Neunte Kunst

Comic-Meisterwerk „Vatermilch“: Auf der Suche nach Papa

Der Comiczeichner Uli Oesterle erfindet in „Vatermilch“ die Geschichte seines verschwundenen Vaters neu. Das ist so berührend wie einfallsreich.

Vier Damen brechen Rufus Himmelstoss das Genick, ohne dass er es merkt. Die Gefahr geht aber nicht von den vier Kundinnen aus, die der fliegende Händler am Vormittag flachgelegt hat, sondern von dem Damen-Quartett, das sein Chef auf der Hand hat.

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Es wird sein Full House schlagen und seine Spielschulden ins Unermessliche treiben. Zugleich flattert ein Brief der Steuerbehörde mit einer fetten Forderung ins Haus, was seinen „Zuckerwürfel“ dazu bringt, ihn vor die Tür zu setzen. Das alles hindert Rufus Himmelstoss aber nicht daran, immer noch so zu tun, als hätte er alles unter Kontrolle. Doch der Stein des Schicksals rollt längst gen Abgrund.

Noch einmal wird er in der legendären Münchener Disco Yellow Submarine abstürzen, bevor er auf einer regennassen Straße die Bahnen seines geordnet ungeordneten Lebens endgültig verlässt. Zurück bleibt sein siebenjähriger Sohn Victor, dessen Vater von einem Moment auf den anderen verschwindet. Victor Himmelstoss könnte auch Uli Oesterle heißen, der sich in seinem auf vier Bände angelegten Comic „Vatermilch“ (Carlsen, 20 Euro) mit dem Verschwinden seines Vaters und den Folgen auseinandersetzt.

Auseinandersetzung mit dem geflohenen alkoholkranken Vater

1973 verließ Peter Oesterle Frau und Sohn für eine jüngere Geliebte, für Oesterle ein einschneidendes Erlebnis. „Der Weggang meines Vaters war ein schwerer Schlag für mich. Der, den ich liebte, ging und ließ mich mit meiner Mutter allein“, erzählt der 54-jährige Zeichner. Doch im Laufe der Jahre wurde aus dem geliebten Vater „der Samenspender“, der sich nicht kümmerte und irgendwann ganz verschwand.

„Mal hat man gehört, er sei im Gartenhäuschen von alten Freunden aufgetaucht, dann hieß es, er sei ob dachlos. Gerüchte eben. Dass er Alkoholiker war, wussten wir.“ 2010 stirbt Peter Oesterle in einem Pflegeheim. Dort erfährt der Münchener Illustrator, dass sein Vater am Korsakow-Syndrom gelitten hat – einer Art Gedächtnisverlust, der oft nach jahrelangem Alkoholmissbrauch auftritt.

„Typisch für diese Krankheit ist, dass die Betroffenen ihr Leben komplett frei erfinden, bis ins geringste Detail“, erklärt er. Wie Käpt’n Blaubär oder Baron Münchhausen, schiebt er ironisch nach. Als er zwei Jahre nach dem Tod des Vaters beschließt, über dessen rätselhaftes Leben einen Comic zu zeichnen, macht er sich diesen Umstand zunutze. Er erfindet die Geschichte neu und macht plausibel, wie sein Vater einfach so verschwinden konnte.

Irrfahrten des Rufus Himmelstoss

„Der Comic selbst spiegelt gewissermaßen das Krankheitsbild. Denkt man drüber nach, wird einem fast schwindlig.“ Oesterle hat „Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“ detailliert ausgeschmückt, Design, Mode, Architektur und Musik spiegeln perfekt die 70er-Jahre wider. Mit wenigen Farben gibt er dieser durch Zeiten, Orte und Köpfe fliegenden Erzählung im ersten Band Struktur. Seine Zeichnungen werden nur selten von Konturen gestützt. So findet die Haltlosigkeit der Vaterbiografie eine geniale Verwirklichung in der Grafik.

Mit „Papa never was much on thinking, spent most of his time chasing women and drinking“ bringen die Temptations im Comic das Leben des Rufus Himmelstoss fast versöhnlich auf den Punkt. Er habe aus seinem Vater „einen besseren Menschen gemacht, als er wirklich war“, räumt der Zeichner ein. „Irgendwie menschlicher. Vielleicht hat mir das meinen Vater insofern zurückgebracht, als dass ich so einfach meinen Frieden damit gemacht habe.“


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Seinen Frieden mit seinem Vater machen muss auch Victor Himmelstoss, der mit seinem Dasein hadert. Dessen Alltag als Comiczeichner und Vater schiebt Oesterle immer wieder zwischen die Vaterlegende. Ähnlichkeiten zu lebenden Illustratoren sind beabsichtig, denn Oesterle nutzt das Projekt, um sein eigenes kindliches Trauma und sein Verhalten als zweifacher Vater zu reflektieren. Er will sich nicht wie sein fiktiver Zeichner in der Situation wiederfinden, sich zwischen Kunst und Familie entscheiden zu müssen.

„Victor läuft Gefahr, einen ähnlichen Weg einzuschlagen wie sein Vater, nur eben nicht auf so eine ganz abgefuckte Art und Weise.“ Ob es ihm gelingt, das abzuwenden, wird man in den noch ausstehenden drei Bänden er fahren. Bis 2025 will Oesterle sein Opus Magnum abschließen.

Carlsen
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