We Must Rebel

Was ist nur aus Bob Marleys Erbe(n) geworden? Haben die Nachkommen seiner "Rebel Music" die karibische Sonnenschein-Insel in ein Reich des Bösen verwandelt, in dem der Chi Chi Mann verteufelt und der Vatikan mit gleißendem Höllenfeuer bedroht wird? Alles nur ein medialer Irrtum, oder sind die neuen Reggae-Sänger und Deejays tatsächlich fehlgeleitete Irre? Hat das Eine gar mit dem Anderen zu tun? Und war Reggae vielleicht niemals so friedlich, wie man immer gerne glauben wollte?

Freundlich sind sie, die Jamaikaner, sehr sogar, aber friedlich war es auf ihrer Insel zu keinem Zeitpunkt. Wie auch, wenn das sogenannte Paradies der Karibik zeitlebens von fremder Knute geknechtet wird? Die Vorfahren der heutigen Bewohner waren nicht freiwillig gekommen. Menschenhändler diverser europäischer Nationen hatten sie gegen ihren Willen hierher verfrachtet und auch die Nachfolge-Generationen werden das Gefühl von Fremdbestimmung nicht los. „400 years and it’s the same philosophy“ sagt man auf Jamaika und irgendwie scheint da was dran zu sein: Waren es früher Spanier und Engländer, die den Verschleppten Lebensumstände aufbürdeten, aus denen sie nur der Tod befreien konnte, hält nun nach dem Ende der Kolonialzeit die internationale Staatengemeinschaft mit ihren Organen IMF (International Monetary Fond) und Weltbank das Land mit unerfüllbaren Kreditkonditionen in wirtschaftlicher Gefangenschaft. Auch ist es längst kein Geheimnis mehr, dass Handlanger der CIA noch vor nicht allzu langer Zeit im Schutze der Nacht an der Küste Crack-Pakete abluden, um die Bevölkerung Mann für Mann in individuelle Abhängigkeit zu locken. Die „400 Years“ (Bob Marley) der „Days Of Slavery“ (Burning Spear) schreiben auf diesem kleinen Flecken Erde eine Never-Ending-Story, die vor rund 50 Jahren zum Expose wurde für ein musikalisches Protestszenario, das mittlerweile auf der ganzen Welt als Ausdruck von „mit uns nicht!“ zelebriert wird.

Das Saturday Night Fever, das die Jamaikaner immer wieder und an Wochenenden besonders befällt, die geografische Nähe zur Black Music Amerikas, die mentale Verbundenheit zu den schwarzen US-Vorbildern von Tamla Motown über Funkadelic bis hin zu Malcolm X, die transferierte afrikanische Spiritualität gepaart mit den Erfahrungen ihrer eigenen Realität sowie ein Mann namens Marcus Garvey bilden die Melange, aus der im vergangenen Jahrhundert in Jamaika zunächst eine religiöse und später eine musikalische Protestbewegung entstand. Beide sehr politisch in ihrer inhaltlichen Ausprägung, beide mit vielen Gemeinsamkeiten. Von der Rezeption in der großen weißen Welt seit Jahrzehnten weitestgehend mit Sonnenschein verstrahlt und zu Marihuana umnebelter Harmlosigkeit verurteilt, basieren sie jedoch nicht unbedingt auf deckungsgleichen Geisteshaltungen.

Folgen wir der Chronologie der Ereignisse: Obwohl seit Jahrhunderten ohne physischen Kontakt zu ihren geografischen Wurzeln, blieben die Jamaikaner der afrikanischen Spiritualität stets verbunden. „Für Afrikaner gibt es kein Leben ohne Religion. Ihr gesamtes Lebensgefühl basiert darauf, sie bestimmt das komplette System menschlicher Existenz. Afrikaner trennen nicht zwischen säkular und heilig“, betonen Phillip Sherlock Et Hazel Bennett in ihrer „Story Of The Jamaican People“ und schreiben diesen Wesenszug auch den Jamaikanern zu. Dadurch begünstigt wurde die Insel zum beliebten Objekt religiöser Begierden und zog im Laufe der Jahrhunderte Missionare unterschiedlichster Couleur in sintflutartiger Zahl an. Menschenfischer auf Menschenschiffen und Kolonialwarenfrachtern, Abgesandte der alten und neuen Kirchen sowie dubiose und selbsternannte Religionsstifter, die Jamaika in einen Supermarkt der Geistlichkeit mit einem Riesenangebot zahlenmäßig kaum erfassbarer Glaubensgemeinschaften verwandelten.

1925 kam auf diesem Wege die „Holy Piby“ nach Jamaika. Reverend Charles F. Goodridge und seine Begleiterin Grace Garrison hatten sie im Gepäck, ein enigmatisches Dokument, von dem es hieß, es sei „die Bibel des Schwarzen Mannes“. Angeblich sehr nah an der ersten Bibel, die jemals zusammengestellt wurde und im Original geschrieben auf Amharisch. Amharisch gilt als die ursprüngliche Sprache der Menschheit und war Jahrhunderte lang die offizielle Landessprache Äthiopiens – des Landes, das in der auf Jamaika verbreiteten King James Bible wie auch in allen anderen christlichkonventionellen Bibelausgaben als Synonym für Afrika stand. Martin Luther hatte Äthiopien in seiner Übersetzung „Mohrenland“ genannt und nur ein Schelm wird hier vermuten, dass er sich dabei von dem griechischen Wort „jopoc;“ (sprich: moros), was soviel wie „töricht, dumm“ und „gottlos“ bedeutet, leiten ließ. Und eben dieses Mohrenland blieb auf wundersame Weise verschont, als die Europäer den kolonialen afrikanischen Kuchen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit neuen Grenzen portionierten und unter sich aufteilten. Seitdem gilt Äthiopien als Symbol für afrikanische Unabhängigkeit und wird als „Die Wiege der Menschheit, als „Ursprung der Zivilisation“ bezeichnet. Das Land verfügt über eine weit zurückreichende christliche Tradition; sogar die „Ark Of The Covenant“, jene Bundeslade, mit der Gott am Berg Sinai die Zehn Gebote an Moses übergeben hat, wird der Legende nach in der nördlich gelegenen Stadt Axum aufbewahrt. Der äthiopischen Bibel wird eine größere Authentizität zugeschrieben als der von der anglikanischen bzw. katholischen Kirche zugunsten der weißen Rasse umgestalteten Version. Lange vor der Rastafari-Bewegung entstanden auf diesem Hintergrund an Äthiopien orientierte schwarze Befreiungstheologien, die den Gedanken der Black Supremacy, der schwarzen Überlegenheit, kultivierten und auch in die Karibik trugen. Bereits im 18. Jahrhundert tauchten die ersten Prediger auf, die Äthiopien als den Ursprung aller Jamaikaner verkündeten.

Ein Jahr vor ihrer Ankunft in Jamaika wurde die „Holy Piby“ zum ersten Mal veröffentlicht. Zufälligerweise in genau dem Jahr, in dem Marcus Garvey gesagt haben soll: „Schaut nach Afrika, auf die Krönung eines schwarzen Königs. Er wird der Erlöser sein.“ Garvey, geboren 1887 in St. Ann’s Bay, war eigentlich ein Arbeiterführer. Ein hyperaktiver und reisefreudiger Mann, dessen politische Laufbahn 1907 bei einem Druckerstreik in Kingston begann und sich dann in Auseinandersetzungen für verbesserte Arbeitsbedingungen der farbigen Bevölkerung nicht nur in seiner Heimat Jamaika, sondern auch in Panama, Costa Rica, den USA, England und zahlreichen weiteren Ländern fortsetzte. Er rief die „Universal Negro Improvement Association“ (UNIA) mit dem Ziel strikter Rassentrennung bei schwarzer Gleichberechtigung ins Leben, gründete diverse Zeitungen sowie die Schifffahrtslinie Black Star Line. Garvey profilierte sich als Vertreter des Äthiopismus in der Tradition eines messianisch schwarzen Mystizismus als Kontrapunkt zu den weißen Sklavenhalterreligionen. Er war zudem ein glühender Fürsprecher der „Zurück nach Afrika“-Repatriierungsbewegung. Alles was er initiierte, ließ sich zunächst vielversprechend an, um dann in großem Stil zu scheitern. Zwischenzeitlich saß er sogar in den Staaten wegen angeblicher Steuerhinterziehung ein; am Ende wollte ihn niemand mehr hören und gerade in Jamaika war man ihm beinahe schon feindlich gesonnen. Entnervt siedelte er 1935 nach England um, wo er fünf Jahre später unbeachtet und mittellos verstarb.

Obwohl sein Leben nicht frei war von der Tragik eines Losers, hinterließ Marcus Garvey dem schwarzen (Selbst-)Bewusstsein ein bedeutungsvolles Erbe. Neben seinen panafrikanischen Thesen gab er der UNIA mit „One God! One Aim! One Destiny!“ ein Motto, das die Zeit überdauert hat. Außerdem ist da die ihm zugeschriebene Prophezeiung „Schaut nach Afrika…“. Es ist müßig, darüber zu debattieren, ob er diese Aussage tatsächlich getätigt hat. Vermutlich war es eher der aus Chicago stammende Mystiker James Morris Webb. Ein Mann aus der Gefolgschaft Garveys, der bereits 1919 ein Buch verfasst hatte, dessen Thematik in die gleiche Richtung wies und der die schicksalsträchtigen Worte bei einem UNIA-Kongreß im September 1924 gesprochen haben soll. Auch deuten viele spätere abschätzige Einlassungen Garveys zu Haile Selassie darauf hin, dass er sich kaum so geäußert haben kann. Für den Fortgang der Geschichte ist dies jedoch ebenso unerheblich wie die Diskussion, ob Jesus tatsächlich von einer Jungfrau geboren wurde und übers Wasser laufen konnte.

Am 2. November 1930 erfüllte sich das Orakel. Die Krönung von Ras Tafari Makkonen zum äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. war der letzte und alles entscheidende Baustein im Gebilde der Rastafari-Weltanschauung. Goodridge und Garrison, die Überbringer der „Holy Piby“, hatten sich wegen massiven Widerstands der traditionellen Kirchen in die Hügel von St. Thomas im Osten Jamaikas zurückgezogen, wohin ihnen neben anderen auch Leonard P. Howell, allgemein angesehen als der erste Rasta, folgte, um dort die Bibel des Schwarzen Mannes zu studieren. Um die „Holy Piby“ bildete sich eine geheime Bruderschaft, die enormen Zulauf von ehemaligen Missionaren und Predigern, ehrenwerten Theologen und zweifelhaften Scharlatanen verzeichnete. Darunter auch Prince Edward Emanuel, der vorgab, im Jahr 1915 vom Himmel herabgestiegen zu sein, und der später prophetischen Status erhalten sollte unter den Bobo-Dreads, zu denen sich heute die Mehrzahl der neuen Roots Artists wie Sizzla und Capleton bekennen. Weitere Bücher wie die „Royal Parehment Scroll Of Black Supremacy“ oder der „Promised Key“, ein von Howell verfasstes Plagiat der Parehment Scroll, tauchten auf, wurden als heilige historische Dokumente verklärt und in den Kanon der Rastafari-Schriften aufgenommen. Wie bei Religionsgründungen üblich, legten Howell und seine Brüder erst einmal Regeln fest: Sie entwarfen Diät- und Hygiene-Gesetze, verboten das Kämmen und Schneiden der Kopfbehaarung, glorifizierten Marihuana zum „Kraut der Weisheit“ und erklärten dessen Genuss zum spirituellen Ritual. Sie deklarierten die Schwarzen als überlegene Rasse und Jamaika sowie die gesamte westliche Welt als „Babylon“, einen Ort geistiger und körperlicher Gefangenschaft. Haile Selassie, der sich selbst als „Löwe von Judah“ bezeichnete, wurde zur gottgleichen Gestalt „Jan“, der sie am Tag des Jüngsten Gerichts (Armageddon) nach Äthiopien zurückführen werde.

Das Feuer, das im Busch von St. Thomas geschürt worden war, verbreitete sich in Windeseile über die gesamte Insel. Rastafari verlieh den Armen und Rechtlosen imaginäre Würde innerhalb der Sklavenhalter-Nachfolgegesellschaft Jamaikas, verhieß Aussicht auf Besserung ihrer erbärmlichen Lebensumstände. Bereits wenige Jahre nach der Inthronisierung Selassies hatte die neue Religion in den Gettos von Kingston eine starke Gefolgschaft und war trotz diverser Schikanen durch die Staatsgewalt und Anfeindungen aus Teilen der Bevölkerung nicht mehraufzuhalten. Mitte der sechziger Jahre kam sie auch Uptown bei der männlichen Jugend an. Dies ist der ideologisch-theologische Background, auf den in etwa zur gleichen Zeit auch der Reggae trifft. Entstanden aus dem Bedürfnis der jamaikanischen Unterhaltungsbranche nach Unabhängigkeit, weil man es leid war, Musik aus den Staaten zu importieren, und statt dessen auf Einnahmen aus eigenen Produktionen hoffte. Es begann mit Ska und improvisierter Instrumentalkunst in der Tradition des Jazz. Dem folgte eine kurze Periode des Rock Steady, dessen Gesang sich hörbar an der amerikanischen Soulmusik orientierte, und der wiederum mutierte durch kleine Modifizierungen zum Reggae. Im rasenden Tempo olympischer Goldmedaillenläufer entwickelte sich der neue Sound zur Pop- und Volksmusik der gesamten Nation. Reggae wurde von allen Jamaikanern gehört, auch von denen, die inzwischen das Land verlassen hatten, und war bei weitem nicht nur die Musik der jamaikanischen Jugend. Die sollte sich erst viele Jahre später den digitalen Dancehall-Style als ihre Ausdrucksform erobern.

Anfangs kam der größte Teil des musikalischen Outputs nur aus der Hand weniger Leute, die erkannt hatten, dass das Interesse (und damit auch der daraus zu erzielende Profit) an dem, was da entstand, immens war. Es waren immer dieselben Musiker, in unterschiedlichen Konstellationen und nicht selten anonym, die das ausführten, was die ersten Produzenten von ihnen verlangten. Konträr zu den Instrumentalisten, Studiobetreibern und Geldgebern ging die Zahl der Vokalisten, die am Mikro standen und den Aufnahmen als Sänger oder Toaster (erst später „Deejays“ genannt) ihren Namen gaben, sehr schnell in die Hunderte und war von großer Fluktuation begleitet. Künstler kamen und gingen, die Macher im Hintergrund blieben und wurden mehr; und sie alle brachten das auf die Straße, zu den Dances und in die Läden, was die Jamaikaner in ihrem fremdbestimmten Leben hören wollten: ihre eigene Musik! Mit ihren eigenen Inhalten! Und so entwickelte der Reggae einen Themenkatalog, der einerseits wie jede andere Popularmusik den Herz-, Schmerz-, Hormon- und Freizeitbereich abdeckte, andererseits jedoch zum öffentlichen Forum einer kolonial vergewaltigten, künstlichen Nation auf dem Weg zur Selbstflndung wurde. Aufrührerisches Potential blieb in der jamaikanischen Gesellschaft auch nach Abschaffung der Sklaverei reichlich vorhanden. Neokoloniale Beschränkungen waren für Jedermann spürbar und Sufferation ersetzte der Mehrheit des Volkes das täglich Brot. Reggae wurde zum vertonten Blick auf die Realität. Bestimmt von den eigenen Lebenskoordinaten und mit ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein. In den Gettos der Insel im Herzen von Babylon hatte man seit Jahrhunderten am eigenen Leib erfahren, wie die Welt funktioniert und nahm sich nun das Recht, sie zu interpretieren und zu kommentieren. Selbst als 1989 die deutsche Mauer fiel, sang Jamaika ein Lied darüber. Und je weiter sich die Rastafari-Sicht der Dinge auf der Insel ausbreitete, desto mehr fand sie Widerhall in den Songs über Freiheit und Gerechtigkeit.

„We live in a world of sorrow/just wishing for a better tomorrow/Let us sing the songs of freedom/Let’s pray to the ruler of the righteous kingdom.“(African Brothers 1973)

Dann kam Chris Blackwell. Auf der Suche nach einem international vermarktbaren Star aus der 3. Welt entdeckte er in den Slums von Kingston die Wailers. Der Rest ist Geschichte. Blackwell konzentrierte das Trio auf Bob Marley, modifizierte deren Musik mit Bobs Hilfe zu einem popkompatiblen Rock-Sound, erklärte Rastafari zur Ansichtssache und schickte das Paket um den Globus. Der geklonte Roots Reggae mit seiner Rasta-Message eroberte die Welt. Marleys Musik, vermarktet als Pop-Produkt, begann sich jedoch zu verselbstständigen. Überall da, wo das Leben von ähnlichen Bedingungen wie auf Jamaika bestimmt wurde, verstand man Reggae als „Rebel Music“, als „Outery Of The Sufferer“. Die Mehrheit der Whiteys brauchte etwas länger, drehte erst einmal dicke Tüten und tanzte im Rausch von Love, Peace & Unity; vermischte Reggae mit alternativem Lebensstil, Urlaubsgefühlen und der Plakette „Sunshine Reggae“. Eine bizarre Bagage von Hippies, Linken und Tourismusmanagern ergötzte sich an einer Religion, die nicht die ihre war. Feierte Bob Marley als „One Love“-Pazifisten, obwohl er in diesem Song aufforderte: „Let’s get together to fight this holy Armageddon.“ Auch dass es damals schon hieß „Fire Fe Di Vatican“ und Max Romeo mit seiner Drohung beileibe nicht allein dastand, ging in der Ganja-Romantik unter.

Es war ein steiniger Weg und der Weg war sehr lang, aber der Reggae schaffte es, sich gegen die Weichspül-Rezeption zu behaupten. Unfreiwillige Helfer waren dabei die Hauptdarsteller der Menschenverachtung aus Kriegs- und Krisengebieten, Korruption und Globalisierungs-Poli-Tricks mit ihren Inszenierungen des Elends, bei denen das alte Schwarzweiß-Muster nicht mehr galt. „Jamaikanische Musik war immer schon politischer Ausdruck der ökonomischen, sozialen, spirituellen und moralischen Überlebensstrategien der Menschen in der sogenannten zivilisierten Welt. Im Kern war Reggae immer schon politische Musik, denn sie formuliert die Themen, die die Menschen bewegen“ erklärt Bunny Wailer, der letzte Überlebende aus dem Wailers Trio, 2007 den weltweiten Reggae-Boom (in einem Interview des deutschen Reggae-Magazins RIDDIM). In Serbien zum Beispiel ist es der FC Apartride UTD. Kein Fußballclub, sondern ein weißes marxistisch-muslimisches Trio, das über Off-Beat und dickem Reggae-Bass singt: „What an occupation to throw bombs on a innocent nation. What an occupation to be a soldier of United Nation.“ Aus Gambia kommt Rebellion The Recaller (der mit einem seiner Songs die Überschrift zu dieser Geschichte liefert), ebenfalls ein Muslim, der seine Songs als Waffe im Kampf um Menschenrechte versteht. In Afrika sind es schon längst nicht mehr nur Alpha Blondy, Tiken Jah Fakoly oder der 2007 ermordete Lucky Dube, sondern auch Takana Zion aus Guinea, Bishop aus Nigeria, Osagyefo aus Ghana und viele andere, die gegen den Irrsinn ihres Kontinents mit Reggae-Rhythmen ansingen. Vor den Toren Amerikas, auf den US Virgin Islands hat sich in den letzten Jahren eine Szenerie entwickelt, die an die frühe Aufbruchsstimmung im Ursprungslandes des Reggae erinnert. Mit Produktionsbedingungen aus dem Low Fi Bereich und realpolitisch-philosophischen Texten zwischen Gil Scott-Heron, Last Poets und Jah Rastafari. In Oakland, Kalifornien, sitzt ein weißer Amerikaner und nennt sich DJ Child. Mit seinem Project Groundation forciert er den Widerstand mit unfassbaren Mixtapes, indem er alten und neuen Reggae mit Malcolm X, Angela Davis und kleinen Dosen schwarzer US-Musik zu einem akustisch-revolutionären Pamphlet vermengt. Gut 25 Jahre nach dem Tod Bob Marleys ist Reggae stärker als je zuvor und international positioniert.

Und in Deutschland? Da ist die Situation speziell. Einerseits einer der größten Reggae-Märkte der Welt, andererseits existiert hier (wie in England) eine einflussreiche Hater-Fraktion, die Konzertabsagen erzwingt und den jamaikanischen homophoben Imperativ regelmäßig wie einen räudigen Hund durch die Medien jagt. In Wahrheit jedoch ist der deutsche Reggae von Schwulenfeindlichkeit so weit entfernt wie Jamaika von einer blühenden Nation und die Ablehnung der Homosexualität sicherlich keine jamaikanische Erfindung. Gehen wir noch einmal zurück auf Anfang und erinnern uns, dass das Land im Laufe seiner Geschichte zum Freiwild wurde für unzählige Kirchen, Sekten und Religionsgemeinschaften, dann wird verständlich, was Carolyn Cooper, Professorin für Cultural Studies an der „University of the West Indies“ in Kingston, 2004 in einem Interview mit einem deutschen Radiosender beschrieben hat: „Es hat damit zu tun, dass wir Jamaikaner auf sehr fundamentalistische Weise mit der Bibel und dem alten Testament aufwachsen. Was da drin steht, wird wortwörtlich genommen und ist für viele Jamaikaner Gesetz. Es gibt einerseits den gesellschaftlichen Konsens, dass Homosexualität abzulehnen ist. Diese Schwulenfeindlichkeit existiert aber ganz abstrakt, während Schwule und Lesben im Alltag als Tatsache zur Kenntnis genommen werden und ihnen auch niemand das Recht zu leben abspricht. Ich weiß, ich bewege mich auf rutschigem Boden, aber ich sage: Auch wenn die Texte noch so brutal und hasserfüllt scheinen, so sind sie doch nur metaphorisch gemeint. Unser Hauptproblem ist, dass wir allgemein in einer sehr gewalttätigen und brutalen Gesellschaft leben. Es ist kein Wunder, dass Texte der Deejays und Sänger dies transportieren.“

Die deutsche Lebensrealität hat mit der jamaikanischen bekanntlich überhaupt nichts gemein und doch kommt von hier ein Mann, ein Pastorensohn, über den in manchen Ländern mit vorgehaltener Hand geflüstert wird: Er könnte Marleys Nachfolger werden. Er hat die Aura. Für Deutsche ein undenkbarer Gedanke, da ist Gentleman Pop. Fakt jedoch ist, dass der Kölner weltweite Anerkennung genießt und außerhalb Europas teilweise sogar abgöttisch verehrt wird. Gentleman vertritt keine Message, er ist die Message. Sicherlich keine militante, aber gewiss auch nicht „harmlos“, wie die SPEX unlängst meinte. Mit dem von ihm immer wieder zitierten ancient formular „for a better tomorrow“, das wir schon bei den African Brothers gefunden haben, belegt er, wie sehr sich der Reggae verändert hat, wenn heute ein weißer Sänger über den Globus zieht und verkündet: „Jah Loving Is Superior“. Während Gentleman innerhalb der einheimischen Szene mittlerweile vor dem Problem steht, dass dem Deutschen Erfolg verdächtig ist, agieren Akts wie Ganja-, Mono Et Nikitaman mehr auf der subversiven Ebene. Bei ihren Konzerten avancieren sie mit langen Monologen zum Sprachrohr der Empörung ihres Publikums, sind Vertreter eines rebellischen Edutainments in der Tradition des Reggae-Postulats „Teach the youths the truth“. Anlässlich des von der rechtspopulistischen Organisation ProKöln einberufenen europaweiten „Anti-Islamisierungs-Kongress“ holen Mono Et Nikitaman im Juli 2007 in einem Fußballstadion vermummte Straßenkämpfer der Antifa auf die Bühne, lassen das Licht löschen und die Arena vom Feuer bengalischer Fackeln beleuchten. Judgement time ina Germany! Ein hochemotionaler Moment, der von über 8.000 Zuschauern begeistert gefeiert wurde.

Die Gleichung Reggae=Rasta=Bob Marley hat noch nie gestimmt und stimmt heute erst recht nicht. Schon vor 20 Jahren betonte Bunny Wailer: „Reggae music is not a church music, although it prophecies and philosophies“, und auch erste Rastafari-Denker beklagen, dass Reggae alsTransportmittel ihrer Überzeugung genutzt und verstanden wird. Es ist wie mit der Mengenlehre. Obwohl es viele Übereinstimmungen gibt, sind es zwei verschiedene Dinge: Rastafari ist mehr als nur die ideologische Basis der Reggaemusik. Es ist – wie es Werner Zips, Professor für Sozialanthropologie an der Universität in Wien, ausdrückt – eine „universelle Philosophie im 3. Jahrtausend“. Und Reggae ist mehr als nur die Propagandamaschinerie des Rastafari-Glaubens. Reggae ist getanzter Widerstand, der Soundtrack zum „Fight For Your Rights“.

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