Drei Gründe, warum SSIO gerade einen neuen Deutschrap-Hype auslöst
SSIO ist wieder da. Und wird für seine neue Single „Alles Oder Nix“ begeistert gefeiert. So präsent wie jetzt, war Deutschrap als Subkultur seit Jahren nicht mehr. Was hat es damit auf sich? Eine Analyse
Vier Jahre lang gab es so gut wie kein Lebenszeichen, jetzt meldet sich der Bonner Rapper SSIO mit einer Album-Ankündigung, seiner Comeback-Single „Alles Oder Nix“ und einem knapp zehnminütigen Videoclip zurück. Und das Internet, nunja, das steht Kopf. Am Montag nach dem Release-Wochenende hat das Musikvideo bereits 1,5 Millionen Klicks eingesammelt, es gibt zahlreiche Reactions, begeisterte Kommentare, Forendiskussionen und digitale Liebeserklärungen von Fans, Rappern und natürlich auch der Industrie. Man kann sehr deutlich sagen, dass SSIO das geschafft hat, was es schon sehr lange nicht mehr im klassischen Deutschrap-Kosmos gab – SSIO hat gerade einen veritablen Hype ausgelöst.
Dass das ausgerechnet ihm gelingt ist kein Zufall. Und auch der Zeitpunkt für sein Comeback könnte nicht passender sein. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Szene radikal verändert, Deutscher HipHop ist keine subkulturelle Jugendbewegung mehr, sondern längst im Mainstream-Pop aufgegangen. Die erfolgreichsten Artists der Gegenwart werden zwar weiterhin als Deutschrap klassifiziert und vermarktet, öffnen sich musikalisch aber längst eine sehr breite Masse, die mit dem klassischen Zielpublikum kaum noch etwas zu tun hat. Von Apache 207 zu Shirin David von Ski Aggu zu Ikkimel ist eine Generation an Künstlern herangewachsen, die zwar von Deutschrap geprägt wurden, ihn aber nicht mehr in seiner subkulturellen Form verstehen wollen, sondern das (für sie) zu enge Korsett abgelegt und in ein radio- und hittaugliches Format transformiert haben.
Die verbliebenen Artists, die noch eine nennenswerte Anzahl an Hörer erreichen, funktionieren in den seltensten Fällen über eine interessante, kulturprägende Personality, als vielmehr über Spotifiy-Playlist-Hits (seltene Ausnahmen wie Pashanim und ein paar Underground-Hoffnungen wie Lacazette bestätigen die Regel). Die Konsequenz: Die tragenden Säulen einer Subkultur lösen sich auf, Festivals werden nicht mehr von distinktiv Gleichgesinnten, sondern von der Beliebigkeit einer Generation Yolo geflutet, Mode als codifizierter Erkennungscode spielt keine Rolle mehr und etablierte Deutschrap-Medien sind längst in der Irrelevanz verschwunden. Die einstigen Säulen, die das Genre getragen haben, sind längst abgerissen. Deutschrap ist zwar nicht tot, aber er ist Pop.
SSIO und die Goldene Ära des Deutschrap
SSIO hingegen ist noch alte Schule. Er ist durch und durch HipHop. Er steht für die Goldene Ära deutschsprachiger Rapmusik und ist dabei wahrscheinlich der eine Artist, auf den sich am Ende dann doch alle einigen können. Die Old-, die New- und die True-Schooler, die Hipster, das Feuilleton und der Schulhof. SSIO bedient sie alle. Sein Sound basiert auf modernisierten 90er-G-Funk-Kopfnicker-Beats, seine Ästhetik ist von alten VHS-Kiffer-Komödien geprägt, gleichzeitig aber mit einem Tarantino-Touch, schnellem Schnitt und Zeitgeist-Anleihen so sehr modernisiert, dass er einen Retro-Futurismus etabliert hat, dem sich eigentlich niemand so wirklich entziehen kann.
Ganz zu schweigen davon, dass SSIO ein begnadeter Rapper ist. Diesen Gesamteindruck konnte auch sein enttäuschendes letztes Release „Das neue Album“ (2021) nicht trüben, das mit seinem modernen Trap-Erscheinungsbild viele alte Fans vor den Kopf gestoßen hat. Aber das wird ausgeblendet. SSIO setzt mit „Alles Oder Nix“ wieder da an, wo er mit „0,9“ (2016) und „Messios“ (2019) aufgehört hat.
Dabei nimmt SSIO weder sich selbst, noch die Szene ernst, er überzeichnet ohne peinlich zu sein, er überdreht seine Fäkalwitze so sehr, dass sie in der dadurch gewonnen Ernsthaftigkeit wieder funktionieren und einen authentischen Kern haben. Dass SSIO mit dem Video zu seiner Comeback-Single nicht bloß einen unterhaltsamen Blockbuster vorlegt, sondern auch seinem Entdecker und ehemaligen Labelboss, dem kürzlich verstorbenen Rapper Xatar, bürgerlich Giwar Hajabi, Tribut zollt, der in seinem Video wahrscheinlich seinen letzten öffentlichen Auftritt vor Kamera hatte, ist da nur noch die Pointe.
Trennung der Beiden nicht als Beef, sondern als cineastisches Happening
In ihrer gemeinsamen Szene zeigen sie in Perfektion, wie der „Alles Oder Nix“-Gedanke funktioniert, den Xatar nicht nur formuliert, sondern auch gelebt hat, die Philosophie nämlich, aus vermeintlichen Rück- und Schicksalsschlägen – nicht selten im Wortsinn – Gold zu machen. So greifen Xatar und SSIO die Gerüchte, die sich um Xatars Kokainsucht und seine Insolvenz verselbstständigt haben, selbstironisch auf und nutzen sie als Storyline, mit der SSIO schließlich seinen Wechsel zu einem Majorlabel begründet, der im Video natürlich von sämtlichen Majorlabel-Klischees getragen wird, die man sich nur vorstellen oder eben auch nicht vorstellen kann.
Die tatsächliche Trennung der Beiden wurde entsprechend nicht als Beef, sondern als cineastisches Happening inszeniert, ein nahezu postmoderner Umgang mit der Realität, der zeigt, dass auch im Deutschrap gerade die nicht schon ausgetretenen Pfade zu maximaler Sympathie führen. Der neue, alte SSIO ist entsprechend genau die Frischzellenkur, die Deutschrap dringend benötigt hat. Mit seinem für Oktober angekündigten Album dürfte er nicht bloß seinen nächsten kommerziellen Höhepunkt erreichen, sondern wohl auch die Weichen für die Zukunft der Szene und ihrer popkulturellen Bedeutung als Jugendkultur legen. Frei nach dem Motto: Alles oder Nix.