Wesen im Treibsand

Die Kurzgeschichte markiert den eigentlichen Beginn meiner literarischen Laufbahn vor 25 Jahren“, sagt er rückblickend, „und das erste, was ich damals veröffentlichte, waren Kurzgeschichten.“ Zu dem aber, was Sympathisanten als seinen Durchbruch bezeichnen, verhalf ihm erst sein 1997 erschienener Roman „Adalina“; ein Buch, das geschmeidig und ganz und gar unschweizerisch daherkam, und den 1954 in Chur geborenen Erzähler, Drehbuchschreiber und Hörfunkautor Silvio Huonder quasi über Nacht in die erste Reihe jüngerer deutschsprachiger Erzähler katapultierte. Zwei Jahre später folgte der Roman „Übungsheft der Liebe“ – und Huonder war das geglückt, was man einen Traumstart nennen darf: Er hatte sich nicht nur in der Schweiz neben Kollegen wie Hansjörg Schertenleib oder Martin R. Dean als feste literarische Grosse etabliert, sondern auch das deutsche Feuilleton mit seinen Romanen im Handstreich geentert.

Sein Blick allerdings war schon damals ganz gen Deutschland gerichtet. Die logische Konsequenz: Huonder siedelte Mitte der 80er Jahre nach Berlin über, wo er heute noch lebt. Auf den Begriff „Heimat“ angesprochen, fällt es ihm inzwischen schwer, eindeutig Position zu beziehen. „Schließlich lebe ich inzwischen so lange außerhalb der Schweiz, dass es in vielerlei Hinsicht verkürzend wäre, wenn ich mich trotzdem als Schweizer Autor begreifen würde.“

Huonder, der auch eine Zeitlang in Österreich lebte, ist vielmehr das, was man einen Weltbürger nennt, der mit Haut und Haaren in der Sprache zu Hause ist – ein Schriftsteller durch und durch. Doch dann, Mitte der Neunziger, wurde es plötzlich still um den Mann, der in Graz Musik und darstellende Kunst studierte und als Bühnenbildner arbeitete, ehe er sich an der Berliner Hochschule der Künste einschrieb — und Szenisches Schreiben studierte. Der Name Huonder tauchte nur noch sporadisch auf, kam die Rede aufspannende Schweizer Gegenwartsliteratur. Namen wie Peter Stamm oder Lukas Bärfuss hatten den gebürtigen Churer unversehens in die zweite Reihe verdrängt.

2006 aber, also fast zehn Jahre nach seinem spektakulären Debüt, meldete sich Huonder mit einem betörenden Stück Literatur zurück, dem Kurzroman „Valentinsnacht“, der auf gerade mal 188 Seiten die mitreißende Geschichte des Meteorologen und wunderlichen Einzelgängers Fedo Paulmann beschwört, der im Berlin dieser Jahre an die nicht minder eigenwillige Katarina gerät —und damit in das verrückteste Abenteuer seines Lebens schlittert. Und nun – knapp 18 Monate später – das: ein Band mit 14 Kurzgeschichten, die zweifellos zum Besten und Berührendsten zählen, was in den letzten Jahre an deutschsprachiger Kurzprosa erschienen ist. Stories, in deren Zentrum kleine Opfer stehen, Wesen, die wie auf Treibsand gehen. „Auszuholen und etwas auf wenigen Seiten darstellen zu können, und selbst dahinter zurück zu treten, das reizt mich“, erklärt der Autor mit Blick auf die von ihm meisterhaft beherrschte sogenannte „kleine Form“. .Außerdem zählt in einer Story jeder Satz. Da kann man sich nicht verstecken.“

Und immer ist er dabei auf der Suche nach einer Sprache, die fähig ist, Gefühle wie Kummer, Verlorenheit, Liebe, Enttäuschung und keimende Zuversicht einzufangen. In Sätzen von kristallener Härte gelingt ihm schließlich das Kunststück, das Unerklärliche menschlicher Regungen auf engstem Raum zu bannen. „Manchmal ist es eine winzige Beobachtung oder eine eigene, scheinbar unbedeutende Erfahrung, die eine neue Geschichte in Gang setzt“, beschreibt Huonder den Impuls, der das Schreiben motiviert. „Außerdem gefällt mir der Arbeitsrhythmus beim Schreiben von Geschichten, ich bin quasi vom Langläufer wieder zum Sprinter geworden. Das Verfassen von Geschichten trat lange in den Hintergrund zugunsten der Romane, doch im Laufe der letzten zwei, drei Jahre ist die Kurzgeschichte wieder wichtiger für mich geworden.“

Silvio Huonder beschreibt in seinen jetzt unter dem Titel „Wieder ein Jahr, abends am See“ erschienenen Geschichten Menschen, die auf dem schmalen Grat zwischen Alltag und Katastrophe balancieren. Und er tut es in einer täuschend sanften, lakonischen Prosa, deren Ton der Dramatik der Ereignisse nicht selten hohnspricht. Angefangen bei der Auftaktgeschichte, dem preisgekrönten Stück „Tobi“, in welchem wir einem Jungen über die Schulter blicken, der sich schuldig fühlt am langsamen Irrewerden seiner Mutter. Behutsam und wie in Zeitlupe rollen sich die Bilder des lautlosen Grauens vor uns ab – und jeder Satz, den Huonder für die Gefühle seines sprachlosen kleinen Helden findet, geht wie eine Nadel unter die Haut.

Er hat sein Handwerk bei den großen Russen und Amerikanern gelernt – Gogol, Tschechov, John Cheever oder Richard Yates -, an denen sich seine Geschichten in ihren besten Momenten durchaus messen lassen können. Sie sind lebendig und erschütternd und so farbig und vielfältig wie das Leben selbst. Mal inszeniert als Kammerspiel wie in der bereits erwähnte Geschichte Tobi“. mal zart und poetisch. Und wenn die sich zunächst verfolgt fühlende Taxifahrerin in dem Stück „Feierabend“ am Ende unversehens zur Retterin einer verlorenen Seele wird, so nur deshalb, weil dieser Erzähler ein Meister in der Schilderung eintretender Umschwünge ist, und – anders gesagt – in seinen Geschichten vieles anders kommt, als es seine Figuren wahrhaben wollen. Silvio Huonders Kunst besteht darin, in traumgleichen, blitzlichthellen Sequenzen genau jenen Moment festzuhalten, in dem seine Protagonisten erkennen, dass in der scheinbar vertrauten Welt tiefe Risse klaffen. In ihrer virtuosen Mischung aus Entsetzen und Erleuchtung kommen sie dem Geheimnis unserer Existenz einen Schritt näher.

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