Warum hat Bruce Springsteen so viele Alben in seinem Archiv versteckt?

Ein tiefer Einblick in Bruce Springsteens siebenteilige Box „Tracks II: The Lost Albums“. Hier den ROLLING-STONE-Podcast hören

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Was wäre gewesen, wenn Bruce Springsteen seinem von Synthesizern und Drum-Machines geprägten Hit „Streets of Philadelphia“ von 1994 ein ganzes Album in diesem Stil folgen lassen hätte? Oder wenn er statt des 2017 erschienenen „Western Stars“ ein Album mit Balladen im Stil des Great American Songbook veröffentlicht hätte? Springsteens gerade erschienene Box Tracks II: The Lost Albums steckt voller musikalischer Überraschungen und alternativer Realitäten. Und erinnert eindrucksvoll daran, wie viel mehr er kann als nur seine Stadionrock-Auftritte mit der E Street Band.

Eine Kiste voller ungelebter Karrieren

In der neuen Folge von Rolling Stone Music Now taucht Andy Greene – der Springsteen kürzlich zur Box interviewte – gemeinsam mit Moderator Brian Hiatt tief in diesen Schatz ein. Um die komplette Folge zu hören, geht es hier zum Podcast-Anbieter eurer Wahl, hört auf Apple Podcasts oder Spotify – oder klickt einfach oben auf „Play“. Hier einige Highlights:

Mehrere der Alben wurden vermutlich deshalb nie veröffentlicht, weil Springsteen nicht wusste, wie er sie live umsetzen sollte. Für ein „Streets of Philadelphia Sessions“-Album hätte er wohl dieselbe Band genutzt, die er bereits auf der Tour 1992–93 einsetzte. Doch so atmosphärisch die neuen Songs auch waren – sie passten einfach nicht in große Arenen, ganz im Gegensatz zu den rockigen Songs von „Human Touch“ und „Lucky Town“. Auch „Twilight Hours“, das von Burt Bacharach beeinflusste Balladenalbum, stellte ein ähnliches Problem dar. War Springsteen wirklich bereit, im Anzug mit Orchester zu singen?

Der neu entdeckte Song „Waiting on the End of the World“ war vermutlich Springsteens erster Versuch für einen Titel zur „Philadelphia“-Filmmusik. Die textlichen Parallelen, etwa Zeilen über das „Vergehen in der Zeit“, sind zu deutlich, um sie zu ignorieren. Regisseur Jonathan Demme hatte ursprünglich nach einer Rockhymne gesucht, um seine Geschichte mit dem Herzen Amerikas zu verbinden – „Waiting on the End of the World“ war wohl der Versuch, diesem Wunsch nachzukommen.

Mysterien, Krisen und Mariachi-Musik

Das mysteriöse Album „Faithless“ – geschrieben für einen nie realisierten „spirituellen Western“-Film – löst ein Rätsel um „Wrecking Ball “(2012). In seiner Autobiografie „Born to Run“ erwähnt Springsteen, dass zwei Songs von „Wrecking Ball“ – „Shackled and Drawn“ und „Rocky Ground“ – aus einem „Gospel-Filmprojekt stammen, an dem ich gearbeitet hatte“. 2016 bestätigte er gegenüber Rolling Stone, dass Letzterer ursprünglich für einen Film geschrieben wurde, und dass er „den Rest der Songs noch zurückhalte“. „Faithless“ ist mit großer Wahrscheinlichkeit genau diese Sammlung.

Die psychologische Krise, die Springsteen um 1983 erlebte – und die im kommenden Biopic „Deliver Me From Nowhere“ eine zentrale Rolle spielen wird – steht im Zentrum der Songs auf „L.A. Garage Sessions ’83“. „Er musste wortwörtlich über sein ganzes Leben nachdenken, bevor er „Born in the U.S.A.“ veröffentlichen und sich seinem Popstar-Schicksal stellen konnte“, sagt Hiatt. Nach dem düsteren „Nebraska“ (1982), das tief in seine Kindheitstraumata griff, wusste Springsteen: Er musste sich selbst verstehen, bevor er weitermachen konnte – diese existenzielle Schwere hört man in Songs wie „Unsatisfied Heart“ und „County Fair“.

Springsteen änderte offenbar seine Meinung zu seinem Schaffen in den Neunzigern während der Arbeit an der Box. „Ich lese oft, ich hätte in den Neunzigern eine verlorene Phase gehabt oder so“, sagte er abfällig in einem aktuellen Promo-Video zum Album. Dabei hatte er 2009 im Interview mit David Fricke von Rolling Stone selbst genau diese Worte benutzt, um die Dekade zu beschreiben.

Der Mariachi-Sound auf „The Lost Charro“ kommt angesichts des aktuellen kommerziellen Booms von Künstlern aus der mexikanischen Regionalmusik – etwa Peso Pluma – fast schon zufällig zur rechten Zeit. Der wunderschöne Song vom verschollenen Album Inyo enthält eine vollständige Mariachi-Band und erinnert an nichts sonst in Springsteens Katalog.

Komplexe Chronologie – Songs über Jahrzehnte hinweg

Die Chronologie der Alben ist teilweise verwirrend. Die meisten Songs auf „Inyo“ stammen aus den Jahren 1997–98, aber einige wurden während der „Western Stars/Twilight Hours“-Sessions um 2012 aufgenommen. Das stark rockabilly-geprägte Album „Somewhere North of Nashville“ ist noch komplizierter: Der Großteil wurde 1995 aufgenommen, der Titeltrack stammt jedoch aus den 2010ern, und andere Songs wurden bereits in der „Born in the U.S.A.“-Ära geschrieben und 1995 neu eingespielt.

Ladet den Rolling Stone Music Now-Podcast mit Brian Hiatt wöchentlich über Apple Podcasts oder Spotify (oder wo immer ihr eure Podcasts hört) herunter und abonniert ihn. Im Archiv findet ihr acht Jahre voller Episoden, darunter ausführliche Interviews mit Mariah Carey, Bruce Springsteen, SZA, Questlove, Halsey, Neil Young, Snoop Dogg, Brandi Carlile, Phoebe Bridgers, Rick Ross, Alicia Keys, The National, Ice Cube, Taylor Hawkins, Willow, Keith Richards, Robert Plant, Dua Lipa, Killer Mike, Julian Casablancas, Sheryl Crow, Johnny Marr, Zara Larsson, Scott Weiland, Kirk Hammett, Coco Jones, Liam Gallagher, Alice Cooper, Fleetwood Mac, Elvis Costello, John Legend, Donald Fagen, Charlie Puth, Phil Collins, Justin Townes Earle, Stephen Malkmus, Sebastian Bach, Tom Petty, Eddie Van Halen, Kelly Clarkson, Pete Townshend, Bob Seger, The Zombies und Gary Clark Jr. Sowie Dutzende Episoden mit genreübergreifenden Diskussionen, Debatten und Erklärstücken der Rolling-Stone-Kritiker und Reporter.