Parole Brandi: Drakonische Geschlechtertrennung

Unsere Kolumnistin ist unter die Drachenforscherinnen gegangen. Eine Begegnung mit dem Anderen.

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Die Geschichte des Drachen ist so lang und so vielfältig, ich wollte schon schreiben: wie das Geschlecht der Menschen, aber wir sind hier ja nicht bei Tolkien.

Drachen gab es eigentlich schon immer und interessanterweise tauchten sie auf dem gesamten Globus auf. Noch ganz ohne technische oder auch nur analoge Kommunikation, soweit wir wissen. Während die Drachen im europäischen Raum eher zu den Monstern zählen, sind sie auf dem asiatischen Kontinent, je weiter man nach Osten kam, zum Teil heilige Wesen.

Wie sie aussehen, variiert, aber es gibt immer Gemeinsamkeiten; der Glücksdrache in China hat zum Beispiel keine Flügel, in Mittelamerika schon. Aber immer hat der Drache etwas Reptilienartiges und vor allem etwas Übernatürliches. Er verbindet zwar einzelne Elemente anderer Tieren, ist aber in Gegenden ansässig, wo es diese Tiere nie gab. Etwa in den Schweizer Bergen, wo er aussieht wie eine Kreuzung aus einem Löwen und einem Alligator.

Die Motive, dass ein Drache immer in Wassernähe (zum Beispiel in einer Höhle) haust und dass man mit ihm zu kämpfen hat, wiederholen sich vom antiken Rom bis zu den mongolischen Volkssagen. Und man geht davon aus, dass sich die Schreckensnachrichten zwangsläufig über die damaligen Handelswege verbreitet haben.

Siegfried und das Single-Problem

Landläufig bekannt ist, dass man davon ausgehen muss, dass es den Drachen tatsächlich gibt, weil er nämlich eine Eigenschaft hat, die seine Existenz quasi beweist: Drachen können sich sehr gut verstecken. Und demnach ist ein Beweis für ihre Existenz, dass fast niemand sie je sieht und nur sehr wenige Menschen sie je zu Gesicht bekommen haben. Das weiß jedes Kind. Schon Hildegard von Bingen wusste das und hat kostbares Drachenblut als USP-Arznei gegen Unwohlsein empfohlen oder zerstoßene Drachenschuppen (die immer mal zu finden sind, selbst wenn das Tier schon weitergezogen ist, weil sie ihm vom Rücken abfallen) gegen Knochenschwund etwa. Und wer das Glück hat, die Träne eines Drachen vom Boden aufzulesen, dem winkt gar die Unsterblichkeit. Siegfried wusste bereits, dass, wenn man im Blut eines Drachen badet, kein Schwert einen verwunden kann. Dumm nur, dass er (ein typisches Single-Problem) sich nicht selbst auf dem ganzen Rücken eincremen konnte, naja.

Ihr seht: das Thema „Drachen“ ist sehr reichhaltig.

Am beklopptesten wird es allerdings (wie so oft) auf See. Ich stelle mir das aber auch schwierig vor. Wer vielleicht nicht als junger Spund auf einem Zweimaster herumgeturnt ist, dafür aber wenigstens schon einmal auf einer Kreuzfahrt war, weiß, dass Schiffe einfach schwimmende Zellen des Wahnsinns sind. Du kommst da nicht weg, die See ist dein Boss und außerdem der Himmel, was viele bitterlich unterschätzen und rot gepellt und geistig verdorrt von Bord wanken, mit dem Versprechen auf den aufgesprungenen Lippen, nie, niemals wieder ein Schiff zu betreten.

Die Freuden der Geschlechtertrennung

Wer damals über den Seeweg Handel trieb, schickte eine Mannschaft von Leuten los, die wie Gefängnisinsassen zusammengepfercht unter Deck ausharrten, sich bei Wind und Sturm die Innereien auskotzten und bei wochenlanger sengender Hitze möglichst wenig durchzudrehen hatten.

Schiffe waren außerdem traditionell frauenfreie Räume.

Dazu ein kurzer Exkurs: Ich kann das mittlerweile gut nachvollziehen. Als ich eine Platte ohne Männer aufnahm und den Prozess von jeglichem männlichen Zutun freihielt, erfuhr ich erstmals was konzentriertes, effizientes Arbeiten ist. Und zwar nicht, weil die Männer, mit denen ich immer gearbeitet hatte, jetzt alle so schlampig gewesen wären. Nein, es lag daran, dass mich der Flirt mit ihnen diesmal nicht von meiner Arbeit abgelenkt hat, ganz einfach. Wenn ich niemandem gefallen will, kann ich viel besser nachdenken.

Stellt euch mal vor, es stürmt, und ihr müsst eine gute Figur machen, was weiß ich, auf dem Topmast. Oder auch nur aufrechtstehend an Deck. Spätestens wenn dich die Seekrankheit packt, war’s das mit dem Sexappeal. Und damit jetzt zurück zum Thema.

Der erste Drachenfang

Schätze mal, das Lichten des Ankers bedeutete im sechzehnten Jahrhundert nicht zwangsläufig eine Ankunft der Fracht oder gar eine Rückkehr der Besatzung an Bord. Eines Tages jedoch tauchte im Raum Antwerpen etwas Seltsames auf. Man munkelte, dass es die Seeleute waren, die echte Überreste eines Wesens mitgebracht hatten, welches man als „Seeschlange“ oder „Wasserdrachen“ bezeichnete.

So lange hatte man sich darauf verlassen, dass die Drachen zum Beweis ihrer Existenz unsichtbar blieben und jetzt das. Die Seemänner im Jahr 1558 berichteten von einem jungen Drachen, der in der Ostsee lebend gefangen wurde und brachten zum Beweis seine sterblichen Überreste mit.

Ich stelle mir vor, dass die Menschen dicht gedrängt am Hafen standen und ein lautes Raunen durch die Menge ging, als irgendein einäugiger Seebär die schwieligen Hände hob und darin einen toten Drachen hielt. Den ersten echten Drachen, den die Bewohner von Antwerpen jemals zu Gesicht bekommen hatten.

Das männliche Äquivalent zur Seejungfrau ist ein Bischof

Das Ding sah wahrlich furchterregend aus: lange, dünne Beine, zwei dünne Ärmchen, dafür aber ein breiter Brustkorb aus dickem Gerippe. Und dann ein Schädel, der nach oben langgezogen, zu den Seiten nach hinten in zwei Flügeln abfiel und in dem tote, schlitzartige Augen saßen, die den braven Leuten von Antwerpen das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Nicht nur einmal kamen die Matrosen von ihren Reisen zurück und brachten solche eingetrockneten Seeungeheuer mit an Land. Die Geschichten um diese echten Drachen sprudelten von da an nur so aus den Menschen heraus. Manche behaupteten, das sähe man doch ganz genau, der Mannschaft sei ein Seebischof ins Netz gegangen. Also das männliche Gegenstück zur Meerjungfrau, welche aufgrund mehrerer Eigenschaften (Mischwesen, für Unerfahrene sehr gefährlich) quasi irgendwie auch in die Gattung der Drachen gehört. Andere wiederum meinten, dieses seltsame Wesen, das der Matrose da in den verhangenen, belgischen Himmel hob, wäre ein Wasserdrache und sonst gar nichts. Wenn sich der Mensch mal was in den Kopf gesetzt hat, findet er auch Beweise dafür, das kennen wir ja jetzt.

Ein großer Schritt für Belgien

Also waren die „Jenny Hanivers“, wie die drakonischen Überreste – abgeleitet von jeune d’Anvers (Mädchen aus Antwerpen) echte Drachen. Und endlich, endlich konnte man im kleinen Belgien der ganzen Welt beweisen, dass man nun auch einmal leibhaftig einem solchen (wenn auch toten) Wesen begegnet war. Dies war ein, so muss man es einfach sagen, großer Schritt für Belgien, für die Seefahrt und am Ende für die gesamte Menschheit. Dass nun endlich das Böse, das Dunkle, Übernatürliche, Übermächtige sterbliche Gestalt angenommen hatte, schien viele Menschen tief zu befriedigen. Wie sonst hätten sie ihre diffusen Ängste darüber am Leben zu sein auch binden können?

Der Drache erfüllt seit jeher die Funktion des „Anderen“, ist das Wesen, das aus der Dunkelheit der kollektiven Psyche emporsteigt und uns Menschen angreift. Und dass die, wie die Menschen diesem Monstrum (lat. „monstrare“ = „zeigen“) begegnen, so verschieden und besonders ist – in China etwa bringt er Glück und wird keineswegs bekämpft, sondern in bunten Zeremonien verehrt – ist so unendlich interessant, dass ich mich von nun an abseits der Kolumne, der Musik und dem Theater damit beschäftigen und es auskundschaften werde.

Ich werde sozusagen Hobby-Drakologin.

Achso: Böse Zungen behaupten, die Jenny Hanivers seien nichts anderes als einigermaßen kunstvoll zusammengebastelte, tote Rochen. Aber das wäre solch ein Deep Fake und eine so große Schande für Belgien, die Seefahrt und die gesamte Menschheit, dass ich es einfach nicht glauben kann

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.