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Als ich in Marcel Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“ über die „Frankfurter Anthologie“ der FAZ las, kam mir der Gedanken, wäre vielleicht was fürs Forum als lyrisches Pendant zur leider zu wenig genutzten „Les-Bar“ (in der ja doch hauptsächlich Prosa zitiert wird).
Innerhalb der „Frankfurter Anthologie“ (Reich-Ranickis Idee auf die Probleme, die die Rezension von Gedichtsbänden mit sich bringt) werden Gedichte abgedruckt, zu denen dann Schriftsteller, Kritiker, etc. Gedanken, Interpretationen, persönliche Bedeutungen und dergleichen verfassen. Ob man hier was zu den Gedichten schreibt, sei jedem selbst überlassen.Zu dem ersten Gedicht, das ich hier reinsetzen werde, will ich gar nicht viel sagen. Es ist das selbe Gedicht, mit dem auch benannter Literaturkritiker die „Frankfurter Anthologie“ eröffnete. Nicht aus diesem Grund möchte damit diesen Thread beginnen, sondern: ich finde ganz einfach es ist ein wunderschönes Gedicht und es trägt für mich etwas ungemein Positives in sich ohne darin auch nur annähernd aufdringlich zu wirken (außerdem bin ich irgendwo Fan dieses bekanntesten deutschen Dichters).
Um Mitternacht
von Johann Wolfgang von GoetheUm Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne,
Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
Um Mitternacht.Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten musste, musste, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
Um Mitternacht.Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins Finstere drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Sich ums Vergangne wie ums Künftige schlang;
Um Mitternacht.--
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Werbungmitternachts-blues von vor 20o jahren.
kann man nicht-fan vom alten sein?
nihil :twisted:--
FAVOURITESmitternachts-blues von vor 20o jahren.
kann man nicht-fan vom alten sein?
nihil :twisted:In diesem Fall ja nicht ganz 200 Jahre…
Und zu deine Frage: na ja, da ich es ja bin, fragst du wohl den falschen.
Wenn sich einer meldet: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ :D--
von wann ist denn das?
stimmt, hat schon was romantisches. gehörts zu den greisenstückchen?--
FAVOURITESMüsste von 1817 oder 1818 sein. Da war er fast 70, schon ein Greis? Na ja, sicherlich kein geistiger.
--
Dann für den Interessierten Deedsy ein sehr schönes Gedicht von Bertolt Brecht, den ich, glaube ich zumindest, sogar mehr als Lyriker denn als Dramatiker schätzen könnte, wenn ich mich besser in seinem Werk auskennen würde:
Die Liebenden
von Bertolt BrechtSiehe jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Dass so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Dass also keines länger hier verweile
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen
So mag der Wind sie in das Nichts entführen
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
Solange kann sie beide nichts berühren
Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr?
Nirgendhin.
Von wem davon?
Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem.
Und wann werden sie sich trennen?
Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.--
…das ist sehr schön.
(warum hab ich diesen Thread bisher noch nie gesehen?)
Gute Idee.
--
Danke!
--
Ich werde dieses Jahr in der Frankfurter Bibliothek veröffentlicht, also nehme ich mir das Recht raus, hier zu posten:
You ain’t the first
Erschossen von der Liebe
Sanft gekitzelt durch harte Hiebe
Überfahren von der Zeit
Kalt lächelnd gegenüber allem Leid
Entfernt von mir
Und noch weiter von dir
Verloren mit der Karte in der Hand
Erfroren in der Wüste voller Sand
Geblendet in der Dunkelheit
Ertrunken in Eitelkeit
Einsam in der Menge
Und frei trotz aller Strenge
Verhungert mit Taschen voller Geld
Erstickt im Sauerstoffzelt
Vergiftet mit Quellwasser
Ermordet von dem Verfasser
Erblindet im Schlaf
All dies versprach mir der Tod, als ich ihn traf
Und er verriet mir dabei
Dass ich nicht der erste sei--
piffpaffpiffpaffpuffpilzpilzpilzpilzmesserfaschistoidDer Gedichtband „Morgue“ war für das Jahr 1912 sicherlich ein Schock. Man denke nur an die heute noch abstoßende Widerlichkeit von „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ (nichtsdestotrotz halte ich auch dieses Gedicht für gut) und man versteht warum.
Der Mensch wird in diesen Gedichten ausschließlich auf seine natürliche Körperlichkeit beschränkt und gnadenlos entstilisiert. Besonders verstörend wirkt dies im folgenden Gedicht – wahrscheinlich das mir liebste, von denen, die ich von dem Dichter kenne – in Verbindung mit der emotionalen und liebevollen lyrischen Behandlung, die hingegen der titelgebenden Blume zu kommt.Kleine Aster
von Gottfried BennEin ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!--
zitiere das andere mit der krebsbaracke auch mal.
ich kenne beide nicht.
(wieso eigentlich nicht?)--
FAVOURITESzitiere das andere mit der krebsbaracke auch mal.
ich kenne beide nicht.
(wieso eigentlich nicht?)Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, aber was ich machen kann, ist noch zwei weitere Gedicht aus Benns „Morgue“ hier reinzustellen um vielleicht ein besseres Bild dieses eigentlich recht bekannten Gedichtbandes zu vermitteln:
Noch um einiges perverser als „Kleine Aster“ mutet eben die „Krebsbaracke“ an. Wie ich damals auch in der Schule lernte, ist „Morgue“ auch Protest gegen das damals herrschende mechanische Menschenbild. Das im folgenden beschriebene „Fleischliche“ (oder wie man es nennen mag) wird durchaus mit Pathos angereichert (Pathos ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Ausdruck hier – möglicherweise ist es eine gewisse abstoßende Erotik), was dem ganzen, wie ich finde, einen faszinierenden Reiz gibt – ekelhaft ist es trotzdem:
Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke
von Gottfried BennDer Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.Man lässt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
für den Besuch lässt man sie etwas wacher.Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.Eine mehr zynische Haltung gibt das nächste Gedicht aus dem selben Band wieder. Hier schien Benn durchaus seinen Spaß gehabt zu haben:
Schöne Jugend
von Gottfried BennDer Mund eines Mädchen, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!--
Was Prosa von Benn angeht, kenne ich nur die Erzählung „Gehirn“, die thematisch in eine ähnliche Richtung geht wie die Gedichte aus „Morgue“. Diese Erzählung ist, meiner Ansicht nach, ebenfalls sehr gut gelungen.
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Noch um einiges perverser als „Kleine Aster“ mutet eben die „Krebsbaracke“ an. Wie ich damals auch in der Schule lernte, ist „Morgue“ auch Protest gegen das damals herrschende mechanische Menschenbild. Das im folgenden beschriebene „Fleischliche“ (oder wie man es nennen mag) wird durchaus mit Pathos angereichert (Pathos ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Ausdruck hier – möglicherweise ist es eine gewisse abstoßende Erotik), was dem ganzen, wie ich finde, einen faszinierenden Reiz gibt – ekelhaft ist es trotzdem:
wie kommst du auf „mechanisches weltbild“? finde ich nicht, dass das damals herrschte.
ich sehe die gedichte ohnehin vielleicht ganz anders. für mich sind sie eher die suche eines jungen arztes durch verarbeitung seiner erfahrungen ein stück menschlichkeit wiederzufinden.. das drübersprechen und schreiben über elend, krankheit und tod enttabuisieren sie, machen sie aber damit auch zutiefst menschlich. eine annäherung an den menschen also, keine abwendung.
und den ratten hat ers dann ja auch wunderschön gegeben. so viel menschlichkeit muss sein, dass die sich nicht auch noch auf unsere kosten ein schönes leben machen können.weiß jetzt auch, warum ich die sachen nicht kenne, die wären in meiner schulzeit unlesbar gewesen. und habe halt nicht germanistik studiert danach!
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FAVOURITESPuh… harte Kost zum Frühstück. Ich kannte bisher nur die Kleine Aster (und ein paar andere, harmlosere). Verstörend trifft es ziemlich gut.
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