Das große Wabern

Am 16. Mai 2008 beschloss Jim James der Stadt Amsterdam etwas zurückzugeben. Zwar war der Zeitpunkt schlecht gewählt – es war sechs Uhr morgens und regnete außerdem -, aber: a man’s gotta do what a man’s gotta do, das wusste schon der Duke. Also schritt der schlangenbeschwörerische Spiritus Rector von My Morning Jacket nach durchwachter Nacht (der Jet-Lag!) die um diese Uhrzeit noch völlig verwaiste Herengracht entlang, bis er schließlich einen für sein Ansinnen geeigneten Ort fand. Wild entschlossen zerrte James eine Schere hervor, schnitt sich, nein: nicht einfach nur die Fingernägel, sondern er ließ sie in einem Ritual einzeln und in andächtiger Stimmung ins Kanalwasser gleiten. Einmal putsch, zweimal putsch — wie kleine Schiffe segelten die hörnernen Sicheln davon, und mit jedem Putsch verspürte James ein tiefes Gefühl der Genugtuung.

So zumindest erzählt James (inzwischen nicht mehr ganz so vollbärtig wie zuletzt) die Geschichte knapp 20 Stunden später in einer schmierigen Touristenkneipe am Leidseplein. Einige Stunden zuvor hatte er zusammen mit dem studierten Musiker Carl Broemel (der 2004 für den tourmüden Johnny Quaid in die Band gekommen war) ein Radiökonzert im „Studio Desmet“ im Osten von Amsterdam gespielt.James betrat die Bühne, legte seinen Kopf ganz weit in den Nacken und eröffnete den Abend, nomen est omen, mit „Tonite I Want To Celebrate With You“. Ich musste unwillkürlich daran denken, dass irgendwo zwischen all den anderen blöden Klischees, die über diese Band schon verbreitet wurden, auch mal zu lesen war, dass sich Jim James auf der Bühne stets in Zuständen höchster Transzendenz befinde und quasi auf Knopfdruck eins mit dem Universum würde, sobald er das Hallgerät einschaltet und eines seiner mäandernden Schwebelieder anstimmt. Ist natürlich völliger Quatsch: „Die meiste Zeit ist man bei Auftritten leider damit beschäftigt, sich über verstimmte Instrumente und Sound-Probleme zu ärgern.“ Es gebe jedenfalls keine Möglichkeit, die ersehnte Selbstvergessenheit künstlich herbeizuführen, bescheidet James. Man könne nur seinen Job machen und hoffen.

Heute klappt’s. Der Aufmerksamkeit des in weihevoll knisternder Andacht verharrenden Publikums können sich die zwei Fünftel von My Morning Jacket vom ersten Moment an sicher sein. Broemel bleibt beinahe über die gesamte Distanz der dienstbare Geist im Hintergrund, intoniert Backings (wie neuerdings fast alle Bandmitglieder) und spielt Gitarre oder Pedal Steel — vor allem letzteres ganz ausgezeichnet.

Irgendwann verlässt Carl die Bühne – und James bittet, das Licht möge gedimmt werden. Moderne Videokameras, tröstet er das anwesende Fernsehteam, funktionierten auch mit wenig Licht, das wisse er als Hobbyfilmer aus eigener Erfahrung. Der Wunsch wird erfüllt, und was dieser Mann anschließend zustande bringt, wie er etwa „What A Wonderful Man“, einen wuchtigen Rocker im Stile der Who vom letzten Album „Z“, im Alleingang nur mit akustischer Gitarre zum Leben erweckt – ein Hochgenuss. Vor allem wenn man bedenkt, dass My Morning Jacket in voller Mannschaftsstärke durchaus zu schweinsledernen Wackelkopf-Rockern zu mutieren vermögen. Ein stilistisches Spektrum, das zwar durchaus seine Vorteile hat, aber in seinem alles verschlingenden psychedelischen Sog mitunter die Details vernachlässigt.

Danach an der Bar raunen sich die Alteren mit glänzenden Augen die sorgsam überlieferte (und vermutlich mythologisch ordentlich aufgeladene) Anekdote zu, auf der der auch heute noch vergleichsweise große Ruhm von My Morning Jacket in den Benelux-Ländern angeblich fußt. So wird endlich auch das Rätsel mit der albernen Optergabe gelöst: Es war auf der Tour zum ersten Album, „The Tennessee Fire“. Die Band spielte ein Showcase im Amsterdamer Melkweg, und undankbar und arrogant gegenüber unbekannten Bands wie solche Menschen manchmal sind, verköstigte sich die exklusiv geladene Gästeschar zwar ausgiebig an den gratis dargebotenen Köstlichkeiten in fester und flüssiger Form, war aber nicht bereit, auch dem Tun auf der Bühne ein wenig Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Es war ein Plärren und ein Gurren und ein Scharren – und irgendwann reichte es Jim James: Mit einem beherzten Sprung von der Bühne landete er genau in der Mitte der fröhlichen Stehparty, und zwang den Leuten kurzerhand seine Musik auf. Am Ende, so erzählt der örtliche Promoter, ein Veteran seines Faches, hinterließen James und Co. ein ausgelassen tanzendes Publikum, das die Kunde ins Land trug und fürderhin noch jeder weiteren Veröffentlichung aus dem Hause My Morning Jacket seinen Segen erteilte.

Den Menschen von Amsterdam bedeutet diese Erinnerung viel, vielleicht alles. Für Jim James aber war es vermutlich nur ein Auftritt unter unzähligen auf der Never-ending-Tour, die My Morning Jacket seit zehn Jahren von Louisville rund um den Erdball führt. „Wir haben nie genug Platten verkauft, um davon leben zu können. Unser Auskommen mussten wir uns stets auf der Bühne erspielen“, erklärt der 29-Jährige ohne großes Bedauern. Jahrelang arbeiteten sie in den üblichen Mc-Jobs als Maler, Kellner oder Kurierboten. Erst mit dem 2003er Major-Debüt „It Still Moves“ wurde es langsam besser – und „Z“ verkaufte sich dann alleine in den USA bereits 200 000 Mal, nicht zuletzt dank ausgedehnter Tourneen mit Pearl Jam und Bob Dylan. Letzterem Engagement (und den ständigen Vergleichen mit The Band) verdankt James auch indirekt seinen Kurzauftritt zusammen mit Calexico in Todd Haynes‘ Dylan-Film „I’m Not There“.

Eigentlich war Hank Williams Jr. für den Part vorgesehen, aber er konnte nicht, und so fragten sie mich“, erzählt er. „Wäre es eines dieser klassischen Biopics gewesen, wie etwa ,Ray‘, hätte ich es nicht gemacht. Aber das Drehbuch erschien mir seltsam und abgedreht genug zu sein, dass es Dylan hätte gefallen können. Außerdem ist ,Goin‘ To Acapulco‘ einer meiner Lieblingssongs.“ Der Titel des Films war aus der Sicht von James übrigens durchaus angemessen, denn getroffen hat er Phantom Dylan trotz vier gemeinsamer Tourneen noch nie.

Infolge des jahrelangen Lebens auf der Straße vermisse der zwischen Louisville und New York pendelnde James, der im Gegensatz zu seinen Mitmusikern nicht in einer festen Beziehung lebt, Teil einer außerhalb der Band stehenden Gemeinschaft zu sein. „Einmal die Woche zum Yoga und am Wochenende mit Freunden grillen“, wie er sagt.

Kein allzu herber Verlust freilich. Wenn die Zeichen nicht trügen, zahlt sich die Plackerei nun ohnehin im größeren Maßstab aus: Mit dem Titelsong ihres fünften Studio-Albums, „Evil Urges“, waren My Morning Jacket vor einigen Wochen bei „Saturday Night Life“, das „Spin“-Magazin widmete ihnen den Mai-Titel, und auch sonst hat man den Eindruck, dass die ehemals reinen Kritikerlieblinge (was bekanntlich bedeutet: chronisch Erfolglosen) noch nie so sehr „passierten“ wie in diesen Tagen. Man merkt das auch beim einzigen kontinentaleuropäischen Pressetermin am Nachmittag vor dem Konzert: Wir sitzen in einem Hotel an eben jener Herengracht. Der Andrang ist groß, der Zeitplan hoffnungslos aus den Fugen geraten.

Doch wir haben Zeit: In den nächsten zehn Stunden, die wir mit James und Broemel verbringen werden, erfahren wir unter anderem Folgendes: Der langjährige persönliche Assistent der Band wird „five thirty“ gerufen, weil er einst um – erraten -, 5 Uhr 30 in der Früh nach einem LSD-Trip zusammenhanglos sabbernd und weitgehend unbekleidet von einem Mitbewohner aufgefunden wurde. Außerdem stellen wir fest, dass beide anwesenden My Morning Jacket-Musiker ziemlich diszipliniert sind, also erst nach Feierabend Alkoholisches trinken (und selbst dann übrigens nicht übermäßig viel). Entgegen dem Klischee von bärtigen Psych-Rockern führt James erster Weg in Amsterdam auch keineswegs in einen jener Coffee-Shops, die – neben den Grachten der Großketten-globalisierten Stadt den letzten Hauch von Lokalkolorit verleihen.

Vor allem aber reden wir immer wieder über „Evil Urges“. My Morning Jacket etablieren mit dem Album endgültig eine Art Genre-übergreifenden Kunstrock, der die Anhänger der rein psychedelischen Americana-Rock-Lehre etwas ratlos hinterlässt. Mitunter leidet das Werk unter zuviel Ambition und einem unglücklichen Sequenzing. Letzteres kein Zufall: Ganz bewusst habe man den Leuten mit den drei ersten Songs vor den Kopf stoßen wollen, bevor es dann nach hinten zunehmend vertrauter werde, betont James – ein fanatischer Verfechter der Kunstform „Musikalbum“ -, und verweist auf angebliche grower-Qualitäten.

Tatsächlich handelt es sich um eine jener Platten, die ihre schließlich zuckerwasserartig süchtig machende Wirkung einer im Grunde perfiden Eigenschaft verdanken: Sie sind in der Realität nie ganz so gut, wie man sich ihrer im Kopf erinnert -weshalb man sie wieder und wieder auflegt. Was freilich exklusiv für den zweiten Teil gilt, der mit der betörenden Country-Soul-Ballade „See Walkin“ und dem von einem wild schlagenden Herzen eingeleiteten „Smokin From Shootin“ zwei der besten Nummern enthält, die dieser Band bislang gelungen sind.

Weniger wichtig ist, dass die neuen Songs in New York aufgenommen wurden. Zurzeit vermehrt angestellte küchenpsychologische Betrachtungen, Beiträge wie der Soul-infizierte Popper „Highly Suspicious“ verdankten ihren vergleichsweise prominenten Beat der urbanen Quirligkeit der Großstadt, sind eindeutig Unsinn, da alles lange vorher fertig war. Wie immer hatte James, der während der Arbeitsphasen angeblich niemals andere Musik hört, das Album etwa zu 90 Prozent durchkomponiert, als er sich vergangenen Sommer mit den Kollegen im Hideaway Studio im ländlichen Colorado traf. Dort tarierten alle fünf Mitglieder die Feinheiten aus, erst im November ging’s zum Aufnehmen. Jim James‘ Rolle in der Band als uneingeschränkter Kopf wird von den anderen übrigens nicht nur akzeptiert, sie sind sogar stolz auf ihren Leader. „Du hast es ja heute gesehen“, sagt Broemel nach dem Radiokonzert. „Jim braucht nur eine Gitarre, um unsere Musik alleine zum Leben zu erwecken. Diese Songs sind seine Babys.“

Der Hall, das schwelgerische Wabern, die entrückte Psychedelik – nachdem die bisherigen Platten der Band ohnehin schon von quasi-religiöser Erfahrbarkeit sind, ist es nur konsequent, sich endlich auch inhaltlich des Themas Religion anzunehmen. Wenn James beim Schreiben der neuen Songs einen übergeordneten Handlungsfaden verfolgt hat, dann ist es die Beschäftigung mit den moralischen Dogmen der Weltreligionen und ihrem mitunter fatalen Anspruch auf alleinige Definition des Bösen. James ist katholisch erzogen worden, hat der Kirche aber Vorjahren abgeschworen: „Mich beschäftigte die Frage, welche Maßstäbe Leute bei der Beurteilung von Dingen anlegen und wie sehr ihre moralische Unterteilung in Gut und Böse auf ihren religiösen Überzeugungen basiert. Da ich selbst es mir absolut nicht vorstellen kann, mich irgendeinem Glaubensystem unterzuordnen, verachte ich die Arroganz, mit der sich die Angehörigen der jeweiligen Religionen anmaßen, menschliches Verhalten und die Dinge, die auf der Welt passieren, in Gut und Böse zu unterteilen. Wenn aber jeder die alleinige und absolute Wahrheit für sich beansprucht, schaukelt man sich nur gegenseitig hoch — und es kann nie zu einer Versöhnung kommen. Die offensichtliche Wahrheit ist doch, dass niemand endgültige Antworten auf die großen Fragen des Lebens hat.“

Es ist drei Uhr morgens. Nach vielen Gesprächen und einigen Ortswechseln gehen wir auf dem Weg zum Hotel abermals die Herengracht entlang. Der Tourmanager der Band erzählt von früher, wir anderen sind nur noch müde. Wieder regnet es, wieder ist es stockdunkel und die Straße ist menschenleer. Leise hört man die Regentropfen ins Wasser gleiten. Irgendwo auf dem schlammigen Grund liegen jetzt Jim James‘ Fingernägel. Bis in alle Ewigkeit.

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