Paul McCartneys Solodebüt wird 55: Der Beginn einer Revolution

„McCartney" markierte das Ende der Beatles und den Beginn von etwas neuem, das noch größer war.

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Es ist das Bild eines unrasierten jungen Mannes, das mir als Erstes in den Sinn kommt, wenn ich an Paul McCartney denke. Er trägt eine braune Lederjacke mit Teddyfell, die halb geöffnet ist, sodass man sein weißes T‑Shirt sehen kann. Aus der Jacke schaut neugierig ein ins flauschige Innenfutter gehülltes Baby. Paul McCartney lächelt. Es ist ein müdes Lächeln, wie junge Väter es öfter zeigen.

Vielleicht ist es auch ein zaghaftes oder gar unsicheres Lächeln, weil vor ihm eine ungewisse Zukunft liegt. Nicht nur wegen der jungen Familie und all der Abenteuer, die die so mit sich bringt. Sondern auch weil dieses Bild, das seine Frau Linda von ihm gemacht hat, in einer schwierigen, ja man kann wohl sagen, traumatischen Zeit entstanden ist. Er war im Begriff, mit seinen besten Freunden zu brechen, seinen Job zu verlieren, und es hielt sich das Gerücht, er sei tot. Das ist insgesamt nicht die beste Ausgangslage für eine Familiengründung.

Post-Beatles-Depression

Im Herbst 1969 war Paul McCartney aus London aufs Land geflüchtet. Er hatte nicht länger mitansehen wollen, wie alles, was ihm lieb war, den Bach runterging. John Lennon hatte intern seinen Ausstieg bei den Beatles verkündet und der von ihm gegen McCartneys Willen eingesetzte Manager Allen Klein würde sie alle übers Ohr hauen. Eine heruntergekommene schottische Farm auf der Halbinsel Kintyre, die er ein paar Jahre zuvor aus steuerlichen Gründen gekauft hatte, diente dem Beatle on the run als Zufluchtsort.

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An manchen Tagen war er so deprimiert, dass er das Bett nicht verließ. Er trank. Whisky. Viel zu viel. Doch irgendwann erkannte er, dass es mehr gab als das, was er verloren hatte: den Erfolg, den Ruhm, die Schwärmerei der Fans und die Anerkennung der Kritiker. Seine junge Familie nämlich, die Natur, sein Talent, die Liebe, vielleicht gar ein Leben jenseits der Eitelkeiten und des Trubels. Er war 27 Jahre alt. Zeit, erwachsen zu werden.

Emotionale Nacktheit

Das Foto mit dem Baby in der Jacke findet sich auf der Rückseite seines ersten Soloalbums, das schlicht und einfach „McCartney“ heißt. Der Noch-Beatle hatte es im Winter 1969-70 aufgenommen, um sich abzulenken von der deprimierenden Fab-Four-Agonie. Er hatte sich eine Studer-Vierspur-Bandmaschine aus den Studios an der Abbey Road in sein nur wenige Fußminuten entferntes Stadthaus an der Cavendish Avenue liefern lassen und im Alleingang Skizzen, Experimente und Solojams aufgenommen.

Auch und einige Songs, die er bereits mit den Beatles ausprobiert hatte wie das liebliche „Junk“ und die Jugend-Reminiszenz „Teddy Boy“, die er in den Morgan Studios im Londoner Nordwesten komplettierte. „Maybe I’m Amazed“, ein Lied, das es mit seinen großen Beatles-Klavierballaden, „Let It Be“ und „The Long And Winding Road“, locker aufnehmen kann, emotional aber nackter und direkter ist, versteckte er vor seinen Noch-Kollegen und nahm es – ebenso wie einen anderen Höhepunkt der Platte: „Every Night“ – professionell in den EMI-Studios an der Abbey Road auf.

Weitermachen

„McCartney“, diese Lo-Fi-Pioniertat, Krisenbewältigungsplatte und Unabhängigkeitserklärung, erschien am 17. April 1970. Von diesem Tag an – das machte er im für die Presse beiliegenden Info klar – war er ein Ex-Beatle. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Für die Welt war und ist McCartney vor allem ein Beatle. Seine beeindruckendste Leistung scheint mir allerdings, ein Ex-Beatle zu sein.

John Lennon betrat nach dem Ende der Band kaum mehr eine Bühne und ging Mitte der Siebziger erst mal in Frührente. George Harrison machte eine große US-Tour, die er später bereute, und mied danach ebenfalls die Konzerthallen. Ringo Starr wartete bis zur Beatles-Renaissance Ende der Achtziger, bevor er als Oldie-Act durch die Lande tingelte. Nur Paul McCartney machte unbeirrt weiter: veröffentlichte Platten, spielte Konzerte, stellte sich dem Zeitgeist.

Die Siebziger hindurch verfolgte McCartney eine romantische und durchaus exzentrische Vision von Popmusik, die quer stand zu dem seinerzeit so erfolgreichen Blues-Rock- Machismo, den man bis heute mit dem Wort „Rockstar“ verbindet. Seine Songs handelten nicht vom guten alten Rock’n’Roll-, sondern vom Land- und Familienleben. Erzählten von Hunden, Pferden und ewiger Liebe und waren dafür gemacht, mit den Kindern im Tourbus gesungen zu werden. Dafür hat er viel Spott von (in der Regel männlichen) Kritikern und Kollegen geerntet.

Die Kritiker wetzen ihre Messer

Die zeitgenössischen Rezensionen der ersten Post-Beatles-Alben sind wesentlich schlechter gealtert als die Musik selbst: Im rohen, nackten Alleingang „McCartney“ erkannte Richard Williams vom „Melody Maker“ die „reinste Banalität“, das manisch-genialische, zwischen Simplizität und Hexerei oszillierende „Ram“ war für Jon Landau vom ROLLING STONE „der bis jetzt absolute Tiefpunkt im Zerfall des Sixties-Rock“, das charmant untermotorisierte, nach Proberaum und Lagerfeuer klingende „Wild Life“ sei „musikalisch schwach und textlich impotent, trivial und gefühllos“, schrieb John Mendelsohn an gleicher Stelle, und im bukolischen Pop von „Red Rose Speedway“ erkannte „Village Voice“-Kritiker Robert Christgau das „wahrscheinlich schlechteste Album, das je von einem Rock’n’Roller ersten Ranges gemacht wurde“.

Vor allem auf Linda McCartney hatte die Presse sich eingeschossen. „Was auch immer Linda als Ehefrau und Mutter beitragen mag“, schrieb John Mendelsohn bestens informiert über „die Rolle der Frau“ – „sie ist keine Sängerin, sie ist nicht in der Lage, auch nur bei der einfachsten Phrase den Ton zu treffen.“ Sie mag keine begnadete Musikerin gewesen sein, aber nicht nur ihr Mut, sich als Novizin in der Band eines Ex-Beatle zu versuchen, war bewundernswert, sie gab den McCartney-Songs schon auf seinem Solodebüt durch ihren Harmoniegesang eine große Wärme und ihr Einfluss ist bis in die Texte hinein spürbar.

Sie machte aus einem totalen Macho einen Feministen – man höre McCartneys Songs über Liebe und Beziehungen auf „Rubber Soul“ und „Revolver“ und vergleiche sie mit denen ab 1968 –, und später aus vielen Karnivoren überzeugte Vegetarier. Sie war wesentlich daran beteiligt, dass männliche Künstler sich – McCartneys Beispiel folgend – trauten, über andere Dinge zu singen als über ihre sexuelle Potenz.

Drama und Melodie

Die Anerkennung der Kritiker (Kritikerinnen gab es noch kaum) kam kurzzeitig zurück, als McCartney Exzentrik, Eigensinn und Einsiedelei hinter sich ließ und wieder Ohren hatte für das, was in der Popwelt vor sich ging. Er besaß ein großes Talent dafür, sich unterschiedliche Stile so anzueignen, dass sie Teil seiner musikalischen Muttersprache wurden. So baute er sich aus den Anfang der Siebziger angesagten Stilen – Glam, Prog und Singer-Songwriter – einen Sound zusammen, der für seine neue Band charakteristisch werden sollte und wenig mit den Beatles gemein hatte.

Hören kann man das Ergebnis erstmals auf dem Album „Band On The Run“, das unter widrigen Umständen entstand: Die Hälfte der Band hatte am Vorabend des Abflugs zu den Aufnahmen des Albums im nigerianischen Lagos gekündigt, die McCartneys wurden an einem der ersten Aufnahmetage Opfer eines Raubüberfalls, bei dem sie die Demos zu allen Songs verloren, und Afrobeat- Pionier Fela Kuti beschuldigte McCartney öffentlich, er wolle die Musik Afrikas klauen. McCartney machte weiter. Als „Band On The Run“ Ende 1973 erschien, wurde es von der Presse wie ein Comeback gefeiert. Endlich bekam man von einem Beatle, was man von einem Beatle erwartete: epische Rocksongs, spleenige Suiten, Drama und Melodie.

Die Revolution des Erwachsenseins

Als ich McCartney 2008 in den Abbey Road Studios ein paar Minuten sprechen konnte, interessierte mich diese Wende vom Privaten zurück zum Mainstream mehr als jede Beatles-Geschichte. Er habe Angst gehabt, nicht mehr relevant zu sein, erklärte er mir damals. Seine Ex-Kollegen hätten seinerzeit die größeren Hits gehabt, er sei von der Kritik niedergeschrieben worden. Er habe reagieren müssen.

Nach „Band On The Run“ wurden die Wings eine der größten Bands der Siebziger. Diejenigen, die in den Sechzigern zur Musik der Beatles aufgebrochen waren, um die harten Strukturen der Nachkriegszeit hinter sich zu lassen, wurden zu den soften Klängen der Wings-Hits sesshaft. Konnte es bessere Worte geben für das, was man fühlte, wenn man die private Revolution der Familiengründung durchlebte, als: „The wonder of it all, baby/ The wonder of it all, baby/ The wonder of it all, baby, yeah, yeah, yeah“ (aus „Listen To What The Man Said“)? Mir fallen jedenfalls keine ein.

McCartney machte Erwachsenenmusik. Was viele nicht merkten: Es war Musik, die eine Alternative aufzeigte zu dem, was man bis dahin für Erwachsensein hielt. Es ging offensichtlich nicht um Coolness, sondern darum, ein Leben zu führen, in dem alles seinen Platz hat: die Kunst und die Kinder, die Inspiration und die Verantwortung; und eins bedingte das andere. Die Beatles mussten sich trennen, um diese Revolution möglich zu machen, denn sie begann vor 55 Jahren mit „McCartney“.