Zelten mit Buddha

OR 40 JAHREN REISTE Francesco Clemente zum ersten Mal nach Indien. Weil er der eurozentrischen Sichtweise auf die Geschichte nichts mehr abgewinnen konnte, versuchte er ihr zu entkommen. „From history to geography“ nannte der Künstler diesen Schritt, den ja viele gingen in der damaligen Gegenkultur. Im chaotischen Delhi begegnete er einer völlig anderen als der gewohnten Normalität, denn in dieser Stadt schien für ihn alles undogmatisch, nebeneinander und gleichzeitig zu passieren, was der Subkontinent an Alt und Neu, an kolo-nialen Einflüssen, unterschiedlichen Ethnien, Riten und Religionsgemeinschaften besitzt. Und so wurde Indien für den 1952 in Neapel geborenen studierten Architekten und mittlerweile international anerkannten Künstler eine zweite Heimat, aus deren Kultur, Tradition und Spiritualität heraus er seitdem seine charakteristische sinnlich-sinnhafte Bildsprache schöpft.

Während der Siebziger bildete er mit Jannis Kounellis, Sandro Chia, Enzo Cucchi und Mimmo Paladino die italienische Transavanguardia, eine Gegenbewegung zur kühlen, rationalen Minimal und Concept Art. Die Gruppe wandte sich der klassischen Bildsprache antiker Tafelmalerei zu, stellte mythische Sagenfiguren und Götter ironisch kitschig in expressiven Farben dar. Man nannte das „Arte Cifra“, denn die Transavantgardisten chiffrierten und verschlüsselten durch ihre postmodernen Verfremdungen überlieferte Symbole und Darstellungsweisen aus westlichen und fremden Kulturen, vergangenen wie gegenwärtigen.

Clemente arbeitet gerne mit anderen Künstlern zusammen, da sich seiner Überzeugung nach in der kreativen Interaktion die eigenen Grenzen überwinden lassen. So entstanden etwa Werke mit Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat. Zusammen mit Allen Ginsberg und zu dessen irrlichternder Lyrik von „White Shroud“ und „Black Shroud“ entstanden beispielsweise in den 80er-Jahren fantastische Aquarelle, die das Interesse der beiden Künstler an den Themen Eros und Sexualität widerspiegeln und sie in einen magischen Realismus überführen. In dessen Kern liegt Clementes tiefes Interesse am Zusammenspiel spiritueller und materieller Welterfahrung, die für ihn keinerlei Kontinuität aufweist, sondern im steten Wandel begriffen ist.

Auch die neue Werkgruppe „Tents“, die man zwischen dem 21. September und 9. November in der Berliner Galerie Blain|Southern sehen kann, ist von seiner magischen Bildsprache geprägt. Die Ausgestaltung der insgesamt drei „Tents“ – etwa je vier mal drei mal vier Meter messende Baumwollzelte -sind zusammen mit indischen Handwerkern in traditioneller Holzdrucktechnik entstanden. Jedes Zelt ist dabei einem speziellen Thema gewidmet, sodass sich dem Betrachter -fast wie in einer kleinen Retrospektive -in der Zusammenschau der Zelte der inhaltliche Kosmos von Clementes künstlerischem Schaffen erschließt.

Schon seit einigen Jahren, sagt der 61-Jährige, beschäftige er sich mit Zelten, und vor einem Jahr habe er endlich mit der Umsetzung seiner Vision begonnen, ohne zu wissen, an welchem Ort er sie jemals zeigen könnte. Berlin sei für ihn nun ein Glücksfall und für die Ausstellung der Zelte ein eigenwilliger wie idealer Ort: „Das Schaffen der künstlerischen Avantgarden lebt hier fort, und parallel sind in Berlin die Einflüsse östlicher Kulturen gegenwärtig am stärksten in Europa wahrzunehmen.“

Nun wirft sein Zelt mit dem Titel „Standing With Truth“ einen ganzheitlichen Blick auf die Lebewesen dieser Welt und bezieht sich auf die Dichtung des indischen Mystikers Kabir, dessen berühmte Zeilen „I eat with truth, I sleep with truth, I sit with truth, I stand with truth“ das übergreifende Motto zum Dekor liefern. In allegorischen Bildern, die auch tierweltliche Metamorphosen mit einschließen, erzählt Clemente vom Daseinskampf der menschlichen Natur.

Von der Welt der Museen und deren Umgang mit der Kunst handelt die Ausstattung des „Museum Tent“, das mit vielfältigen Selbstporträts des Künstlers überzogen ist. Doch für Clemente ist das eigene Ich kein starres, abgeschlossenes Konzept, sein Identitätsbegriff ist ein fließender, und daher kommt es zwischen der äußeren und inneren Ausstattung der Zeltwände zu visuellen Überblendungen. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Kunst und Kreation verschwimmen.

Das dritte, „Taking Refuge“ getaufte Zelt widmet sich der spirituellen Zuflucht, wie sie im tantrischen Buddhismus gelehrt wird, in dessen Zentrum die Lehre der Nichtexistenz des Egos steht. Damit schließt sich auch letztlich der Kreis von Clementes Selbstverständnis. Denn, so sagt er, er sei nichts anderes als ein Nomade, der zwischen den Kulturen lebt und arbeitet.

„Außerdem hat mich die im tibetanischen Buddhismus verankerte Auffassung des ‚Bardo‘, das heißt des spirituellen Daseins im Übergang von einem Leben in das nächste, die Phase zwischen Tod und Wiedergeburt, extrem darin beeinflusst, wie ich Dinge ansehe und sie wahrnehme.“ Für viele seiner Zeitgenossen war der spirituelle Trip zu den Weisheiten des Ostens irgendwann zu Ende. Clemente geht den Weg immer weiter.

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