WOODY GUTHRIE – LP-Hommage von WILCO und BILLY BRAGG

Zusammen mit WILCO hat BILLY BRAGG aus Woody Guthrie- Textfunden eine LP-Hommage an die US-Folk-Ikone geschaffen

Es geht um die Wahrheit. Sowieso. Doch die Wahrheit ist eine seltsame Sache. Billy Bragg erzählt, wie 1935 in Texas die Welt unterging: „Von der Wüste rollte eine schwarze Wand heran. Sie war mehr als eine Meile hoch, obendrauf wirbelte roter Staub, vor ihr her flüchteten die Tiere. Niemand hatte die Menschen gewarnt, und so glaubten sie, es sei eine Feuerwand, die auf sie zukommt. Sie dachten, es sei der Zorn Gottes, denn in der Bibel sagt ja Gott zu Noah: ‚Das nächste Mal kommt Feuer.‘ Also beteten sie, um in den Himmel zu kommen.“

Dann war es aber nur einer der legendären Staubstürme, die in diesem Jahr Texas verwüsteten, und so mußten selbst die Frömmsten in Amerika bleiben. Darunter auch Woody Guthrie, der den Sturm miterlebt hatte und über ihn und die Opfer einen Songzyklus verfaßte: „Songs From The Dustbowl“. Mit diesen Liedern, in denen er die Wahrheit über jene Katastrophe und ihre Folgen erzählte, wurde der anno 1912 geborene Singer/Songwriter zur Legende, zum engagierten, sozialkritischen Arbeiterhelden, zum großen Vorbild von Bob Dylan. Das wissen wir alle. Aber ist das die ganze Wahrheit?

„Ich sage ja nicht, daß es falsch ist. Es ist aber nur die Hälfte der Geschichte. Klar, er hat diese wunderbaren Lieder geschrieben, die wir alle kennen. Aber von 1945 an lebte er in New York und war ein Großstadtmensch. Dort schrieb er über andere Themen, über Filmstars und Ufos. Wir stellen uns Woody Guthrie immer ab Figur aus „Früchte des Zorns“ vor. Aber wir sollten ihn uns lieber an der Seite von Frank Sinatra und Gene Kelly in ‚On The Town‘ denken.“

Billy Bragg guckt ernst und engagiert, denn das ist sein Job. Aber er hat Spaß an der Sache, denn jetzt ist er ein Archäologe, der die Spitze einer völlig unbekannten Pyramide ausgegraben hat und der staunenden Menschheit erzählt, daß im Fundament Pläne für ein Atomkraftwerk liegen. Braggs Pyramide heißt Woody Guthrie, und die Ausgrabung begann vor einem Jahr, als Tochter Nora Guthrie den Engländer zu einem Besuch ihres New Yorker Archivs einlud, in dem noch mehr als 1000 unveröffentlichte Songs des wie besessen schreibenden Kettenrauchers lagern. Der sozialistische Volksbarde kam, sah, begriff und wurde zu Billy the Bragg, dem Rächer des Vergessenen: Diese neue Seite der Ikone sollte die Welt kennenlernen.

Jetzt hat sie die Gelegenheit. Das von Billy Bragg mit den Folkrockern Wilco eingespielte Album „Mermaid Avenue“ (Woody Guthries New Yorker Adresse) zeigt in 15 Songs, was den Frauenhelden, romantischen Poeten und ehrbaren Kommunisten in den 50er Jahren bewegte: zuerst mal Frauen – egal, ob nun „Walt Whitman’s Niece“ oder „Ingrid Bergmann“ – der er gar unsittliche Anträge macht, aber auch die irre Kommunistenjagd in den USA, die sich in „Eisler On The Go“ spiegelt. Für herzzerreißend romantische Blicke in die „California Stars“ ist Zeit und auch für eine Runde Angeben für Fortgeschrittene: „Ain’t nobody who can sing like me“ („Way Over Yonder In The Minor Key“).

Mit seiner altmodischen, aber brillanten Pop-Folk-Rock-Mischung hätte das Album auch vor 30 Jahren erscheinen können – dann wäre es heute vermutlich ein legendärer Klassiker. Das verdankt es jedoch nicht nur Woody. Denn neu entdeckt wurden, genau genommen, keine Songs, sondern ausschließlich Texte: Melodien oder Noten gab es nämlich keine.

„Woody Guthrie hat fast jeden Tag Songtexte geschrieben. Doch die Melodien dafür hat er von Volksliedern übernommen, die er mal gehört hatte, in seiner Kindheit vielleicht“, erzählt Billy Bragg. „Ich habe für das Album neue Songs geschrieben und mir dabei überlegt, was für Musik er sich vorgestellt hat. Leider gibt es darüber wenig Information. Manchmal hat er mal was an den Rand geschrieben, bei einem Stück ‚Super Sonic Boogie‘ zum Beispiel.“ Die zum Teil handgeschriebenen Texte sind ein ergreifendes, teilweise erschütterndes Zeugnis von Woody Guthries Leben. Anfangs in sehr schöner Handschrift gehalten, werden die Notizen mit den Jahren immer unordentlicher, bis sie schließlich fast unleserlich sind: Guthrie quälte sich 15 Jahre mit dem tödlichen Huntington Disease. Diese Blätter dokumentieren seinen allmählichen Verfall.

So entsteht mit den Aufweichungen eine weiteres neues Bild: der Sänger als ein leidender Mensch. Eine andere Facette enthüllte eine alte Freundin Woodys, die Billy Bragg verriet: „Er war nicht grade hübsch. Doch dafür war er so verdammt sexy.“ Aber auch Billy Bragg hat eine Vorstellung von seinem Idol: „Er hatte vielleicht Fehlet, aber letztendlich war er jemand, der die Menschen mochte und unter den Ungerechtigkeiten litt, die ihnen zugefügt wurden. Deshalb hat er nie irgendwelchen Scheiß mitgemacht und sich absolut nichts gefallen gelassen, von niemandem – egal, wer’s war.“

Das klingt schon wieder nach Ikone, ist aber sicherlich realistisch: Zwar war Woody Guthrie ein Mensch mit vielen Facetten, letztlich aber beeindruckend nahe an seinem eigenen Mythos. So ist das neue Album (das eventuell noch eine Fortsetzung bekommen soll) neben einem ungemeinen musikalischen Genuß eine Dokumentation der anderen Seite einer Ikone – aber zeigt es die Wahrheit? Naja: vielleicht?

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