Wir hätten da noch Fragen

Hat Lou Reed den Indie-Rock erfunden?

Es gibt den berühmten Satz von Jim Jarmusch: „Vielleicht gerade einmal 2.000 Leute haben damals eine Platte von Velvet Underground gekauft. Und jeder von ihnen hat eine Band gegründet.“ In der Tat: Wohl keine zur Zeit ihres Bestehens so erfolglose Band hat eine derartige Inspirationsgeschichte aufzuweisen. Ohne Velvet Underground keine Modern Lovers, keine Suicide, keine Orange Juice, keine Go-Betweens, keine Violent Femmes, keine Jesus & Mary Chain, keine Primal Scream, kein Achtziger-Indie-Pop, aber auch keine Pavement, kein Slacker-Rock, kein Garnichts. Wohl auch kein Nick Cave. Auch ich selbst hätte ohne Reeds wildes Geschraddel nie eine Gitarre in die Hand genommen. Gut, das wäre für die Welt zu verschmerzen gewesen.

Aber wer in den Achtzigern jung war und erlebt hat, wie britische und amerikanische Gitarrenmusik, die von Velvet Underground durchdrungen war, dafür sorgte, dass man nicht mit all den Fönwellen-Extremisten, verhallten Snare-Drums und Umhängekeyboard-Deppen allein gelassen wurde, der wird Lou Reed, John Cale, Sterling Morrison und Moe Tucker ewig dankbar sein. „V.U.“, die Outtakes-Compilation erschien erst 1985 und klang in unseren Ohren moderner als alles, was damals neu war. Die Platte stieg auf Platz 85 der US-Charts ein, es war der größte Hitparadenerfolg der Band. Man muss allerdings auch sagen: Ohne Velvet Underground hätte Bono wahrscheinlich nie zur Sonnenbrille gefunden. ERIC PFEIL

Ist Lou Reed ein Berliner?

Der New Yorker, so schrieb der britische Schriftsteller Jonathan Raban, „is a proud participant in the decadence which has made his city even more worldfamous than it was before: he is the man, he suffers, he is there.“ Man muss lange suchen, um eine bessere Beschreibung für Lou Reed zu finden – die Dekadenz hat ihn schon immer angezogen, das Leiden hat er zur Lebensform erkoren. Und auf diesem fruchtbaren Boden errichtete er 1973 auch seinen Songzyklus „Berlin“.

Die Stadt kannte er seinerzeit nur aus den großenteils autobiografischen Geschichten des englischen Autors Christopher Isherwood, die in der Berliner Schwulen-und Cabaret-Szene der frühen Dreißiger spielen, als die faschistische Drangsal schon spürbar war. Eine gefährliche, dekadente Welt, die Reed natürlich anzog. Zudem schien Berlin, die nach dem Zweiten Weltkrieg isolierte, geteilte, im dunklen Verlies des Ostblocks eingesperrte Stadt, eine ziemlich starke Metapher für seine von ihm als klaustrophobisch empfundene Ehe mit der Kellnerin Bettye Kronstadt, die gerade in Drogennebel und körperlicher Gewalt unterzugehen drohte. Auch Bettyes während der Arbeiten an „Berlin“ verstorbene Mutter, die mit 18 vor ihrem ebenfalls gewalttätigen Ehemann floh und ihre Tochter überfordert an den Staat verlor, diente Reed als Inspiration für seine tragische Liebesgeschichte zwischen Caroline und Jim. „They’re taking her children away/Because they said she was not a good mother.“

So schuf Reed in zehn Liedern einen dekadenten Schmerzensort, an dem sich die Erfahrungen eines britischen Homosexuellen mit denen eines New Yorker Junkies überblenden. Er nannte ihn „Berlin“. Und es ist genau diese durch Cross-Mapping entstandene sündige, schizophrene Stadt, die wenig später für viele Künstler zu einem großen Sehnsuchtsort wurde. David Bowie und Iggy Pop zogen nach Berlin und suchten danach, später auch Nick Cave. Lou Reed aber blieb zu Hause. Denn er wusste, dass das Berlin, von dem er sang, sich nur im Kopf eines New Yorkers finden konnte. MAIK BRÜGGEMEYER

War Lou Reed eigentlich immer so mürrisch?

Jeder, der ihn je getroffen hat, hat eine Geschichte zu erzählen. Hier ist meine. 1996 empfing Lou Reed in einer Suite in Hamburg zur Versuchsanordnung „Wie viel Distanz ist möglich?“: Wie ein Lehrer saß er hinter einem riesigen Pult, die Journalistenschüler durften gefühlte fünf Meter vor ihm Platz nehmen. Stoisch antwortete er auf alles nur das Nötigste – bis ich ihn verzweifelt fragte, ob er eigentlich absichtlich Leute einschüchtere, woraufhin er gar keine Lust mehr hatte. Er wolle über Musik sprechen, nicht über Persönliches, schnarrte er und seufzte, als wäre ich die letzte Zumutung, die ihm heute noch gefehlt hatte. Die Machtspielchen schienen ihm selbst keinen Spaß zu machen, er konnte wohl nicht anders. Auf dem Weg nach draußen drehte er sich noch einmal um und sagte leise, ohne den Anflug eines Lächelns: „I’m not a bad guy. Really.“

Wie ein Reiter, der vom Pferd gefallen war, betrat ich 2003 das New Yorker Restaurant Pastis – ein bisschen ängstlich, aber entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Lou Reed schien all die Leute um ihn herum gar nicht zu bemerken. Er starrte immer nur geradeaus, in mein Gesicht. Sein plötzliches Interesse war fast so irritierend wie die frühere Eiseskälte: Wie alt ich sei, wo ich wohne, ob der Flug angenehm war? Angeblich war er auf Prozac. Er schwärmte von Edgar Allan Poe und Antony Hegarty, den damals noch keiner kannte, und lachte mehrfach. Beim ersten Mal zuckte ich unwillkürlich zusammen, worauf er „Are you scared?“ fragte und seine Hand auf meine legte. Sie war überraschend warm. BIRGIT FUSS

Warum waren Lou Reeds schlimme Platten immer gleich so besonders schlimm?

Alle haben in den vergangenen Wochen noch mal das berühmte Lester-Bangs-Interview von 1973 gelesen, und ja, da sagt Lou Reed, der eben erst seine zwei schmierigen Klassiker „Transformer“ und „Berlin“ veröffentlicht hatte: „Vielleicht mache ich als Nächstes was ganz Hartes. Zum Beispiel einen Anti-Gay-Song, ,Zurück in eure Verstecke, ihr fuckin‘ queers!‘ oder so was. Das wär jetzt das Richtige!“ Hat er nicht, im Gegenteil, trotzdem hilft uns die Aussage weiter. Obwohl man aus ihr nicht schließen sollte, der Applaus wäre Lou Reed all die Jahre umheimlich gewesen und er hätte sich vor Vereinnahmung gefürchtet. Es war eher so, dass er seine Karriere und Kunst auch dann als Kampf begriff, wenn er eigentlich gar keine Gegner hatte.

Deshalb sind Lou Reeds schreckliche Alben so besonders furchtbar. Allein schon die schwer erträglichen Stellen auf ansonsten guten Werken, „European Son“ von der Bananenplatte, in dem er seinem sterbenden Lehrer Delmore Schwartz noch eins mitgab. „Metal Machine Music“ haben viele Generationen nur über „Schlechteste Platten aller Zeiten“-Listen kennengelernt – aber wer sie wirklich hört, wird gleich merken, mit welcher Hingabe und Detailversessenheit Reed diese ohrenbetäubende Scheußlichkeit angerichtet hat. Er war überzeugt, klassische Musik im Stil der Minimalisten zu machen, er wollte niemanden ärgern, er kämpfte, auch gegen sich selbst. Und stapfte mit ähnlicher Rundum-Überzeugung in die totale Banalität von „Rock And Roll Heart“. Es gibt nie Ironie bei Lou Reed, das macht im Zweifel alles noch schlimmer. Hat ihn je mal ein Reporter gefragt, ob er das alles wohl ironisch meine? Wäre interessant, was sich dann zugetragen hätte. „Lulu“ darf nicht vergessen werden, die schaurige Dichterlesung mit Metallica, die noch von keinem Kritiker nachträglich rehabilitiert wurde. Weil noch gar nicht genug Zeit war. Oder weil sie einfach durch und durch grauenhaft ist. Das kann man von wenigen Platten sagen. Das ist auch schon wieder Kunst. JOACHIM HENTSCHEL

Ist Lou Reeds letztes Werk besser als sein Ruf?

Nach „Berlin“ und „Metal Machine Music“ war „Lulu“, die Kooperation mit Metallica, das dritte große, ja mit Abstand größte und tragischste, missverstandene Werk von Lou Reed. Die dünnhaarigen Langzeitbewohner von Mittelstandsjugendzimmern versetzte das Album in Angst und Schrecken, weil das Böse hier kein Comicteufel auf einem T-Shirt ist, mit dem man Eltern und Lehrer provozieren kann, sondern ein Messer, das Beine und Brüste abschneidet. Mutti und Vati, denen, stoppelbärtig und barfuß durch Open-Air-Matsch tanzend, Reeds Konsens-Verweigerung immer gelbe Banane blieb, waren noch verstörter, weil sie doch so gerne beim Hefeweizen zu „Perfect Day“ schwofen. Und die Musikjournalisten? Viel zu beschäftigt, ihre unerträglich langweiligen Wie-ich-mal-versuchte-Lou-Reed-zu-interviewen-und-er-voll-unhöflich-war-Storys unterzubringen.

„Lulu“ ist das rockalbum to end all rockalbums. Gewalt und Hybris, eine unfassbare Lässigkeit und eine tiefe Melancholie, fortgesetzter musikalischer wie lyrischer Tabubruch, eiskalte Planung und rohe Improvisation, Melodie und Dissonanz, erratisch und explizit, gipfelnd im zwanzigminütigen Tränenmeer „Junior Dad“. Eineinhalb Stunden Musik, die die Grenze zwischen Kopf und Gemächt aufheben und dadurch das alte Menschen-Drama ausbrechen lassen, wie schon im Vorbild, Wedekinds „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“. Kaum vorstellbar, dass die Kraft, die dieses Album erschaffen hat, erloschen ist. Vollkommen, egal, dass alle Kritiker nun doch ihre späte Liebe zu „Lulu“ entdecken werden. PETER HUTH

Hatte Lou Reed Humor?

Es ist natürlich billig, auf ,,Walk On The Wild Side“ hinzuweisen, das ein sehr trauriges und sehr lustiges Lied ist. Lou Reed war immer fasziniert von Gender-Fragen und Ambiguität – schon bei Velvet Underground hatte nicht nur Nico eine abgründige, frivole Aura. Reed und John Cale waren beide mit ihr liiert, womöglich gleichzeitig, und Reed schöpfte den erotischen Furor daraus wie in einer Lubitsch-Komödie, nur schwärzer: „Venus In Furs“,“All Tomorrow’s Parties“,“Some Kinda Love“,“I’ll Be Your Mirror“. Schauder und Ironie. „I’m Waiting For The Man“ ist auch eine Farce, ein „Warten auf Godot“: Lächerlichkeit als Strafe für die Sucht.

In ,,Vicious“ singt Reed: „You hit me with a flower/You do it every hour/Oh, baby, you’re so vicious/ You want me to hit you with a stick/But all I’ve got is a guitar pick.“ Das hätte sich David Bowie 1972 gar nicht erlauben können -er nahm sich selbst zu ernst. Die Männer von Metallica sagen, Lou Reed hätte einen verschrobenen Humor gehabt. „Metal Machine Music“ ist der beste Witz der Schallplatten-Historie. Und noch auf „New York“ gibt es guten, knarzigen Lou-Reed-Humor: „Americans don’t care too much for beauty/They’ll shit in a river, dump battery acid in a stream.“ In „Good Evening, Mr. Waldheim“ rechnet er nicht nur mit dem österreichischen Nazi und Präsidenten ab, sondern auch mit Jesse Helms und Jesse Jackson, und am Ende singt er in Anspielung auf das Gerede vom „Common Ground“:“There’s no Ground Common enough for me and you.“ Und nur ein solcher Mann konnte „Rock’n’Roll“ schreiben, das wahrhaftigste Stück über Lebensrettung.

ARNE WILLANDER

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