Neunte Kunst

Endlich gibt es Manga-Star Matsumoto auch bei uns zu entdecken

Die magisch-realistischen Mangas des Japaners verbeugen sich vor europäischen Comic-Künstlern, sind häufig gesellschaftskritisch und ungeheuer empathisch.

„Wer traurig ist, der geht zu Sunny. Hier dürfen nur wir Kinder rein.“ Der sonnen-gelbe Nissan Sunny 1200 ist der Rückzugsort für die her-anwachsenden Bewohner des „Star Kids“-Kinderheims. Der stille Kenji sucht den abgestellten Wagen auf, wenn er von seinem alkoholkranken Vater zurückkommt und einmal mehr begreift, dass es keinen Weg zurück gibt.

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Der weißhaarige Spring-ins Feld Haruo fährt dank Willenskraft im Sunny vor seiner tiefen Traurigkeit davon, die er hinter dicken Sonnenbrillengläsern zu verstecken versucht. Auch Bücherwurm Sei zieht sich in das stillgelegte Auto zurück, um in Ruhe darüber zu weinen, dass seine Mutter ihn allen Versprechungen zum Trotz nie mehr abholen wird. „Im letzten Brief von Mama steht: ‚Ich komme dich bald abholen.‘ Aber ich will mir keine falschen Hoffnungen machen. Wenn man belogen wird, tut es noch mehr weh.“

Verarbeitung der eigenen Kinderheim-Zeit

„Sunny“ ist die persönlichste Erzählung des japanischen Comic-Zeichners Taiyo Matsumoto, der in seiner Heimat ein Star ist und erst seit wenigen Jahren auch in Deutschland entdeckt wird. In der auf fünf Bände angelegten Serie verarbeitet er seine Zeit in dem Kinderheim, in dem er fast sechs Jahre lebte. „Es gibt Teile, die meinen eigenen Erfahrungen sehr nahe kommen, andere wurden erfunden. Eigentlich wollte ich es anfangs autobiografischer machen, aber das habe ich nicht hinbekommen, also wurde es halb real und halb erfunden“, sagte er vor Jahren dem Magazin „Time Out Tokyo“.

Man muss kein Psychologe sein, um darin auch einen Umgang mit seinen eigenen Erinnerungen zu erkennen. „Wenn ich etwas zeichne, das tatsächlich passiert ist, ist es für mich, als würde das Kind auf der Seite wirklich existieren. Ich zeichne eine Szene mit einem weinenden Kind, und ich bin mir nicht sicher, ob es das Kind ist, das weint, oder ich selbst. Das habe ich noch nicht erlebt.“

Larmoyant ist „Sunny“ indes keineswegs. Aber unheimlich empathisch. Dies wird in jeder einzelnen Geschichte, mit der wir die Kinder immer besser kennenlernen, deutlich. Matsumoto wollte als Kind eigentlich Profisportler werden, doch als sein Fußballteam einmal haushoch verlor, wusste er, dass er einen anderen Plan brauchte. Sein Cousin, der Manga-Zeichner Santa Inoue, empfahl ihm, Comic-Zeichner zu werden.

Vorbild: „Akira“-Erfinder Katsuhiro Otomo

Aber „ich war mir sicher, dass ich Mädchen damit nicht sonderlich beeindrucken würde“, so Matsumoto. Bis er eines Tages die Arbeiten von Katsuhiro Otomo entdeckte, dem Erfinder der legendären „Akira“-Comics. Bei Otomo gerät er bis heute ins Schwärmen: „Es sah cool aus, aber es steckte mehr dahinter. Es war, als würden sich die Bilder bewegen, und die Dialoge hörten sich natürlich an. Es war nicht die ‚Manga-Welt‘ – es war näher an der realen Welt.“

Dieser realen Welt hat er sich langsam angenähert. Seine ersten Comic-Erzählungen handeln von einem in die Jahre gekommenen Baseballspieler und einem Boxer am Karriereende. Die anschließende Comic-Serie „Hanaotoko“, die von einer Familie am Meer erzählt, hat ihn selbst ans Meer geführt. Seit dreißig Jahren lebt er mit seiner Frau, der Mangaka Saho Tono, auf der Halbinsel Enoshima südlich von Tokio.

Schon in diesen Arbeiten werden die Einflüsse europäischer Zeichner wie Moebius und Enki Bilal sichtbar, deren Werke er in den Achtzigern auf einer Europareise entdeckte. Seinen Durchbruch feierte er mit dem grandiosen Yakuza noir „Tekkon Kinkreet“. Die in 33 Kapiteln erzählte Hard-Boiled-Dystopie handelt von den Brüdern Kuro und Shiro, die in Takara Town der Halbwelt den Kampf ansagen. Nicht Moral, sondern Überlebenswille treibt sie an.

Matsumotos gezeichneter Schlag in die Fresse der japanischen Leistungsgesellschaft wurde erst im Nachhinein Kult. Künstler, Musiker und Filmemacher begannen sie aufgrund ihrer zahlreichen popkulturellen Anspielungen weiterzuempfehlen. Es folgte das tausendseitige Tischtennis-Epos „Ping Pong“, dann sein surreales Meisterwerk „GoGo Monster“ über den Jungen Yuki, in dessen Welt „Wesen von der anderen Seite“ spuken, angeführt von einem allmächtigen „Superstar“.

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Er gehört zu den Sonderlingen an der Schule, für die nur Hausmeister Gantz Sympathien hegt. „Wenn man erwachsen wird, löst man sich im Inneren zu Brei auf und das Gehirn wird hart wie Stein. Und im Inneren wimmelt’s dann von Würmern und man riecht irgendwie komisch“, sagt Yuki in „GoGo Monster“.

„GoGo Monster“, Reprodukt – 29 Euro

Reprodukt
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