Wir gehen zur Wahl

"Nach all den Jahren nehme ich es einfach, wie es kommt."

Auf der Suche nach den kleinen und größeren Ärgernissen in einem Land, das wieder einmal vor einer Wahl steht. Ein enragiertes Tagebuch.

1O1 (Tage bis zur Wahl) Wir sind überrascht, dass Jürgen Habermas nun schon 80 Jahre alt ist, und erfahren am gleichen Tag, dass am Vortag einer anderer 80-Jähriger, Ralf Dahrendorf, gestorben ist. Das in die Vergangenheit flanierende Gedächtnis erinnert sich, dass beide – Habermas und Dahrendorf- ihre Sträuße mit Rudi Dutschke ausgefochten hatten: Dahrendorf am Rande des 19. Bundesparteitags der FDP am 30. Januar 1968 auf dem Dach eines Autos, damit die Zuhörer auch etwas zu sehen bekamen, Habermas auf dem Kongress „Bedingungen und Organisation des Widerstandes“ in Hannover am 9. Juni 1967, dem Tag der Beisetzung Benno Ohnesorgs in Hannover. Da machte sich Habermas vor 5000 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Sporthalle der Stadt nicht gerade beliebt, als er feststellte: „Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag, wie ich zu meinem Erstaunen nachher festgestellt habe, nur vorgetragen, dass ein Sitzstreik stattfinden soll, das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde, um eine voluntaristische Ideologie zu entwickeln (…), die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, die man unter heutigen Umständen -jedenfalls glaube ich, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen – linken Faschismus nennen muss.“ Und es geschah nichts. Es war spät, der Tag war elend lang gewesen, alle wollten nach Hause. Schon bald zog Habermas den „linken Faschismus“ zurück. Aber er blieb kleben. Bis heute.

89 Wir erfahren vom Tod der Pina Bausch und versuchen, uns zu erinnern, ob wir jemals irgendetwas darüber gelesen haben, dass die politische Nomenklatura der Bundesrepublik Deutschland bei den Premieren der Inszenierungen dieser Tänzerin und Choreografin aufgetaucht ist. Aber in wenigen Wochen, wenn es in Bayreuth auf einem Hügel wagnert, werden sie sich wieder drängeln, erst vor den Kameras und TV-Kameras, dann in den vorderen Reihen, um einer Inszenierung von „Tristan und Isolde“ beizuwohnen, die schon 2005 bei der Premiere mehr durch- als aufgefallen war.

84 Wir fanden den CSU-Politiker Peter Ramsauer schon immer klug und clever. Jüngstes Beispiel: Befragt nach seiner Urlaubslektüre, nennt er Wendelin Wiedekings „Anders ist besser: Ein Versuch über neue Wege in der Wirtschaft und Politik“. Und warum? „Ich will nachlesen, wie jemand, der zunächst der Politik die Leviten liest, hernach zum millionenschweren Bittsteller beim Staat werden kann. Ich verspreche mir davon, dass ich nach der Lektüre solche belehrenden Manager noch härter bei ihren eigenen Worten nehmen kann.“

82 Wir hoffen immer wieder auf Einsicht und Wandel. Aber: „Vattenfall entdeckt Fehler und macht weiter. Nach dem Kurzschluss im Transformator wurde auch ein beschädigtes Brennelement entdeckt. Von einer Abschaltung des Kernkraftwerks Krümmel ist aber keine Rede“, schreibt die „FAZ“. In der „taz“ hätte es statt „Kernkraftwerk“ „Atomkraftwerk“ geheißen.

81 Wir stolpern über eine Bildzeile unter einem Foto aus Ürümqi, wo es blutige Zusammenstöße zwischen chinesischen Uiguren und chinesischen Chinesen gegeben hat. Das Bild zeigt in der linken Hälfte abziehende Polizisten in Marschordnung und auf der rechten Seite eine Frau und einen Mann in robuster Wetterkleidung. Er trägt mit links eine Tasche, sie hat Schals um ihr Basecap geschlungen, ihre Hände stecken in Handschuhen, ihr Füße in Turnschuhen. Die Bildzeile lautet: „Ein muslimisches Ehepaar beobachtet in der uigurischen Hauptstadt Ürümqi chinesische Polizisten.“ Woher weiß der Text das alles? Woran erkennt man den Glauben eines Menschen? Am Basecap, an den Handschuhen, an der Wetterkleidung?

😯 Wir sind nicht überrascht, dass nur drei Jahre nach der 24. nun schon die 25. Auflage des Rechtschreib-Dudens erscheint, selbstredend als eine „völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage“. Verschwunden sind so gefühlsselige Begriff wie „Genüssling“ und „Cochonnerie“, was beileibe nicht nur eine Schweinerei ist, sondern geradezu eine wunderbare Schweinerei wie etwa Wonnebibber mit Vanillesauce. Dazugekommen sind Anglizismen satt: von „IT-Girl“ über „Clutch“ bis hin zu „Bad Bank“, „No-go-Area“ und „twittern“. Das verstehen nicht alle. Alle verstehen aber auch nicht was eine „Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“ ist, obwohl diese 67 Anschläge auf die deutsche Sprache deutsch sind. Sehr deutsch sogar.

80/2 „Wir werden alle sterben, haltet euch bereit“, singen Knorkator. Und nichts stimmt so sehr wie dieser Satz. Nach einer von Hamburger Rechtsmedizinern durchgeführten Studie sind viele ältere und alte Menschen kurz bevor sie sterben in einem alarmierenden Pflege- und Gesundheitszustand. 8518 Menschen wurden post mortem untersucht. Manche von ihnen waren erst mehr als drei Tage nach ihrem Tod gefunden worden. Rund 15 Prozent der untersuchten Toten waren unter-, 35 Prozent übergewichtig, 3,3 Prozent hatten schwere Druckliegegeschwüre, viele gar keine Zähne oder so schlechten Zahnersatz, dass Essen und Sprechen erschwert gewesen sein müssen. „Wir alle sterben in Windeln“, sagt Daisy alias Cate Blanchett in dem Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“. Möglicherweise ist das nicht das Schlimmste.

79 Wir sind erstaunt, dass ein Mann wie Dieter Salomon, Mitglied der Grünen, als solcher zum Oberbürgermeister von Freiburg gewählt, als soleher Präsident des baden-württembergischen Kommunalen Arbeitgeberverbandes (KAV), zu einer „gesellschaftlichen Ächtung“ des Kita-Streik aufruft und die Arbeitgeberseite auffordert, ja hart zu bleiben. Gut 14 Tage später waren die Harten weichgekocht.

79/2 Wir kennen die IJU auch nicht. Aber das ist weniger bedenklich als die Tatsache, dass die „Islamische Dschihad Union“ möglicherweise ebensowenig den Mitgliedern der terroristischen „Sauerland-Gruppe“ bekannt ist. Laut Anklageschrift sollen sie doch seit 2006 Mitglied und Terrorzelle der IJU sein, von der wiederum Menschenrechtler aus Usbekistan behaupten, sie sei eine reine Erfindung des usbekischen Präsidenten Islam Karimow. Bleibt es also dabei, dass die drei Männer 2007 genau in dem Moment festgenommen worden waren, als sie Bomben bauten, um Anschläge auf amerikanische Einrichtungen in Deutschland auszuüben.

79/3 Wir glauben, dass sogenannte Sterneköche nicht unbedingt Fachidioten sein müssen, um in ihrem Metier zu reüssieren, aber es überrascht schon, dass Dieter Müller, Mario Kotaska und Kolja Kleeberg Werbung für einen Lebensmittel-Discounter machen, der jüngst durch eine Bespitzelungsaffäre einen deutlichen Image-Schaden erlitten hat und sich nun anstrengen muss, ein wenig besser dazustehen. Da sind die Sterneköche nichts anderes als nützliche – naia usw..

78 Wir sahen uns beim Hören und Lesen deutscher Medien unmittelbar in hochkolonialistische Zeiten zurückversetzt, als US-Präsident Barack Obama nach Ghana und Kenia reiste und den Menschen dort Mut zusprach mit der einfachen Formel „Yes, you can“ und so seine „schwarze Hautfarbe“ (O-Ton Radio) fast zu Markte trug, ohne allerdings zu Schaden zu kommen. So sah niemand das „afrikanische Blut“ (O-Ton Zeitung), das in seinen Adern fließt. So ganz schwarz ist ja Barack Obama nicht, eher ist er ein Mischling, der dem Schönheitsideal in Schwarzafrika entspricht. In der Politik hätte es Barack Obama mit dieser Hautfarbe in Afrika allerdings nicht leicht. „Braune“ Mischlinge stoßen dort häufig auf Vorurteile.

77 Wir verabschieden uns von Sascha Lobo, der sich für die Werbekampagne des Konzerns Vodafone „Es ist deine Zeit“ zur Verfügung gestellt hat. Auch wenn wir den Vorwurf, er tue dies aus reiner Geldgier, überzogen finden – die reine Geldgier ist in diesen Wochen und Monaten woanders zu Hause. Eher vermuten wir, dass der Internetaktivist, Online-Berater der SPD, Irokese, Blogger, Firmeninhaber, die Integrationsfigur der digitalen Subkultur, mit seiner Bereitschaft zur Teilnahme an der von der Agentur Scholz & Friends entworfenen Werbekampagne Vodafone in eine Glaubwürdigkeitskrise stürzen wollte. Schade nur, dass es dieses Einsatzes gar nicht mehr bedurfte.

77/2 Wir wissen nicht, ob wir uns freuen oder besser eine Runde hämen sollen: Neuer Botschafter der USA in der BRDeutschland wird der 52-jährige Philip Murphy, ein gelernter Investmentbanker bei Goldman Sachs, der seinen Job aufgab, um als Finanzchef Geld für den Wahlkampf der Demokraten einzusammeln. 640 Millionen kamen so zusammen. Obama war begeistert. Jetzt dankt er es ihm. Die deutschen Medien jubeln, der neue Mann am Pariser Platz mag die Deutschen. Für einen Botschafter ist das – beachtlich.

76 Wir finden im Internet eine Studie mit dem Titel „Deregulierung in der öffentlichen Debatte in Deutschland“, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellt und im Mai veröffentlicht wurde. Darin sind öffentliche Äußerungen von führenden deutschen Politikern und wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatern zu Deregulierungsforderungen im Zeitraum Frühjahr 2003 (Schröder hält seine Agenda-2010-Rede) bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise 2007 versammelt. Auffällig sei, so die Studie, dass die Volkswirte deutlich stärker für Deregulierung und Rückbau des Staatseinflusses waren als fast alle Politiker. Bei den Politikern seien die FDP-Vertreter die größten Befürworter von Deregulierung, gefolgt von Unionspolitikern. Für die festgestellte Diskrepanz zwischen verbalen Äußerungen gegen und politischen Handeln für weitere Deregulierungsmaßnahmen bei vielen, vor allem SPD-Politikern sei die einzig sinnvolle Erklärung, „dass die Politiker Deregulierungsschritte eigentlich für richtig halten, ihre Wähler aber über ihre wahre Intention täuschen wollen, um von diesen wiedergewählt zu werden.“ Eine für unsere Wahlentscheidung möglicherweise nützliche Erkenntnis.

75 Wir lesen mit einer klammheimlichen Freude, wie Arbeitskämpfe in Frankreich ablaufen, wenn der Verlust von Arbeitsplätzen, also Arbeitslosigkeit droht. Da wird schon mal ein Unternehmer gekidnappt und so zum unfreiwilligen Besetzer der eigenen Chefetage, da wird mit der Sprengung eines ganzen Werkes nicht nur großmäulig, sondern ganz handfest gedroht, indem Batterien von Gasflaschen so aufgebaut und scharfgemacht sind, dass von nun auf jetzt alles in die Luft fliegen könnte. Diese Form der Drohung ist nicht neu im Nachbarland: 2000 drohten Mitarbeiter der Fabrik Cellatex, giftige Chemikalien in die Meuse (Maas) zu kippen, 2001 setzten Beschäftigte von Moulinex die Explosionsdrohung ein, um die Abfindungen in die Höhe zu treiben. Im April dieses Jahres randalierten Continental-Mitarbeiter in der Unterpräfektur von Compiegne. Ein Sarkozy-Berater befürchtete eine „soziale Explosion“. Aber da war sie schon längst da.

74 Wir finden es komisch, wenn die CDU-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen Hessens und Thüringens fordern, dass jeder Schüler in Deutschland mindestens ein Mal während seiner Schulzeit jeweils eine Gedenkstätte besuchen sollte, in der an das Unrecht des NS-Staates und des DDR-Systems erinnert werde. Die Schülerinnen, so dürfen wir das wohl verstehen, bleiben gegenwärtig daheim und widmen sich einer Handarbeit (Stricken, Sticken, Häkeln).

73 Wir sind nicht überrascht, dass der alte SPD-Barde Günter Grass (81) auch diesmal wieder für die Partei, der er trotz seines Austritts im Jahre 1992 verbunden ist, werben wird. Seine Lesereise startet am 8. September in Neuenhagen. Die weiteren Stationen sind Eberswalde, Stralsund, Halle/Saale, Dresden und Berlin.

73/2 Wir kennen den Arbeitgeberpräsidenten Hundt als einen, der tut, wofür er bestellt ist: die Interessen der Arbeitgeber vertreten. Nachdem die Bundesregierung ihren Sozialbericht vorgestellt und einen Höchststand bei den Sozialausgaben vermeldet hat, schlussfolgerte Präsident Hundt, vom Sozialabbau könne also keine Rede sein. „Der deutsche Sozialstaat ist trotz aller Reformen der vergangenen Jahre nicht abgebaut, sondern umgebaut worden.“ Wer nun noch Leistungsausweitungen fordere, gefährde die langfristige Verlässlichkeit des Sozialsystems. Wir greifen an dieser Stelle gern vor und verweisen auf Hundts Konsequenz in allen Diagen, denn nur knapp zwei Wochen später regt der Arbeitgeberpräsident die Vereinbarung von Lohnsenkungen an – für Arbeiter und Angestellte. Bedenklich für die Gewerkschaften ist, dass Präsident Hundt ihnen ein bislang tarifpolitisch vernünftiges Handeln bescheinigt. Lob kann ganz schön weh tun.

72 Wir wüssten schon ganz gerne, wie der CDU-Funktionär aus Waldkirch in Baden-Württemberg heißt, der als Vorsitzender der örtlichen Senioren-Union die SPD-Politikerin Gesine Schwan mit Magda Goebbels, der Ehefrau des NS-Propagandaministers Josef Goebbels, verglichen und ihr eine entsprechende ideologische Verblendung vorgeworfen hatte. Jetzt darf der Namenlose nicht mehr für die Partei auf 1 treten. Aber in der Partei darf er bleiben.

69 Wir wollen gar nicht wissen, dass Hollywood-Stars trotz Millionengagen unvorbereitet zu Dreharbeiten kommen. „John Travolta kann sich keine vier Sätze merken, für ihn musste ich im ganzen Raum Monitore mit seinen Texten verteilen“, erzählt Michael Ballhaus und petzt auch noch gleich, dass Jack Nicholson einen Knopf im Ohr brauche, über den er seinen Text vorgesprochen bekomme. So geht das also bei öffentlichen Auftritten.

67 Wir empfehlen, ganz langsam und ganz aufmerksam zu lesen. Titel: „Obama-Störer kommt in Psychiatrie“. Lauftext: „BERLIN, 21. Juli (ddp). Ein Jahr nach einer Farbattacke vor dem Besuch Barack Obamas in Berlin hat das Landgericht am Dienstag die Unterbringung des 41 Jahre alten Täters in der Psychiatrie angeordnet. Er hatte am Vortag der Rede Obamas an der Siegessäule mit dem Auto die Absperrungen durchbrochen und Farbe auf der Fahrbahn verteilt.“

67/2 Wir wollen mal glauben, dass Allensbach Recht hat, wenn das Institut meint, dass die bevorstehende Bundestagswahl von einer knappen Hälfte der Wählerinnen und Wähler nicht als „Schicksalswahl“ empfunden wird und deshalb mit einer weiter sinkenden Wahlbeteiligung zu rechnen sei. Wir glauben allerdings nicht, dass die Ursache dafür eine stetig wachsende Politikverdrossenheit ist, eher eine Politikerverdrossenheit. Es fällt so leicht, sie satt zu haben. Alle.

66 Wir sind beglückt, dass nun offenbar auch Jürgen Trittin seinen Widerstand gegen das Anstimmen der Nationalhymne der Deutschen aufgegeben hat. Ganz sicher ist er sich selbst jedoch nicht: „Ich habe, glaube ich, neulich bei der Nationalhymne mitgesungen“, hat er gesagt. Das hat niemand, selbst Trittin nicht gemerkt: „Ich singe immer ganz leise. Meine Sangesqualitäten könnten auch als eine Herabwürdigung der Nationalhymne gelten.“ Ach mein Gottchen. Solche Herabwürdigungen sind wir doch gewohnt. Die Top-Ten wird weiterhin angeführt von der Cover-Version des Quartetts „Kohl, Brandt, Genscher Momper“, die am 10. November 1989 auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses erst- und letztmalig der Öffentlichkeit angetan wurde. Seitdem wird immer wieder gefordert, dass alle Nationalhymnen nur noch gesummt und nicht mehr gesungen werden. So kann sich auch jeder seine Strophe denken. Mehr noch: 53 Prozent der Deutschen kennen den Text der Nationalhymne überhaupt nicht. Sie leiden unter einer Nationalhymnenverdrossenheit.

65 Wir hatten nichts anderes erwartet. „Wir haben einen fulminanten Start in die neue Festspielsaison erlebt“, sagte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Die Aufführung von „Tristan und Isolde“ zum Auftakt der Wagner-Festspiele sei beeindruckend und etwas ganz Besonderes gewesen, fügte der Operkenner und Frauenversteher hinzu. Vom Fach waren auch die anderen Gäste neben den Seehofers (sie in silber): die Sauermerkels (silber), die Stoibers (dunkelblau), die Guttenbergs (aprikose), die Ramsauers (aprikose), die Genschers (schwarz), die Atzorns (silber-schwarz), die IlseAigner(bordeaux), die Dagmar Wöhrl (schwarz), Brigitte Zypries (grau geblümt), die Monika Griefahn (halbschulterfrei). Sie alle waren froh, nicht wie Normalsterbliche jahrelang auf ein Ticket gewartet zu haben.

64 Wir zitieren hier mal einfach eine Meldung aus der „FAZ“, um allen, die in die Politik wollen, ein wenig Mut zu machen: „Joke Schauvliege, in der flämischen Regionalregierung seit kurzem für Umwelt und Kultur zuständige Ministerin, hat dem Sender VTR anvertraut, dass sie nicht wisse, wann sie zuletzt ein Buch gelesen habe. Vor ‚höchstens sechs Monaten‘ habe sie eine Theateraufführung einer Laiengruppe in ihrer Heimatgemeinde Evergem angesehen. Die 39 Jahre alte christlich-demokratische Politikerin wurde sogleich kritisiert. Der Schriftsteller Tom Lanoye schrieb: ,Als Kulturminister darf man ruhig sagen, dass man von Tuten und Blasen keine Ahnung hat.'“

63 Wir lesen, dass Uwe Hück zu Wendelin Wiedekings Freunden gehört und dem Scheidenden nachgerufen hat: „Wir sind stolz auf dich, Wendelin. Du bist und bleibst unser Chef.“ Da überrascht es nicht, dass Hück als „Betriebsratschef“ bezeichnet wird. Früher wählte man Betriebsratsvorsitzende. Aber vielleicht ist das bei Porsche alles ganz anders. Denn da wird ja auch einer wie Wiedeking mit 50 Millionen Euro vom Hof gejagt, obwohl er Porsche in die Scheiße spekuliert hat.

62 Wir ahnen, dass das Verteidigungsministerium möglicherweise nicht mehr lange so heißen wird. Erst überraschte das Ministerium mit der Mitteilung, dass im Norden des Iraks gegenwärtig kein kleiner Krieg tobe, sondern nur ein „Stabilisierungseinsatz“. Dann wusste der Stabilisierungminister in spe zu berichten, dass man 14 000 „Stabilisierungskräfte“ für den Einsatz haben wolle und außerdem künftig mehr Stabilisierungspflichtige einziehen werde. Da wird der Herr Jung aber viel Freude haben in einer schwarz-gelben Koalition. Westerwelle und die FDP sind für die Abschaffung der Stabilisierungs- oder auch Wehrpflicht.

62/2 Wir sind sicher, Porsche darf wieder auf Absatzsteigerungen im Inland hoffen, das beweist das Beispiel der 150 000 Haus- und Fachärzte sowie der Psychotherapeuten in Deutschland. Die haben ihre Umsätze in den Jahren 2008 und 2009 um neun Prozent oder vier Milliarden Euro gesteigert. Da musste selbst die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ einknicken: Dieses Plus sei „wahrlich nicht miserabel in Zeiten, in denen viele Arbeitnehmer nicht um Lohn- und Gehaltszuwächse bangen, sondern um ihren Arbeitsplatz. Die Horrorprognosen über die Honorarreform haben sich als Propaganda herausgestellt“.

61 Wir haben es schon geahnt, dass die Stabilisierungskräfte selbst nicht so stabil sind, wie sie sich der Stabilisierungsminister wünscht. Denn bei der stationären Behandlung traumatisierter Stabilisierungskräfte nach Auslandseinsätzen droht bald ein Engpass. Derzeit stehen in den Bundeswehrkrankenhäusern in Berlin, Hamburg, Koblenz und Ulm nur rund 100 Betten zur Verfügung. Man geht davon aus, dass mindestens ein Prozent aller Stabilisieruneskräfte an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkranken. Bislang gibt es 1200 registrierte Fälle. In Afghanistan erkrankten im vergangenen Jahr 226 Mann. Rund halb so hoch ist die Zahl jener US-amerikanischen Stabilisierungskräfte, die sich 2008 gleich umbrachten.

61/2 Wir sehen, wie der Deutsche-Bank-Chef Ackermann im Untersuchungsausschuss zur Hypo Real Estate allen Abgeordneten die Hände schüttelt, und denken noch einmal an die „Rettung“ der HRE, die am Schicksalswahltag 2009 genau ein Jahr zurückliegen wird. Noch bevor die Börse in Tokio am Montag, dem 29. September 2008, öffnete, waren der Bank 35 Milliarden Steuergelder garantiert. Drei Tage später kamen 15 Milliarden dazu. Am Ende waren es 102 Milliarden Euro Rettungshilfe. So kann es kommen, wenn man in einen „fatalen Liquiditätsengpass“ gerät. „Es war ein wirklich interessantes Wochenende“, sagt Ackermann im Untersuchungsausschuss rückblickend auf das Rettungswochenende und erzählt der qualifizierten Zuhörerschaft, wie er in nächtlichen Telefonaten Frau Merkel und Herrn Steinbrück davon überzeugt hatte, dass die Finanzbranche keinesfalls mehr als 8,5 Milliarden Euro der HRE-Verluste werde tragen können. Dies seien, so Ackermann, ernste, konstruktive und freundliche Gespräche gewesen. Auf das Victoryzeichen verzichtete der Josef im Ausschuss. Vielleicht musste er hinter seinem Rücken Zeige- und Mittelfinger über Kreuz legen.

61/3 Wir lesen es gern, aber nicht so oft: „Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken hat Anklage wegen Volksverhetzung gegen den NPD-Fraktionsvorsitzenden im Schweriner Landtag, Pastors, erhoben. Pastors soll auf einer Veranstaltung der saarländischen NPD im Februar Juden und Türken verunglimpft haben. Der Landtag Mecklenburg-Vorpommerns hatte Mitte Juli mit den Stimmen von SPD, CDU, Linkspartei und FDP die Immunität Pastors‘ aufgehoben, (dpa)“

60 Wir sind sicher, dass die Nummer „Der verkaufte Käufer“, die mit Porsche und VW so schön klappte, nicht noch einmal – diesmal von Schaeffler und Continental – durchgezogen wird. Schaeffler geht es ganz schlecht – die Eigner wollen als mittelständisches Prekariat bezeichnet werden -, und Continentals prekäre (sie!) finanzielle Situation ist offenkundig. Sie wurde noch ein wenig offenkundiger dadurch, dass die Reifenfabrik im französischen Clairoix zwar wie vorgesehen geschlossen wird, doch alle 1120 Mitarbeiter erhalten von Continental eine Abfindung von jeweils 50 000 Euro und haben zudem die Möglichkeit, nach der Kündigung Ende 2009 bis zu zwei Jahre lang Qualifizierungsmaßnahmen bei durchschnittlich drei Viertel des früheren Bruttogehalts in Anspruch zu nehmen. (1120 x 50 000 = 56 000 000, aber nicht weitersagen!) 60/2 Wir gucken, obwohl wir Walter van Rossums „Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“ gelesen haben, die „Tagesschau“. Sie meldet uns in ebendieser Reihenfolge:

Die Sozialdemokraten beschließen auf ihrer Klausur, Ulla Schmidt wegen der sogehypten Dienstwagenaffare nicht ins Schattenkabinett zu lassen.

Daimler zieht Quartalsbilanz, verbucht einen Verlust von mehr als einer Milliarde Euro und lässt die Welt wissen, dass man auf dem richtigen Weg sei.

BMW steigt aus der Formel 1 aus und will das Rennbudget in Umwelttechnologien investieren.

Michael Schumacher kehrt zurück zur Formel 1 mit dem Satz: „Ich bin bereit zu helfen.“

Microsoft verabredet eine Partnerschaft mit Yahoo und gegen Google.

In Nigeria versucht eine radikalislamische Sekte, mit blutigem Terror einen Gottesstaat zu errichten. Die Sekte erkennt westliche Werte nicht an.

In Deutschland bleiben immer mehr Frauen kinderlos.

Die Bahngäste haben nun mehr Rechte. Die Lottozahlen. Das Wetter.

Im Vorwort des Buches über die „Tagesschau“ heißt es: „Die Sendung verwandelt die Realität in eine Art endlose Lindenstraße.“ Wir erinnern uns an den Abend, als die Nachrichtensendung uns den Zusammenstoß eines Daniel Küblböck mit einem Gurkenlaster vermeldete. Der Satz „Wer im flachen Wasser badet, kann nicht untergehen“ stammt trotzdem vom einstmaligen RTL-Chef Helmut Thoma.

59 Wir wissen nun, dass die Staatssicherheit der DDR Angst vor Michael Jackson hatte. Also nicht nur vor Udo Lindenberg und vor den Rolling Stones. Die Angst vor Michael Jackson manifestierte sich in der Angst vor Ausschreitungen der DDR-Jugend, wenn der King of Pop am 19. Juni 1988 ein Konzert auf Westberliner Boden am Brandenburger Tor geben würde.

Wir lernen überhaupt recht viel in diesem 20. Gedenkjahr, und es macht uns traurig, andauernd die Geschichte neu schreiben zu müssen. Nun hoffen wir einfach, dass der Leibarzt von Jackson nicht auch noch ein Stasiagent war.

59/2 Wir sind verwundert über die Feststellung des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, dass immer mehr Frauen ohne Kinder leben – was natürlich unausgesprochen impliziert, dass die Frauen keine Kindergebären wollen oder können. Schön wäre es gewesen, wenn wir auch mal etwas hörten darüber, wie es denn mit den Männern steht, wie viele von ihnen keine Kinder zeugen wollen oder können. Das lässt sich – das haben wir schon verstanden – natürlich nicht durch einen Mikrozensus ermitteln.

58 Wir werden nicht vergessen, wie wir in den späten Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch Zufall den Film „Ich bin ein Elefant, Madame“, Regie Peter Zadek, sahen. Unter dem Abspann hämmerte Lou Reed von Velvet Underground in die Saiten und sang „I’m Waiting For The Man“. Jetzt ist er tot, der wilde Zauberer, der Jude, der Zadek.

58/2 Wir halten mal fest: Einen Monat, nachdem ein 28 Jahre alter Deutscher russischer Herkunft im Landgericht in Dresden eine 31 Jahre alte Ägypterin mit 18 Messerstichen getötet und ihren Mann schwer verletzt hatte, hat die Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) Vertreter des Ausländerbeirat, des Islamischen Zentrum Dresden, der Türkischen Gemeinde und weiterer Vereine zu einem Gespräch über die erlebte und gefühlte Ausländerfeindlichkeit in der Landeshauptstadt empfangen. Kurz: Die potenziellen Opfer sollen mal sagen, warum sie gerade nicht so gut drauf sind, wie ihr Feeling ist und so und überhaupt.

58/3 Wir sind sehr gespannt, wie die Betreiber damit umgehen: Atomkraftwerke müssen ob des Klimawandels in Zukunft häufiger vom Netz genommen werden, da sich die Flüsse in der sommerlichen Hitze oft so stark aufheizen werden, dass ihr Wasser nicht mehr zur Kühlung der Atomkraftwerke genutzt werden kann. Das ergab eine Umfrage des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZWE).

57 Wir haben die Wahl. Haben wir sie? Da ist die stets drei- oder vierfach zugeknöpfte Mutter der Nation, die sich vom fleißigen Lieschen im riesigen Schatten Kohls zur Matrone gewandelt hat, und Biederkeit als Inhalt verheißt. Da ist der Kandidat, der wie Steinmeier aussieht und wie Schröder klingt und doch tatsächlich eher ein Kopie des etwas molligen Erich Ollenhauer ist, der in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts chancenloser SPD-Kanzlerkandidat war und zwei Niederlagen gegen Konrad Adenauer einsteckte. Da sind dann noch der stets blökende Westerwelle, dessen eitles Gespreize bald die Klasse von Erich Mende erreichen könnte, der Rachedurstige aus dem Saarland, der der gute Gott der Linken sein will, das grüne Langeweile-Duo und schließlich auch noch der St.Pauli-Verein jener Frau, die uns Stoiber, Huber & Co. vom Hals geschafft hat und die jetzt ganz schnell aus der Geschichte fallen wird. Welch ein Elend! Aber das sind wir schon gewohnt. Vieles haben wir schon gewählt. Das werden wir auch künftig tun. Wählen.

50 Wir sind wieder Bundesliga. Um 18.30 Uhr betritt Mario Gomez den Rasen, ein Mann für 30 Millionen Euro, der sein Geld wieder einspielen wird, wenn erst die Trikots mit seinem Namen für knappe 70 Euro das Stück über die Tische gehen. Kauften nur 429000 Menschen so ein Trikot, hat Bayern München wieder ein bisschen Kohle auf dem Festgeldkonto. Das kann klappen, obwohl der Auftakt gegen Hoffenheim nicht wirklich gut war. Schön wäre, wenn auch die Klamotten von Politikern ein bisschen Geld in die leeren Kassen spülten. Steinmeiers hemdsärmelige Aufgekrempeltheit zum Beispiel für, sagen wir: 100 Euro das Stück – oder pfirsichfarbene Jackets der Kanzlerin.

Aber noch einmal zum Fußball: Wir werden voraussichtlich auch künftig den gesungenen Endreim „Mohammed ist ein Prophet, der vom Fußballspielen nichts versteht“ hören, wenn Schalke 04 spielt, und stimmen der „FAS“ zu, dass dies zwar Mist, aber nicht islamfeindlich ist. Islamfeindlich allerdings war die Frage eines Moderators des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks zum Thema an den Experten, ob es überhaupt zur Verständigung mit Muslimen kommen könne, obwohl die ja unsere westlichen Werte gar nicht anerkennen. Dem Mann kann geantwortet werden: Nein, aus der Pose dümmlicher Arroganz heraus ist Verständigung nicht möglich.

49 Tage oder sechs Sonntage bis zur Wahl des 17. Bundestages.Wir haben Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe des ROLLING STONE. Und nun?

„Du wunderst dich sicher, warum ich dich hierher gebracht habe.“

„Um ehrlich zu sein, Sir, nach all den Jahren nehme ich es einfach, wie es kommt.“

(Aus „Harry Potter und der Halbblutprinz“ in der Verfilmung von David Yates) Kathrin Gerlof lebt als Autorin, Journalistin und Dokumentarfilmerin in Berlin. Ihr neuer Roman „Alle Zeit“ (Aufbau) erzählt anhand von vier Frauenschicksalen die Geschichte einer Familie, in der sich zugleich die deutsche Historie spiegelt.

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