Welt macht Musik

Diese Geschichte handelt von der Sehnsucht nach einer harmonischen Welt. Sie erzählt aber auch von der Ignoranz des Westens und dem falschen Glauben an eine musikalische Leitkultur. Wieso hatte ein weißer Bengel wie Elvis eigentlich so großen Erfolg, als er anfing, wie ein „Nigger“ zu singen? Weil wir das Fremde nur dann akzeptieren, wenn es uns möglichst ähnlich ist? Mit dem Begriff „Weltmusik“ erfanden Marketing-Spezialisten in den 8oer Jahren eine gigantische Schublade für jede Form nicht westlicher Musik. Field-Recordings von Gamelan-Musik landeten dort ebenso wie der Rai von Cheb Mami und „Asia-Lounge“-Compilations voller müder Beats, „authentischer“ Instrumente und entrückt klingender Frauenstimmen.

Doch Popmusik ist nun mal ein Piratenschiff- immer schon gewesen. Jede technische Neuerung sorgte dafür, dass die Eroberungszüge üppiger ausfielen: Von den ersten Flugreisen über die Verbreitung von Radio und Fernsehen bis zur Erfindung der totalen Gleichzeitigkeit durch das Internet. Die Exotica von Martin Denny und der zart tänzelnde Bossa „Nova von Antonio Carlos Jobim waren der Soundtrack für das zunehmende Fernweh der aufsteigenden amerikanischen Mittelschicht in den frühen Sechzigern. Die Hippies suchten ein paar Jahre später Bewusstseinsveränderung in den spirituellen Welten und farbenprächtigen Klängen Indiens. Und in den Achtzigern frönte man dem Mythos vom Rhythmus, der den Weißen verloren gegangen sei, uns aber glücklicherweise von den braven Menschen der sogenannten Dritten Welt zurückgebracht wurde. Wer erinnert sich nicht an die damals oft von altlinken Schwärmern veranstalteten Multikulti-Sommerpartys? Deutsche in übertrieben bunten Hawaiihemden schwenkten dort gutgelaunt Gläser voller Mojito, während sich auf der Bühne schwarze Musiker mühten, den Erwartungshaltungen des Publikums gerecht zu werden. Ein Hauch von „Cotton Club“ wehte auch durch die Konzerte der „alten Kubaner“, die Ende der Neunziger den ökonomischen Erfolg der Weltmusik entgültig besiegelten. Doch letztlich sagt der Siegeszug des Genres mehr über die Sehnsüchte des Publikums aus als über die Musik selber, deren Konturen im globalen Klang-Pool zwangsläufig verschwimmen.

Dass die echte Beschäftigung mit Folklore und ethnischer Musik eine inspirierende Erfahrung sein kann, soll nicht verschwiegen werden. Vor einigen Jahren präsentierte der NDR im Rahmen eines Abends mit zeitgenössischer klassischer Musik einen Pygmäen-Chor aus Zentralafrika. Da standen fast nackte Menschen, die tatsächlich so etwas wie Baströckchen trugen und den Urwald zum Teil noch nie verlassen hatten, in einem nüchtern ausgeleuchteten Sendesaal. Das Publikum bestand primär aus Musikliebhabern nahe dem Greisenalter, doch dawar keine Herablassung, kein Dünkel – nur echte Rührung und Ergriffenheit. Eine rhythmisch so komplexe Polyphonie. eine so wunderbare Vokalmusik hatte man noch nie gehört. Aber man fühlte sich auch schuldig, weil man ahnte, dass die Zivilisation diese abgeschottete Kultur bald ebenfalls mit MP3-Playern und bunten Klamotten versorgen würde. Doch für eine Stunde war da alles, wonach viele Musiker ihr Leben lang suchen: nie gehölte Klänge, die im Leben der Musiker fest verankert sind und deren Realität musikalisch abbilden. Wir können dabei zuhören, doch um diese Musik wirklich zu verstehen, müssten wir schon in den afrikanischen Regenwald übersiedeln – ein zentrales Dilemma bei der ernsthaften Auseinandersetzung mit authentischer ethnischer Musik.

Vor diesem Hintergrund hat es etwas rührend Naives, wenn jetzt-wie überall zu lesen ist-die Indie-Szene den Afrobeat entdeckt. Vampire Weekend und Foals verwenden in ihrer von Rock und NewWave dominierten Musik tatsächlich afrikanische Elemente – und zwar durchaus gelungen. Bemerkenswert ist das aber nur deshalb, weil die Freunde des Gitarren-Pop üblicherweise beim Altbewährten bleiben. Ein kleiner Schritt wird jetzt als Erfolg gefeiert, so als hätte es die Talking Heads nie gegeben.

Auch in der stets nach neuen Reizen gierenden Club-Kultur verwendet man derzeit gerne Klänge und Rhythmen aus exotischen Ländern. In den letzten beiden Jahren marschierten vor allem Blaskapellen aus dem Balkan über Bühnen und Tanzflächen, während DJs wie Shantel ausgelassene Datscha-Partys feierten. Eine Saison vorher sorgten Bollywood-Partys und Panjabi MC für multikulturelle Abwechslung. Doch die wahre Weltmusik, das gilt schon längst als Binsenweisheit, wird von Madonna, U2 und 50 Cent gemacht.

Aber was passiert eigentlich, wenn ein junger Brasilianer aus den Favelas von Rio de Janeiro seinen amerikanischen Rap‘ und Funk-Idolen nacheifert? Dann entsteht ein so unfassbar vitaler Bastard wie Baile-Funk: Baile-Funk ist Großstadtchaos in Bass-Moll, das Mädchen von Ipanema auf Crack – billig, grell, authentisch und kühn. In Marcel Camus‘ Filmklassiker „Orfeu Negro“ von 1959 wirkten die Favelas, zart untermalt vom damals brandneuen Bossa Nova, noch fast wie ein Idyll. Heute bewegt man sich dort wie in einen Kriegsgebiet mit unklarem Frontverlauf. Die Veranstalter von Favela-Partys sind oft Drogengangs, die ihren Umsatz steigern möchten, indem sie über die Musik neue Zielgruppen erschließen. „Von Handgranaten über Maschinengewehre bis hin zu Raketenwerfern sind auf solchen Partys alle Waffentypen vertreten‘, berichtet der Berliner DJ Daniel Haaksman, der auf seinem Label Man Recordings ausschließlich Baile-Funk veröffentlicht. „Das ist trotz allem schamlose Party-Musik mit Anklängen an Rave, Miami-Bass und die frühen Produktionen von Def-Jam“, sagt der Mittdreißiger. Auf den beiden „Rio Baile Fun“-Compilations, die Haaksman für das Frankfurter Essay-Label zusammengestellt hat, hören wir Tracks wie EDU ECs „Sex-O-Matic“, deren portugiesischen Text man nicht verstehen muss, um zu ahnen, worum es geht: „BaileFunk wird in den großen Medien immer mit der Gewalt assoziiert, die in den Favelas herrscht“, sagt der in Rio lebende Fotografen Vincent Rosenblatt, ein Chronist und Kenner der Szene. „Doch die Gewalt ist eingefangen in der Musik und den drastischen Texten und führt nicht zu wirklicher Gewalt. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass man auf Favela-Partys niemanden anfasst, bis man die andere Person gut kennt. Und niemand ist dumm genug, einen Kampf anzufangen.“

In den USA, Australien und England ist Baile-Funk bei einem überwiegend weißen Publikum bereits relativ erfolgreich. Etwas weniger authentische Künstler wie der Produzent DJ Diplo, die Rapperin M.I.A. und die Band Bondo Do Role erreichen auch bei uns ein wachsendes Publikum. Doch der pure Stoff“ ist für deutsche Ohren noch zu gewöhnungsbedürftig: „HipHopper und ReggaeFans stehen drauf“, weiß Daniel Haaksmann, der in Berliner Clubs wie dem „103“ regelmäßig Baile-Funk auflegt. .Aber die klassische Worldmusic-Klientel kann mit dem Sound wenig anfangen. Weil das folkloristische Brasilien-Klischee im Baile-Funk in keiner Weise bedient wird“.

Auch Detlef Diederichsen, musikalischer Programmgestalter im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“, weiß von den Weltmusik-Klischees einer ganz bestimmten Klientel: „Die Musik soll möglichst akustisch sein und eine alte Kultur repräsentieren, dazu weit wegsein von Urbanität und dem komplexen Leben der Gegenwart. Indem wir die Dinge in einen Kontext rücken, versuchen wir, in unserem Programm die Romantisierung wegzunehmen und die Klischees zu bekämpfen, um eine andere, immanentere Beurteilung der Musik zu ermöglichen.“ Das „Worldtronics“-Festival, das im letzten Jahr im „Haus der Kulturen der Welt“ stattfand, präsentierte deshalb nicht alte Folklore, sondern Elektronische Musik aus aller Welt. „Man hört israelischen oder chilenischen Elektronik-Musikern nicht an, woher sie kommen. Das führt zu dem interessanten Phänomen, dass die geografische Ordnung praktisch aufgehoben ist“, sagt Diederichsen. Der Höhepunkt der „Worldtronics“ war vermutlich Konono Nol, ein Likembe-Orchester aus dem Kongo. Likembe heißen die dumpf schnarrenden Fingerklaviere, deren Eisenlamellen meist aus alten Autofedern geschmiedet werden. Die Klänge, die Konono Noi diesem schlichten Eigenbau-Instrument (und diversen Trommeln und Xylofonen) entlocken, sind absolut atemberaubend und werden verstärkt durch meterhohe Boxentürme, die alles um sich herum zum Beben bringen. .Anders als die überforderte Batikhemdfraktion, feiern gerade westliche Punk- und Elektronika-Fans die kongolesischen Likembe-Orchester als Bindeglied zwischen Ethnokult und Moderne“, schwärmte seinerzeit die „Süddeutsche Zeitung“. Und Björk oder Dämon Albarn haben bereits mit Konono Noi musiziert. Beide Künstler setzten sich schon länger und ausgesprochen respektvoll mit außereuropäischen Musiken auseinander.

Doch viele Produzenten sehen in Rhythmen, Melodien und Instrumenten anderer Völker auch im negativen Sinn eine Art Klangarchiv: DJ Quik verwendete für die von Truth Hurts gesungene Hit-Single „Addicted“ unerlaubt den Lata-Mangeshkar-Song „Thoda Resham Lagta Hai“. Er habe das Stück im Radio gehört, mitgeschnitten und dann eben verwendet, behauptete der Produzent, als man ihn mit einer 500-Millionen-Dollar-Copyright-Klage konfrontierte. Er hatte in seiner bornierten Arroganz vermutlich geglaubt, im fernen Indien würde der Ideen-Klau nicht auffallen. Doch auch in dieser Hinsicht hat sich in der globalisierten und vernetzten Musikwelt einiges verändert. Selbst kolumbianische Lo-Fi-Bands wie Las Malas Amistades (deren zweites Album „Patio Bonito“ gerade erschienen ist) besitzen heute eine eigene MySpace-Seite. Und Musiker aus Angola benutzen natürlich längst YouTube und eigene Blogs, um ihre Kuduru-Tracks zu vermarkten.

Einen großen Bogen um jede Form von Exotik macht die Compilation „International Sad Hits Volume One: Altdic Languagp Group“. Dämon & Naomi, einst zwei Drittel von Galaxie 500, präsentieren hier vier Singer/ Songwriter aus Ländern, die man eigentlich nicht mit Singer/Songwritern assoziiert: Tomokawa Kazuki und Mikami Kan stammen aus Japan, Kim Doo Soo kommt aus Korea, und Fikret Kizilok ist Türke. Jeder dieser Musiker blickt auf eine jahrzehntelange Karriere zurück, und die Songs (der älteste ist von 1971) sind wirklich unfassbar gut. Man möchte hineinkriechen in diese Lieder, die so vertraut klingen und sich dennoch ein großes Geheimnis bewahrt haben. Es macht eben doch einen Unterschied, aus welcher Perspektive man einen klar definierten Stil betrachtet und aufgreift.

Ahnlich — wenn auch mit ganz anderen Klängen – funktioniert die Musik der türkischen Post-Punk-Noise-Rock-Band Replikas. Anlässlich des von Wharton Tiers produzierten aktuellen Albums „Avaz“ schwärmt die New Yorker „Village Voice“ von „the planets best current Psych-Band“. ^Vas der eigenwilligen Band ein wenig Unrecht tut, denn der harte, variantenreiche Klang ihrer Musik lässt sich nicht auf eine Nische reduzieren.

„Viele wissen gar nicht, dass es auch türkischen Rock gibt. Dabei ist der sehr groß in der Türkei. Oft werden eben eher Erwartungen projiziert, anstatt zu sehen was wirklich ist“, behauptet Ipek Ipekcioglu. Die junge Kreuzbergerin, die als DJ Ipck auch den multikulturellen, lesbisch-schwulen „Gayhane“-Club im „SO 36“ bespielt, hat in den letzten beiden Jahren zwei exzellente Compilations zusammengestellt. Besonders interessant ist ihre Zusammenstellung „Import Export A La Turka“, die den Untertitel „Turkish Sounds from Germany“ trägt. Hier hört man erst das deutsche Duo Sender Freie Rakete mit „Istanbul-Berlin“, einem new-wavigen Loblied auf die Kreuzberger Multikulti-Atmosphäre, und erlebt kurz darauf ein Stück, das einem den Atem stocken lässt: „Warum kannst du mich nicht lieben?“ vom Bremen Imigrant Orchester und der Sängerin Sema Mutlu ist purer Arabesk —emotional, pathetisch, atemberaubend. Das Klagelied einer unglücklich verliebten Frau scheint aus einem anatolischen Paralleluniversum zu kommen und ist berührender und schöner als 99 Prozent der deutschen Pop-Produktion.

Es wird Zeit, dass wir uns in Deutschland so bewusst und kreativ mit der Kultur unserer Einwanderer auseinandersetzen, wie man das in England schon seit Jahrzehnten tut. Die Zeiten des sehnsüchtig staunenden Exotismus sind vorbei, und wir müssen nicht mal mehr in die Ferne schweifen — die Weltmusik ist längst schon hier. Gehen Sie doch mal durch Hamburg-Ottensen, Frankfurt-Griesheim oder Berlin-Kreuzberg.

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