Jeff Tweedy

„Twilight Override“ – Lebensrettende Maßnahme

DBPM (VÖ: 26.9.)

Ein Dreifach-Album? Wer braucht das heute noch? Die Antworten des Wilco-Chefs sind überzeugend.

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Fast jeden Morgen macht Jeff Tweedy einen Spaziergang zum Hauptquartier seiner Band Wilco, das sowohl Proberaum als auch Studio und Instrumentenlager ist, und bastelt an neuen Liedern. In den letzten zehn Jahren hat er zehn Alben veröffentlicht, die Hälfte mit seiner Band, die andere solo, begleitet von seinen Söhnen Sammy und Spencer und Freunden, die gerade Zeit hatten. Und während man bei den Wilco-Alben in den besten Momenten eine Kraft spürte, die ihn antrieb, herausforderte, die seine Songs erweiterte und, ja, größer machte, verströmten die durchaus charmanten Alleingänge eine häusliche Intimität, die einen nicht immer über eine ganze Albumlänge trug. Anders gesagt: Niemand hat vermutlich auf ein Triple-Solowerk von Jeff Tweedy gewartet. Eher fragt man sich: Warum macht er das?

Die kurze Antwort gibt er im Begleitschreiben: Es ist seine Reaktion auf die finsteren Zeiten, in denen wir leben – er träumt in Liedern von dem, der er mal war, von dem, der er ist, und von denen, die wir sein könnten, fühlt sich frei, wenn er mit Freunden arbeiten und seine Stimme zu einem Lied hinzufügen kann, das niemals endet. „Denn ich kann nicht singen und gleichzeitig Angst haben.“ Die lange Antwort dauert ungefähr zwei Stunden und ist noch viel überzeugender. Sie trägt den Titel „Twilight Override“.

Schönheit und Experiment, Komik und Tragik

Im Gegensatz zu seinen bisherigen Soloalben klingt es nicht wie ein Nebenprojekt, sondern wie ein mit großer Sorgfalt arrangiertes und ausgearbeitetes Werk. Es gibt harsche elektrische und zarte akustische Gitarren, melancholische Spoken-Word-Stücke, schwebenden Ambient und süße Melodien, widerspenstige Streicher und Freunde und Familie, die vereint und Mut machend im Chor singen, Hoffnung und Verzweiflung, Schönheit und Experiment, Komik und Tragik (ein Song trägt den Titel „Lou Reed Was My Babysitter“, da kann sich jeder selbst überlegen, in welche der beiden Kategorien er gehört).

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Ja, dieser Dreiakter, an dem neben seinen Söhnen unter anderem auch der Gitarrist und Songwriter James Elkington und das Duo Finom aus Chicago mitwirkten, ist Ausdruck einer Freiheit, wie wir sie heutzutage (?) nur (noch) in der Kunst finden können, auch wenn Tweedy uns auffordert, sie in die Straßen zu tragen. „Feel free, carry your torch in the street“, singt er ziemlich in der Mitte des Albums. „Say you’re full when we know you’re empty/ Feel free/ Feel free to fall in love with the people you know/ And fall harder for the people you don’t/ Feel free.“

Es ist ein echter Tweedy, dass der letzte der 30 Songs – der mit dem Riff von „Waterloo Sunset“ beginnt und in dem der Sänger zugibt, dass es mit seiner Botschaft der allumfassenden Liebe nicht so einfach ist – den Titel „Enough“ trägt. „Is your heart still tryin’?“, fragt er hier. „Is your heart still alive?/ Is your heart still fightin’/ To get out of your mind?“ Wenn man es noch nicht selbst gehört hat, kann man sich „Twilight Override“ wie eine wiederbelebende Maßnahme vorstellen. Man kann in Zeiten wie diesen nicht genug davon bekommen.

Diese Review erschien zuerst im Rolling Stone Magazin 10/2025.