Alle fünf Meter! So war das Reeperbahn Festival 2011

Zur Einstimmung auf das heute so halb und morgen so richtig anlaufende Reeperbahn Festival gibt es hier noch mal den Nachbericht und die Fotos vom letzten Jahr.

Momentan widmen wir uns (wochen-)täglich dem von uns präsentierten Reeperbahn Festival, das in diesem Jahr vom 20. bis zum 22. September in, logisch, Hamburg stattfindet (alle Infos gibt es hier). Das Showcase-Festival hat sich über die letzten Jahre zu einer Instanz gemausert und bietet wie kaum eine andere Veranstaltung in Deutschland die Chance, wirklich Neues zu entdecken. In Verbindung mit dem Charme des Kiezes und den zahlreichen tollen Live-Locations der Stadt, die sich um die Reeperbahn gruppieren, ist das Reeperbahn Festival eine runde Sache – die ROLLING STONE nur zu gerne als offizieller Präsentator begleitet. Zur Einstimmung auf das heute so halb und morgen so richtig anlaufende Festival gibt es hier noch mal den Nachbericht vom letzten Jahr.

Auf dem Reeperbahn Festival 2011 spielten rund 200 Künstler in ca. 30 Locations. Ein Streifzug durch ein Wochenende des Überangebots. In den Hauptrollen: The Jezabels, S.C.U.M., Christiane Roesinger, Ja, Panik und zu viele andere.

Es ist Samstagabend kurz nach neun in St. Pauli. Nach dem 2:3 gegen Erzgebirge Aue strömt die Fanmenge in die Straßen rund um das Millerntor, diskutiert beim Kiosk- oder Fußpils die nicht gerade überzeugende Leistung ihrer Mannschaft. In einem Restaurant in der Hein-Hoyer-Str. sitzen derweil die Mitglieder der Jezabels und betrachten erstaunt das Treiben vor der Tür. „Looks great“, sagt Gitarrist Nik Kaloper und Drummer Sam Lockwood fragt ein wenig besorgt, ob es denn so friedlich bliebe.

Es sind nur noch wenige Stunden bis zum Auftritt der Band im Uebel & Gefährlich, das ihnen als einer der besten Clubs der Stadt empfohlen wurde. Man will nicht aufgeregt sein, und ist es dennoch: „Jeder hat uns gesagt: Dieses Konzert ist vielleicht das wichtigste auf dieser Tour. Und je öfter wir es hören, desto mehr blenden wir es aus.“ Im Gespräch mit den höchst sympathischen Australiern, die momentan heiß gehandelt werden, kommt dann plötzlich auch das zur Sprache, was man schon seit dem ersten Festivalabend zu formulieren sucht: Die Essenz des Reeperbahn Festivals. Kaloper bringt sie auf den Punkt: „In Sydney braucht man nicht mal beide Hände, um die guten Konzertlocations aufzuzählen. Hier scheint alle fünf Meter eine zu sein.“

Das trifft die Sache und erklärt, warum das Konzept eines Showcase Festivals, das eine ganz Stadt bespielt, in Berlin nie so funktionieren wird, wie es das hier rund um die Reeperbahn tut. Wo sich zusehends auch internationale Booker und die Fachmusikbranche tummelt, während Konzertfreudige mit Lust auf Neues sich in ein musikalisches Überangebot werfen können, das zwar die großen Namen ausspart, aber mit Acts wie eben den Jezabels oder S.C.U.M. recht nah am Puls der neuen Hypes ist.

Dennoch muss man gleichberechtigt neben den Namen des Line-ups auch die Clubs als Erfolgsgaranten nennen: den Bunker mit dem wohl besten Pissrinnen-Ausblick der Stadt und dem besten Sound des Wochenendes (Uebel & Gefährlich), die stets schwitzige Punkrock-Keimzelle Molotow, den ehrwürdigen Saal des Grünspan, die garagengroße Charme-Kammer der Pooca Bar, die kleine Königin der Live-Clubs Prinzenbar – ach, man könnte ewig so weitermachen und müsste es eigentlich, damit auch das Docks, Knust, Indra, Silber und wie sie alle heißen zu ihrem Recht kommen. Und man sollte auch die vom Festival umfunktionierten Räumlichkeiten nicht unerwähnt lassen: Die Konzerbarkasse Frau Hedi, das sonst dem Kabarett offenen Schmitz Tivoli oder die Fliegenden Bauten, das Imperial Theater, die Haspa Filliale, die St. Pauli Kirche und der Pearls Table Dance Club, in dem an diesem Wochenende eher live musiziert denn stangengetanzt wurde.

Was hier mit der zu großen Auswahl anfängt, hört dann beim Line-up nicht auf – und das lässt eigentlich nur zwei Strategien zu: Entweder man wählt bloß zwei bis drei Acts, die man an einem Abend schaffen kann und will – oder man lässt sich einfach treiben und nutzt die unhandlichen weil eben übervollen Tagesprogramme lediglich als groben Wegweiser. Starthilfe für den Abend gab dabei – wie in den letzten Jahren auch – der ehemalige MTV-Kult-DJ Ray Cokes, der im Schmidts Tivoli ab 17 Uhr von Donnerstag bis Samstag zu Ray’s Reeperbahn Revue lud – einem munteren Plausch mit kleinen Akustiksessions, der einem schmerzhaft bewusst macht, wie gern man solch ein simples Konzept auch irgendwo im Fernsehen sehen würde. Natürlich gerne mit solch einem Charmebolzen von Moderator.

Gleich der Auftakt am Donnerstag startete mit zwei wunderbaren Kurzauftritten, die man so nicht erwartet hätte. Die Belgier von Triggerfinger – die sonst lauten, guten Breitbein-Rock’n’Roll im Gentleman Style zelebrieren – zeigten zum Beispiel, dass ihre Riffmonster auch akustisch aufbereitet funktionieren können – und das man dabei keineswegs auf Rock’N’Roll-Urschreie verzichten muss. Der perfekte Kontrast schlurfte kurz darauf auf die Bühne: Die kanadischen Brasstronaut haben zwar den wohl dämlichsten Bandnamen, den man sich ausdenken kann, wenn man keine siebenbläserstarke Ska-Coverband ist, lieferten aber eine wunderbare Performance, die irgendwo zwischen Indie- und Jazz-Sphären schwebte. Es war wohl dieser Auftritt, der dafür sorgte, dass das Imperial Theater, wo sie ihren eigentlich Gig hatten, geradezu belagert wurde und schon kurz vor Konzertbeginn überfüllt war. Ähnlich erging es auch Ray’s Reeperbahn Revue: Am ersten Tag noch übersichtlich gefüllt, hatte man spätestens am Samstag nur noch Chancen hineinzukommen, wenn man wirklich pünktlich war.

Wer auf Hausmannskost setzte, gab sich am Donnerstag die skandinavischen Häppchen, die im Docks auf der Bühne serviert wurden: Bei Miss Li und Friska Viljor weiß man eben, was man bekommt – und weiß, dass die Live-Qualität durchweg eine hohe ist, selbst wenn die Friskas mal wieder bierseelig am richtigen Ton vorbeischmettern. Seltsam verkünstelten Folk konnte man im Imperial Theater erleben, wo die Kanadierin Litte Scream überbetont ausdrucksstark ihre etwas ziellosen Lieder zum Besten gab. Auch ihre Band war augenscheinlich gebrieft, jeden Klang mit einer seltsamen Bewegung zu verstärken – was vor der düsterkitschigen Kulisse des Theaterstücks „Der unheimliche Mönch“ – eine Wallace-Adaption – ein wahrlich schräger Anblick war.

Apropos schräg: Liz Green schoss wenig später den Vogel ab, bzw. holte ihren imaginären Freund John, der halb Vogel halb Mensch ist, auf die Bühne, wo er ein Lied über..äh… Vögel sang. Ehrlicherweise muss man sagen, dass Miss Green ein wenig geschummelt hatte: John war nämlich nichts anderes als Liz Green mit einem Stoff-Vogelkopf über dem Gesicht. Dennoch: So einen Auftritt muss man erst mal bringen. Aber auch ihre mal witzigen mal bösen Folkstückchen und ihre charmant quäkende Stimme übten – kombiniert mit dem permanenten Reden über das Besoffensein – einen eigenen Reiz aus. Diese Dame wird man sicher bald auf den einschlägigen Festivals sehen. So wunderte es nicht, dass die Booker von Haldern Pop und vom OBS schon im Publikum standen.

Zum Abendausklang wählten dann mehr Menschen als ins Molotow passten den Auftritt der britischen S.C.U.M. War deren Show im Berliner Berghain noch höllisch gut, verlor ihr moderner Goth-Sound im rauen Molotow an Glanz, wo die jungen Londoner dann doch auf einmal eher wie just another band wirkten und Sänger Tom Cohen eher gehetzt denn charismatisch war. Dennoch: die Qualität ihrer besten Songs bekam auch das nicht klein.

Der Samstag gehörte dann eher den alten Hasen, denn den jungen Hüpfern, wobei auch letztere sich wacker schlugen. EMA zum Beispiel, die im Knust gegen die Müdigkeit des Publikums angrungte, oder Cloud Control zuvor, die ihren manchmal in 70er-Psychedelic getunkten Indiepop souverän an Mann und Frau brachten. Im Grünspan freute sich derweil Selah Sue über ihr vermutlich via Harald Schmidt-Show gewachsenes Publikum.

Dennoch gehörte der Samstag einer Künstlerin, die schon gefühlte Ewigkeiten die deutschsprachige Musik mit wunderbar bösen Liedern bereichert, die einem das Herz wahlweise zerbrechen, zerschmettern, zertreten – oder manchmal auch schlichtweg erwärmen. Die Rede ist von Christiane Rösinger of Britta und Lassie Singers Fame, die bekanntlich im vergangenen Jahr ihr Solodebüt „Songs Of L. And Hate“ veröffentlichte. Vor den schmucken Sesseln in den Fliegenden Bauten begrüßte Rösinger das Publikum mit diesen Worten: „Hallo, wir sind gekommen, um euch zu helfen. Hamburg ist ja die glücklichste Stadt Deutschlands. Das ging ja diese Woche durch die Presse. Und damit euch nicht immer die Sonne aus dem Hintern scheint, haben wir euch heute eine Reihe depressiver, lebensverachtender Lieder mitgebracht.“ Am Piano wurde sie dabei wieder von Ja, Panik-Sänger Andreas Spechtl begleitet, der – wie man jetzt weiß – aus „Wien-Friedrichshain“ stammt.

Natürlich kennt man Rösinger bereits weintrinkend und bissig witzelnd, dennoch war es eine besondere Atmosphäre, die auch der stinkbesoffene Jung-Hipster aus London in der ersten Reihe nicht versauen konnte. Rösinger hatte neben ihren Solo-Songs wie „Es geht sich nicht aus“, „Sinnlos“ und „Hauptsache Raus“ auch Britta und sogar Lassie Singers-Songs dabei. Diesen hier zum Beispiel:

Ein Klassiker. Auch Herman Dune begeisterten im Anschluss an selber Stelle und bildeten einen guten Gegenpol zu den anfangs zitierten Jezabels, die einen Großteil des Reeperbahnpublikums ins Uebel & Gefährlich lockten. Leider muss man sagen, dass ihr Auftritt nicht der emotionale Höhepunkt der Nacht wurde, den viele erwartet hatten. Es war schon zuvor bekannt, dass Sängerin Hayley Mary mit einer Erkältung zu kämpfen hatte und augenscheinlich ein wenig angeschlagen war. Aber auch die Band verhedderte sich ein wenig in den hohen Ansprüchen an sich selbst und nervte mit einem etwas zu perfektionistischen Gehabe auf der Bühne.

Dennoch: Die Songs der Jezabels, allen voran „Easy To Love“ und „Endless Summer“, zeigen die Größe, die man ihnen für das nächste Jahr wünscht. Drummer Sam Lockwood gibt den Songs mit seinem lebhaften, in einer Metalband geschulten Spiel dabei eine ganz besondere Note, während Hayley Mary mit ihren ausladenden Bühnengesten natürlich Blickfang Nummer eins ist. Wobei auch diese arg bemüht wirkten – was aber auch an der angeschlagenen Kondition gelegen haben könnte.

Wem das alles zuviel Musik wurde, der hatte am Samstag die Möglichkeit, auch mal außerhalb der Klubs Kultur und Kunst zu tanken. Filmkunst, um genau zu sein, denn um 20 Uhr startete eine muntere Tour durch den Kiez mit den Leuten von A Wall Is A Screen. Die Kombination aus Stadtführung und Filmnacht startete direkt auf der Reeperbahn und sorgte früh für erste Lacher, als man eine Kurzdokumentation über die im Rahmen der Messe „Jagd und Hund“ stattfindenden deutschen Meisterschaft im Hirschrufen zeigte. Wunderbare Bilder waren das, als man an der Wand neben dem Schmidt Theater den deutschen Meister Jens Sander in Aktion sehen und hören konnte mit seinem „abgebrunfteten alten Hirsch“, während darunter ein brünftiger Mittvierziger-Kegelclub nach dem anderen in Richtung der Stripschuppen zog. Für Musikfreunde war dann die Hinterhofvorführung dieses Clips ein Highlight:

Tja, schöne Zeiten waren das, als man Rod Stewart noch Coolness unterstellen konnte – und das auch noch in einem Beitrag für den NDR! Leider verpasste man während der anderthalbstündigen Tour, die Auftritte von Locas In Love, Dear Reader und Susanne Sundfør, die Ohrenzeugenberichten zufolge „großartig“ gewesen seien sollen.

Damit hat man dann auch den vielleicht einzigen Dämpfer dieses so lebhaften Festivals: Manchmal ist es einfach zu viel. Gerade dann, wenn man auch mal abseits des eigentlichen Musikprogramms unterwegs ist.

Aber was soll das Klagen: Kurz zu The Duke Spirit ins Grünspan und sich danach von Ja, Panik zynisch den Kopf waschen lassen. Hier sah man Andreas Spechtl nicht konzentriert am Klavier sitzen, wie noch bei Christiane Rösinger, hier wurde die Gitarre geschrubbt und auf Denglisch gegiftet und sinniert. Wer nach allen den frenetischen Jubelhymnen über „DMD KIU LIDT“ denkt, Ja, Panik seien im gefälligen Feuilletonistenrock verendet, wird hier eines besseren belehrt. Es ist ein gutes Zeichen, wenn Weißhemdträger (alle Knöpfe zu) mit ausrasierten Geheimratsecken das Grünspan betreten, zwei Minuten Ja, Panik hören und dann sagen: „Das ist schlecht!“ Das ist gut. Alles richtig gemacht, Ja, Panik!

Auch das – so könnte man sagen – wäre ein Fazit für das Reeperbahn Festival. Fast alles richtig gemacht, Line-up könnte noch ein wenig stärker, aber andererseits hat man ja so schon Probleme genug, die persönlichen Highlights auch alle abzuklappern. Denn manchmal ist es eben zuviel.

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