Forums-Anthologie (Lyrisches)

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  • #9983  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Als ich in Marcel Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“ über die „Frankfurter Anthologie“ der FAZ las, kam mir der Gedanken, wäre vielleicht was fürs Forum als lyrisches Pendant zur leider zu wenig genutzten „Les-Bar“ (in der ja doch hauptsächlich Prosa zitiert wird).
    Innerhalb der „Frankfurter Anthologie“ (Reich-Ranickis Idee auf die Probleme, die die Rezension von Gedichtsbänden mit sich bringt) werden Gedichte abgedruckt, zu denen dann Schriftsteller, Kritiker, etc. Gedanken, Interpretationen, persönliche Bedeutungen und dergleichen verfassen. Ob man hier was zu den Gedichten schreibt, sei jedem selbst überlassen.

    Zu dem ersten Gedicht, das ich hier reinsetzen werde, will ich gar nicht viel sagen. Es ist das selbe Gedicht, mit dem auch benannter Literaturkritiker die „Frankfurter Anthologie“ eröffnete. Nicht aus diesem Grund möchte damit diesen Thread beginnen, sondern: ich finde ganz einfach es ist ein wunderschönes Gedicht und es trägt für mich etwas ungemein Positives in sich ohne darin auch nur annähernd aufdringlich zu wirken (außerdem bin ich irgendwo Fan dieses bekanntesten deutschen Dichters).

    Um Mitternacht
    von Johann Wolfgang von Goethe

    Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
    Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
    Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne,
    Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
    Um Mitternacht.

    Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
    Zur Liebsten musste, musste, weil sie zog,
    Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
    Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
    Um Mitternacht.

    Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle
    So klar und deutlich mir ins Finstere drang,
    Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
    Sich ums Vergangne wie ums Künftige schlang;
    Um Mitternacht.

    --

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    #1360331  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    mitternachts-blues von vor 20o jahren.
    kann man nicht-fan vom alten sein?
    nihil :twisted:

    --

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    #1360333  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    mitternachts-blues von vor 20o jahren.
    kann man nicht-fan vom alten sein?
    nihil :twisted:

    In diesem Fall ja nicht ganz 200 Jahre…
    Und zu deine Frage: na ja, da ich es ja bin, fragst du wohl den falschen.
    Wenn sich einer meldet: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ :D

    --

    #1360335  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    von wann ist denn das?
    stimmt, hat schon was romantisches. gehörts zu den greisenstückchen?

    --

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    #1360337  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Müsste von 1817 oder 1818 sein. Da war er fast 70, schon ein Greis? Na ja, sicherlich kein geistiger.

    --

    #1360339  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Dann für den Interessierten Deedsy ein sehr schönes Gedicht von Bertolt Brecht, den ich, glaube ich zumindest, sogar mehr als Lyriker denn als Dramatiker schätzen könnte, wenn ich mich besser in seinem Werk auskennen würde:

    Die Liebenden
    von Bertolt Brecht

    Siehe jene Kraniche in großem Bogen!
    Die Wolken, welche ihnen beigegeben
    Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
    Aus einem Leben in ein andres Leben
    In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
    Scheinen sie alle beide nur daneben.
    Dass so der Kranich mit der Wolke teile
    Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
    Dass also keines länger hier verweile
    Und keines andres sehe als das Wiegen
    Des andern in dem Wind, den beide spüren
    Die jetzt im Fluge beieinander liegen
    So mag der Wind sie in das Nichts entführen
    Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
    Solange kann sie beide nichts berühren
    Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
    Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
    So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
    Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
    Wohin ihr?
    Nirgendhin.
    Von wem davon?
    Von allen.
    Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
    Seit kurzem.
    Und wann werden sie sich trennen?
    Bald.
    So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

    --

    #1360341  | PERMALINK

    aimee
    Moderator

    Registriert seit: 12.07.2002

    Beiträge: 6,563

    …das ist sehr schön.

    (warum hab ich diesen Thread bisher noch nie gesehen?)

    Gute Idee.

    --

    #1360343  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Danke!

    --

    #1360345  | PERMALINK

    genossebenito

    Registriert seit: 28.01.2003

    Beiträge: 972

    Ich werde dieses Jahr in der Frankfurter Bibliothek veröffentlicht, also nehme ich mir das Recht raus, hier zu posten:

    You ain’t the first

    Erschossen von der Liebe
    Sanft gekitzelt durch harte Hiebe
    Überfahren von der Zeit
    Kalt lächelnd gegenüber allem Leid
    Entfernt von mir
    Und noch weiter von dir
    Verloren mit der Karte in der Hand
    Erfroren in der Wüste voller Sand
    Geblendet in der Dunkelheit
    Ertrunken in Eitelkeit
    Einsam in der Menge
    Und frei trotz aller Strenge
    Verhungert mit Taschen voller Geld
    Erstickt im Sauerstoffzelt
    Vergiftet mit Quellwasser
    Ermordet von dem Verfasser
    Erblindet im Schlaf
    All dies versprach mir der Tod, als ich ihn traf
    Und er verriet mir dabei
    Dass ich nicht der erste sei

    --

    piffpaffpiffpaffpuffpilzpilzpilzpilzmesserfaschistoid
    #1360347  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Der Gedichtband „Morgue“ war für das Jahr 1912 sicherlich ein Schock. Man denke nur an die heute noch abstoßende Widerlichkeit von „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ (nichtsdestotrotz halte ich auch dieses Gedicht für gut) und man versteht warum.
    Der Mensch wird in diesen Gedichten ausschließlich auf seine natürliche Körperlichkeit beschränkt und gnadenlos entstilisiert. Besonders verstörend wirkt dies im folgenden Gedicht – wahrscheinlich das mir liebste, von denen, die ich von dem Dichter kenne – in Verbindung mit der emotionalen und liebevollen lyrischen Behandlung, die hingegen der titelgebenden Blume zu kommt.

    Kleine Aster
    von Gottfried Benn

    Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
    Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster
    zwischen die Zähne geklemmt.
    Als ich von der Brust aus
    unter der Haut
    mit einem langen Messer
    Zunge und Gaumen herausschnitt,
    muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
    in das nebenliegende Gehirn.
    Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
    zwischen die Holzwolle,
    als man zunähte.
    Trinke dich satt in deiner Vase!
    Ruhe sanft,
    kleine Aster!

    --

    #1360349  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    zitiere das andere mit der krebsbaracke auch mal.
    ich kenne beide nicht.
    (wieso eigentlich nicht?)

    --

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    #1360351  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    zitiere das andere mit der krebsbaracke auch mal.
    ich kenne beide nicht.
    (wieso eigentlich nicht?)

    Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, aber was ich machen kann, ist noch zwei weitere Gedicht aus Benns „Morgue“ hier reinzustellen um vielleicht ein besseres Bild dieses eigentlich recht bekannten Gedichtbandes zu vermitteln:

    Noch um einiges perverser als „Kleine Aster“ mutet eben die „Krebsbaracke“ an. Wie ich damals auch in der Schule lernte, ist „Morgue“ auch Protest gegen das damals herrschende mechanische Menschenbild. Das im folgenden beschriebene „Fleischliche“ (oder wie man es nennen mag) wird durchaus mit Pathos angereichert (Pathos ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Ausdruck hier – möglicherweise ist es eine gewisse abstoßende Erotik), was dem ganzen, wie ich finde, einen faszinierenden Reiz gibt – ekelhaft ist es trotzdem:

    Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke
    von Gottfried Benn

    Der Mann:
    Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
    und diese Reihe ist zerfallene Brust.
    Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

    Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
    Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
    das war einst irgendeinem Mann groß
    und hieß auch Rausch und Heimat.

    Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
    Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
    Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

    Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
    Kein Mensch hat so viel Blut.
    Hier dieser schnitt man
    erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

    Man lässt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
    sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
    für den Besuch lässt man sie etwas wacher.

    Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
    sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
    wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

    Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
    Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
    Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

    Eine mehr zynische Haltung gibt das nächste Gedicht aus dem selben Band wieder. Hier schien Benn durchaus seinen Spaß gehabt zu haben:

    Schöne Jugend
    von Gottfried Benn

    Der Mund eines Mädchen, das lange im Schilf gelegen hatte,
    sah so angeknabbert aus.
    Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
    Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
    fand man ein Nest von jungen Ratten.
    Ein kleines Schwesterchen lag tot.
    Die andern lebten von Leber und Niere,
    tranken das kalte Blut und hatten
    hier eine schöne Jugend verlebt.
    Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
    Man warf sie allesamt ins Wasser.
    Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

    --

    #1360353  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Was Prosa von Benn angeht, kenne ich nur die Erzählung „Gehirn“, die thematisch in eine ähnliche Richtung geht wie die Gedichte aus „Morgue“. Diese Erzählung ist, meiner Ansicht nach, ebenfalls sehr gut gelungen.

    --

    #1360355  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Noch um einiges perverser als „Kleine Aster“ mutet eben die „Krebsbaracke“ an. Wie ich damals auch in der Schule lernte, ist „Morgue“ auch Protest gegen das damals herrschende mechanische Menschenbild. Das im folgenden beschriebene „Fleischliche“ (oder wie man es nennen mag) wird durchaus mit Pathos angereichert (Pathos ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Ausdruck hier – möglicherweise ist es eine gewisse abstoßende Erotik), was dem ganzen, wie ich finde, einen faszinierenden Reiz gibt – ekelhaft ist es trotzdem:

    wie kommst du auf „mechanisches weltbild“? finde ich nicht, dass das damals herrschte.
    ich sehe die gedichte ohnehin vielleicht ganz anders. für mich sind sie eher die suche eines jungen arztes durch verarbeitung seiner erfahrungen ein stück menschlichkeit wiederzufinden.. das drübersprechen und schreiben über elend, krankheit und tod enttabuisieren sie, machen sie aber damit auch zutiefst menschlich. eine annäherung an den menschen also, keine abwendung.
    und den ratten hat ers dann ja auch wunderschön gegeben. so viel menschlichkeit muss sein, dass die sich nicht auch noch auf unsere kosten ein schönes leben machen können.

    weiß jetzt auch, warum ich die sachen nicht kenne, die wären in meiner schulzeit unlesbar gewesen. und habe halt nicht germanistik studiert danach!

    --

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    #1360357  | PERMALINK

    aimee
    Moderator

    Registriert seit: 12.07.2002

    Beiträge: 6,563

    Puh… harte Kost zum Frühstück. Ich kannte bisher nur die Kleine Aster (und ein paar andere, harmlosere). Verstörend trifft es ziemlich gut.

    --

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