Liebe Opfer/-innen

Im Wettlauf der beleidigten Leberwürste geht es um jeden Zentimeter. Der Künstler Marc Adelman montierte die Fotos von einer schwulen Datingseite zu einer Collage zusammen. Sie zeigt vor dem Berliner Holocaustmahnmal posierende Jünglinge, für den Künstler ein Statement zum Thema Verfolgung von Schwulen. Als Adelman das Bild im New Yorker Jewish Museum ausstellte, beschwerte sich einer der Abgebildeten, da seine Zustimmung für die Publikation nicht eingeholt worden war. Als das Museum daraufhin das Bild abhängte, sah sich der Künstler als Opfer von Zensur. In diesem Stadium der Erregung war für die wesentliche Frage, inwiefern sich Holocaustopfer vom Missbrauch ihres Denkmals für touristische Zwecke gekränkt fühlen, kein Platz mehr. Die Selbstachtung von Individuen steht seit den 60er-Jahren im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Zu den materiellen Umverteilungskämpfen gesellten sich die identitätspolitischen und symbolischen Kämpfe, in denen es um die Verletzung moralischer Gefühle, um Sexismus und Rassismus ging.

Was heute unter dem Schlagwort „Political Correctness“ diskutiert und zumeist auf die Frage nach korrekter Wortwahl und Schreibweise reduziert wird, hat in der US-Bürgerrechtsbewegung seinen Ausgang. Arbeiterinnen sahen sich von männlichen Gewerkschaftern zu wenig vertreten, afroamerikanische Arbeiterinnen forderten ein Stimmrecht, Universitäten und andere Institutionen setzten „Affirmation Actions“ zur Förderung von Minderheiten durch. Die Ausdifferenzierung der Kompensationsansprüche schreitet voran. Nicht absurd, zu fragen: Und was ist mit den schwulen afroasiatischen Hilfsarbeitern?

Political Correctness, dieser Kommunismus der Selbstachtung am Horizont der Geschichte, bleibt auch heute der Motor moralischer Modernisierung. In einer auf Gehorsam und Disziplin bauenden Gesellschaft galten persönliche Befindlichkeiten als Kinkerlitzchen, die sich mit ein paar Liegestützen vertreiben ließen. Heute gelten Warmduschen und Vorwärtseinparken als Beweise für eine befreite Gesellschaft. Doch wie weit gehen die legitimen Ansprüche der einen und wann missachten sie die Gefühle der anderen? Ein deutsches Gericht verbot unlängst die Beschneidung von männlichen Babys. Die jüdische und die islamische Gemeinde, die dieses Ritual pflegen, reagierten entsetzt. Zählt die Autonomie des Kindes mehr als das Recht auf den Schutz kultureller Gepflogenheiten? Die Forderungen immer neuer Gruppen und Gruppismen müssen abgewägt werden.

Die realen Widerstände gegen eine gleichmäßige Verteilung von Narzissmus, dem Gefühl mithin, sein Leben ohne Assistenzeinsatz in die Hand nehmen zu können, bleiben stark. Sie formieren sich in männlich dominierten Vorstandsetagen ebenso wie in den rhetorischen Schützengräben rechter Agitatoren, die Migration und Frauenrechte als Angriff auf Familie und Vaterland begreifen.

Wo ist eigentlich die Grenze der PC? Als die Documenta-Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev unlängst ein Wahlrecht für Erdbeeren forderte, erntete sie Spott. Dabei formuliert sie nur ein altes Anliegen jener, die etwa den Begriff „Hund“ in Anführungszeichen setzen, weil er den Menschen als Herrchenrasse voraussetzt. Bis das Parlament der Menschen, Tiere und Erdbeeren Wirklichkeit geworden ist, beherrscht die Kleinstaaterei der Opfer die Diskussion über das richtige Leben. Neben den legitimen, vor Gericht verhandelten Ansprüchen der realen Opfer gibt es Armeen von Opferanwälten und gefühlten Opfern, die sich, wie der eingangs erwähnte Künstler, für das Leiden anderer zuständig fühlen.

Auf Diskriminierungsrenditen setzen sogar jene, die das Gegenteil von „Du Opfer!“ sind. Bestsellerautoren wie Thilo Sarrazin beschweren sich auf den Titelseiten von Boulevardmedien darüber, zur Zielscheibe von Tugendwächtern geworden zu sein.

Für all jene, die sich darauf verlassen, dass das Schmerzensgeld für sie arbeitet, hat die Psychoanalyse ein Lernziel parat: Widerstehe der Verlockung, ein Opfer zu sein!

Matthias Dusini und Thomas Edlinger sind die Autoren des Bandes „In Anführungszeichen: Glanz und Elend der Political Correctness“ (edition suhrkamp, 16 Euro)

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