit mit Joe Boyd, und Drake erklĂ€rte, er wolle das nĂ€chste Album ohne ihn, nur mit dem Toningenieur John Wood produzieren. Und das tat er dann auch â ohne sein Label Island einzuweihen natĂŒrlich.

Das blasseste Blau
Ende Oktober 1971 meldete Drake sich bei Wood, um mit ihm einen Aufnahmetermin zu arrangieren. Am 30. Oktober trafen sich die beiden im Sound Techniques Studio an der Church Street in Chelsea, wo Drake bereits seine erste beiden Alben aufgenommen hatte; auch die ersten Pink-Floyd-Singles und die klassischen Alben von Fairport Convention waren hier entstanden.
Drake blieb stumm, wĂ€hrend Wood die Mikrofone richtete, spielte dann kommentarlos sechs Songs an Klavier und Gitarre, lieĂ sich auch von seiner Freundin (und spĂ€teren Ehefrau von Richard Thompson) Linda Peters nicht stören, die kurz vorbeischaute. Am darauffolgenden Abend setzten die beiden MĂ€nner ihre Arbeit fort. SchlieĂlich hatten sie zehn neue Lieder auf Band. Und zwei instrumentale Interludien, von denen eines eine Interpretation eines französischen Liebesliedes aus dem 18. Jahrhundert war und es spĂ€ter nicht aufs Album schaffen sollte. Der Text dieses StĂŒcks, den Drake nicht sang, fasst zusammen, um was es in seinen eigenen neuen Liedern ging: âPlaisir dâamour ne dure quâun moment/ Chagrin dâamour dure toute la vieâ â die Freuden der Liebe dauern nur einen Moment, der Liebeskummer dauert das ganze Leben. Kummervoll waren die Lieder, die er an diesen beiden Abenden im Oktober 1971 aufnahm. Sie handelten von einem, der seinen Platz in den Herzen nicht gefunden hatte, einem erfolglosen Songwriter, der nichts mehr mit seinem Leben anzufangen wusste. Einst sei er jung und grĂŒn und stark gewesen, heiĂt es in âPlace To Beâ, nun sei er alt, finsterer als der tiefste Ozean, schwĂ€cher als das blasseste Blau. Er war 23 Jahre alt, als er das sang. âWas willst du denn auf diese Tracks noch draufpacken?â, fragte Wood schlieĂlich am Ende der Aufnahmesession in Erwartung, Drake werde â wie auf den Alben zuvor â seinen Schulfreund Robert Kirby damit beauftragen, einige sublime Streicher- und BlĂ€serarrangements beizusteuern. âNichtsâ, antwortete Drake. Er, der sich immer verschlossen und keinen Kontakt zur AuĂenwelt gesucht hatte, wollte die Wand des schönen Scheins einreiĂen, sich zeigen â ungeschönt, intim, direkt. âAnd open wide the hymns you hide/ You find renown while people frown/ At things that you say/ But say what you’ll sayâ, hieĂ es im eloquentesten Song der Sessions, âThings Behind The Sunâ. Die meisten der neuen Lieder waren eher skizzenhaft, wirkten, als hĂ€tte er sie nicht zu Ende schreiben können, weil die Depression, mit der er schon lĂ€ngere Zeit kĂ€mpfte, ihn fest im Griff hatte.
Selbst die Luft ist eine Mauer
Nachdem Drake Chris Blackwell das Tonband mit seinen neuen Songs in die Hand gedrĂŒckt hatte, beauftragte der den Fotografen Keith Morris, Motive fĂŒrs Cover des neuen Albums zu aufzunehmen, das nach dem rĂ€tselhaften Eröffnungssong den Titel âPink Moonâ tragen wĂŒrde. Morris fotografierte Drake in der NĂ€he seiner Wohnung in Hampstead Heath. Die Bilder zeigen nicht mehr den vertrĂ€umten Romantiker, den man auf den Fotos zu âFive Leaves Leftâ und âBryter Layterâ sehen kann, sondern einen gebrochenen Mann, der, HĂ€nde in den Jackentaschen, in sich zusammen gesunken mit steinernem Gesicht auf einer Parkbank sitzt und ins Nichts oder mit leerem Blick in die Kamera starrt. Er hatte schon öfter in Parks, unter BĂ€umen und in Feldern posiert, doch wĂ€hrend die frĂŒheren Bilder geradezu idyllisch wirken, Drake eins zu sein scheint mit seiner Umgebung, wirkt er hier wie ein Fremdkörper. Beim Betrachten wird einem heute noch unwohl. Ein neues Album konnte man damit nicht bewerben, und so entschied sich Island stattdessen fĂŒr ein surrealistisches, von Salvador Dali inspiriertes Bild des britischen Illustrators Michael Trevithick. Klappt man das Cover auf, sieht man neben den Songtexten eines der Morris-Motive. Bezeichnenderweise als Negativ.
Als âPink Moonâ am 25. Februar 1972 erschien, hatte die britische Regierung als Reaktion auf den Bergarbeiterstreik die Dreitagewoche eingefĂŒhrt, die Zeitungen erschienen in Notausgaben, die Post lieferte mit groĂen VerspĂ€tungen, die Bahnen fuhren unregelmĂ€Ăig â nicht die besten Voraussetzungen fĂŒr die Verbreitung eines neuen Albums. Die erste Kritik erschien dann auch erst nach etwa einem Monat im britischen âSoundsâ. Der Rezensent hielt die Songs nicht fĂŒr stark genug, um ohne die ĂŒblichen musikalischen Verzierungen auszukommen, und legte Drake nahe, mal ein bisschen mehr Engagement zu zeigen, statt immer so geheimnisvoll zu tun. Mark Plummer, der wohl von Drakes Freund und Fan John Martyn angespitzt worden war, âPink Moonâ zwei Monate nach Erscheinen endlich fĂŒr den âMelody Makerâ zu besprechen, hatte ebenfalls Schwierigkeiten, sich auf Drakes unverhĂŒllte Seelenpein einzulassen. âVielleicht sollte man seine Alben ohne Ton abspielen und einfach auf das Cover schauen und die Musik in seinem Kopf machen, indem man seine auf dem Cover abgedruckten Worte zu seinen eigenen rhythmischen Herzreimen rezitiertâ, konstatierte er poetisch und schloss mit dem Satz: âEs könnte sein, dass Nick Drake ĂŒberhaupt nicht existiert.â
TatsĂ€chlich hatten viele von Drakes Freunden und Bekannten zu dieser Zeit ein Ă€hnliches GefĂŒhl. Er zog sich immer weiter zurĂŒck, nahm Antidepressiva und war wieder zu seinen Eltern nach Tanworth-in-Arden gezogen. John Martyn schrieb nach einem Besuch seinen Song âSolid Airâ:
ââYou’ve been getting too deep
You’ve been living on solid air
You’ve been missing your sleep
You’ve been moving through solid air
I don’t know what’s going on in your mind
But I know you don’t like what you find
When you’re moving through solid air, solid airI know you, I love you
I will be your friend
I will follow you anywhere
Even through solid airââ
Der schwarzÀugige Hund
Bis Anfang 1974 zahlte Island Drake immer noch einen wöchentlichen Vorschuss auf PlattenverkĂ€ufe. Als der schlieĂlich gestrichen wurde, kehrte Drake noch einmal nach London zurĂŒck. Seine Haare ungewaschen, Dreck unter den FingernĂ€geln, unrasiert sprach er bei Joe Boyd vor, der schockiert war, als der den jungen Mann in dieser Verfassung sah. Drake war wĂŒtend, verzweifelt. âDu hast gesagt, ich sei groĂartig, aber niemand kennt mich, niemand kauft meine Plattenâ, beschwerte er sich. âWoran liegt das? Wer hat da einen Fehler gemacht?â
Boyd wusste keine Antwort â auĂer die, es noch mal zu versuchen. Drake nickte nur. Ging noch einmal zu John Wood ins Sound Techniques Studio und nahm ein gespenstisches Lied auf, das nicht mehr nach den englischen Romantikern klang, sondern nach dem fiebrigen Robert Johnson, der vergeblich versucht, den Höllenhunden zu entkommen. â I’m growing old and I wanna go homeâ, sang der 25-jĂ€hrige Drake. âI’m growing old and I dont wanna know/ I’m growing old and I wanna go home.â Nach diesen Zeilen musste man sich nicht mehr fragen, ob der âBlack-Eyed Dogâ im Titel dieses StĂŒckes die Depression oder der Tod war.
Ăberraschenderweise kehrte Drake im Juli noch einmal zurĂŒck, um weitere Songs aufzunehmen. Er sah gepflegter aus, aber seine mentale Verfassung hatte sich verschlechtert. Er hatte groĂe Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und beim Singen auf der Gitarre zu begleiten. Und auch als Wood vorschlug, zunĂ€chst nur die Musik aufzunehmen und den Gesang spĂ€ter hinzuzufĂŒgen, machte er stĂ€ndig Fehler. Einer der âneuenâ Songs, âVoice From A Mountainâ, war schon fĂŒnf Jahre alt und seinerzeit nicht fĂŒr gut genug befunden worden, um auf einem Album zu landen. Auch âRider On A Wheelâ und âTow The Lineâ hatten nicht die IntensitĂ€t frĂŒherer Drake-StĂŒcke. Der beste Song dieser Session, âHanging On A Starâ, schien direkt an Boyd gerichtet: âWhy leave me hanging on a star/ When you deem me so high?â
Drake machte den Eindruck, er wolle sich nun selbst von dem einsamen Stern abseilen, an dem er seit seinem DebĂŒt hing. Er wusste nach diesen Aufnahmen, dass aus diesen Liedern kein Album mehr werden wĂŒrde, dass seine Karriere zuende war. Und das schien eine Art Erleichterung. Er versprach seinen Eltern sogar, sich um einen Job zu bemĂŒhen, wenngleich das erste VorstellungsgesprĂ€ch wohl an seinen zu langen Haaren scheiterte. SchlieĂlich schnitt er sie ab und trug Brille â Freunde deuteten den neuen Look als letztes Zeichen, dass er seine KĂŒnstlerexistenz endgĂŒltig abgelegt hatte.
Der spÀte Mond
Gegen Mittag des 25. Novembers 1974 fand Molly Drake ihren Sohn leblos auf seinem Bett liegend. Auf dem Plattenspieler lag eine Aufnahme von Bachs âBrandenburgischen Konzertenâ, die er sich sieben Jahre zuvor in SĂŒdfrankreich gekauft hatte, nachdem er auf den StraĂen von Aix-Marseille mit seiner Musik erstmals Geld verdient hatte. Neben ihm lag ein Exemplar von Albert Camus âDer Mythos des Sisyphosâ. âA troubled cure for a troubled mindâ, wie es in âTime Has Told Meâ auf âFive Leaves Leftâ heiĂt. Das EröffnungsstĂŒck der zweiten Seite seines DebĂŒts, der â’Cello Songâ, klingt wie eine Vorahnung: âYou would seem so frail/ In the cold of the night/ When the armies of emotion/ Go out to fight/ But while the earth sinks to its grave/ You sail to the sky/ On the crest of a wave.â Auf Drakes Grabstein, den man auf dem Kirchhof der Church of St Mary Magdalene in Tanworth findet, wird aber ein anderer Song zitiert: âFrom The Morningâ, der Silberstreif am dunklen Himmel von âPink Moonâ â âAnd now we rise/ We are everywhere.â
Ob der Tod durch eine Ăberdosis des Antidepressivums Amitriptylin ein Unfall war oder eine Flucht, konnte nie geklĂ€rt werden. Nick Drake war jedenfalls verschwunden. Vergessen konnten ihn die wenigen, die ihn und seine Lieder kannten, nicht. Doch fĂŒr die meisten hatte er, wie Michael Plummer in seiner âPink Moonâ-Besprechung geschrieben hatte, nicht existiert. Bis Island seine drei Alben Ende der Siebziger als Box-Set wiederveröffentlichte. Es trug den Titel âFruit Treeâ, nach einem Song auf âFive Leaves Leftâ, in dem es geradezu prophetisch heiĂt: âFame is but a fruit tree/ So very unsound/ It can never flourish/ âtil its stock is in the ground/ So men of fame/ Can never find a way/ âtil time has flown/ Far from their dying day.â Nun war genĂŒgend Zeit verflogen seit seinem Todestag, und eine neue Generation britischer Musiker*innen begann, Nick Drake fĂŒr sich zu entdecken. Bands benannten sich nach seinen Liedern: The Cure etwa nach der im letzten Absatz zitierten Zeile aus âTime Has Told Meâ, The Lilac Time nach einer Wendung aus dem Höhepunkt des DebĂŒts, âRiver Manâ. Dream Academy widmeten Drake 1985 ihre Hit-Single âLife In A Northern Townâ, und in den Neunzigern wurde âFive Leaves Leftâ von Kritikern in den Kanon der besten Alben aller Zeiten aufgenommen.
1999 machte Volkswagen in den USA mit Drakes Song âPink Moonâ Werbung fĂŒr ein Cabriolet, und ein Jahr spĂ€ter stand das gleichnamige Album nicht mehr nur in 6.000, sondern in 74.000 US-Haushalten. Mittlerweile scheint dieses unperfekte letzte Werk gar populĂ€rer als das perfekte âFive Leaves Leftâ. Vielleicht, weil die Welt heute eher an Hoffnungslosen interessiert ist als an hoffnungslosen Romantikern. Nick Drake hat das vorausgesehen: âI saw it written and I saw it say/ Pink moon is on its way/ And none of you stand so tall/ Pink moon gonna get ye all.â