„Heaven’s Gate“: Zu lang, zu langweilig – und ein Meisterwerk

Als Michael Ciminos elegischer Spätwestern „Heaven's Gate“ in die amerikanischen Kinos kam, war das der Sargnagel für das „New Hollywood“.

Das alte United Artists existiert heute nicht mehr, aber es existierte am 26. August 1980, einem heißen, flirrenden Tag in Los Angeles. 79 Prozent aller Amerikaner hatten damals von United Artists gehört, wie eine Erhebung auswies. So beginnt Steven Bach seine Erinnerungen an die Zeit, als er die Produktionsabteilung von United Artists leitete. Die Zeit, als er seit zwei Jahren auf die Fertigstellung eines Films wartete, den Michael Cimino in Montana gedreht hatte und den er seit sechs Monaten schnitt.

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Cimino hatte versprochen, den Film zu Weihnachten 1979 fertig zu haben. Er hatte aber auch versprochen, den Film für 7,5 Millionen Dollar zu produzieren. Er hatte versprochen, die Studioleute an die Schauplätze zu lassen. Er hatte versprochen, ihnen die Rohaufnahmen zu zeigen. Dann gab er immer mehr Geld aus, ließ niemanden von United Artists an die Schauplätze und zeigte kein gedrehtes Material mehr. Im November 1980 kam der Film schließlich in die amerikanischen Kinos, er hatte 45 Millionen Dollar gekostet, und United Artists, 1919 von Mary Pickford, Charles Chaplin, D. W. Griffith und Douglas Fairbanks gegründet, wurde an Metro-Goldwyn-Mayer verkauft. Steven Bach musste sich eine neue Arbeit suchen und schrieb das Buch „The Final Cut“ über die Entstehung des Films und den Wahnsinn, der alles beendete.

Wie eine Nation auf Blut und Boden und Gewalt gebaut wurde

Der Film heißt „Heaven’s Gate“. Als Steven Bach zum ersten Mal Michael Cimino traf, im Jahr 1978 in Beverly Hills, sah er einen kleinen, energischen und enthusiastsichen Mann, der stundenlang vom Kino schwärmte. Er machte nicht anderes, und Bach wusste, dass er noch nie so einen verückten Filmemacher getroffen hatte – und er hatte Francis Coppola und Woody Allen getroffen. „The Deer Hunter“, Ciminos zweiter Film, galt 1978 bereits als Meisterwerk und Oscar-Favorit, und jeder wollte Ciminos neuen Film produzieren.

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Cimino erzählte Bach von seinem Traumprojekt, der Verfilmung von Ayn Rands Roman „The Fountainhead“, den King Vidor 1949 in Schwarzweiß mit Gary Cooper und Patricia Neal gedreht hatte. Es ist die Geschichte eines Architekten nach dem Vorbild von Frank Lloyd Wright, der an der Mittelmäßigkeit seiner Zeit verzweifelt und am Ende ein Gebäude in die Luft sprengt. Es ist die Geschichte eines Genies und seiner Megalomanie und Unerbittlichkeit.

Steven Bach konnte sich nicht vorstellen, dass dies der Knüller fürs Weihnachtgeschäft werden könnte. Cimino erzählte ihm aber von einem anderen Film, den er nach einem Buch über den „Johnson County War“ drehen wollte, das von einem Killerkommando handelt, das 1890 in Wyoming von einer Viehzüchtervereinigung angeheuert wurde, um 125 Immigranten umzubringen, die Rinder gestohlen oder den Diebstahl begünstigt hatten. Das wollte Cimino erzählen – aber vor allem wollte er davon erzählen, wie eine Nation auf Blut und Boden und Gewalt gebaut wurde. Wie die späteren Einwanderer von den früheren Einwanderern kujoniert wurden, die Armen von den Reichen, die Machtlosen von den Mächtigen. Und er wollte von Jim Averill und Nate Champion erzählen, dem Mann des Gesetzes und dem Gesetzlosen, die beide auch jeweils der andere sind, weil nicht klar ist, was das Gesetz eigentlich ist. Michael Cimino wollte also einen Spätwestern drehen und zugleich „The Birth Of A Nation“.

Ein Geschenk für 35 Millionen Dollar

Steven Bach war so verzaubert von der Vision und dem Schwärmen Ciminos, dass er die Entwicklung des Films, der damals „The Johnson Couty War“ heißen sollte, in Auftrag gab. Cimino schrieb das Drehbuch selbst. Im Frühjahr 1979 bekam „The Deer Hunter“ fünf Oscars, darunter für die beste Regie und den besten Film. Zu Weihnachten 1979 schenkte Cimino dem Studiomann Bach eine teure Ledermappe. „Dieses Geschenk kostet mich 35 Millionen Dollar“, scherzte Bach. Er wusste nicht, dass er damit recht hatte.

Bach musste die Geldgeber beruhigen, als Cimino für die Rolle des stoischen Jim Averill unbedingt Kris Kristofferson haben wollte. Andy Albeck, der Chef von United Artists, und die Vertriebsleute hielten das für keine gute Idee: Sicher, Kristofferson hatte in Sam Peckinpahs „Convoy“ die Hauptrolle gespielt und in Barbra Streisands Remake von „A Star Is Born“, aber er war kein STAR. Er war ein COUNTRY-SÄNGER. Warum nicht Robert Redford, Ryan O’Neal, Robert De Niro, der in „The Deer Hunter“ brilliert hatte? Cimino wollte Kristofferson oder den Film nicht drehen. Dann kämpfte er für Christopher Walken als Nate Champion, dessen Darstellung in „The Deer Hunter“ als oscarreif galt (und für die er dann den Oscar bekam). Sicher, Walken war golden, aber Nate Champion war eine HAUPTROLLE. Walken war KEIN STAR.

Steven Bach flog nach Paris, um eine junge Schauspielerin zu treffen, die bisher in einigen französischen Filmen aufgetreten war und die Cimino unbedingt verpflichten wollte. Als Isabelle Huppert den Raum betrat, bemerkte Bach, das sie klein war und gedrungen und BÄUERLICH aussah. Sie sprach schütteres Englisch mit bleischwerem Akzent. Jetzt machte Bach sich große Sorgen. Als er jedoch die Probeaufnahmen mit Huppert sah, verstand er Cimino plötzlich: Sie GLÄNZTE auf der Leinwand – und nicht, weil sie nackt war (sie war dann viel nackter in „Heaven’s Gate“).

Nach vier Drehtagen fünf Tage im Rückstand

Das Drehbuch war noch nicht fertig, als Cimino mit dem Stab um die Produzentin Joann Carelli nach Montana reiste, um am Fuß der Berge die Stadt Casper, Wyoming, um 1890 nachzubauen. Als die Zimmerleute die Main Street fertiggestellt hatten, ließ Cimino alles wieder abreißen, weil die Häuser ZU ENG standen. Endlich begann er mit den Dreharbeiten. Aber bald kursierte der Kalauer, Cimino sei bereits nach vier Drehtagen fünf Tage im Rückstand. Nach ein paar Monaten flog Bach mit einem Kollegen nach Montana und fuhr über holprige Straßen, um nach dem Rechten zu sehen. Sie wollten Cimino zur Ordnung rufen und damit drohen, ihm den Film zu entziehen. Aber Cimino war nicht zu finden. Als sie die Schönheit der künstlichen Stadt in der Natur sahen, waren sie so gerührt, dass sie wieder abreisten. Cimino war dann auch am Telefon nicht mehr erreichbar, Joann Carelli beschützte ihn. Die Kosten liefen und liefen.

Weihnachten 1979 verging. Steven Bach traf sich heimlich mit einem berühmten Regisseur, wahrscheinlich David Lean, was nach den Gewerkschaftsregeln nicht erlaubt war: Man darf einem Regisseur einen Film nicht wegnehmen. Lean konnte nicht, und er hätte nicht wollen, auch wenn er gekonnt hätte.

Jeff Bridges as John L. Bridges, Isabelle Huppert as Ella Watson and Kris Kristofferson as James Averill in the 1980 Western Heaven's Gate, a director's cut of which was released in November.
Jeff Bridges (John L. Bridges), Isabelle Huppert (Ella Watson) und Kris Kristofferson (James Averill)

Cimino beendete die Dreharbeiten nach einem Jahr. Dann begann der Schnitt. Er beschäftigte vier Cutter, aber eigentlich schnitt Cimino seinen Film selbst. Er hatte 200 Stunden Filmmaterial. Er schlief nicht mehr. Im Frühjahr 1980 zwang United Artists ihn unter Strafandrohung dazu, in New York eine Schnittfassung zu zeigen. Cimino brachte seinen Film mit, und er war fünfeinhalb Stunden lang. Er musste weiter schneiden. Im Herbst brachte Cimino die Schnittfassung von dreieinhalb Stunden. Bei der Vorführung ging der Präsident des Parkplatz-Konzerns, dem United Artists mittlerweile gehörte, fünf Mal zum Pinkeln und kam schließlich nicht wieder in den Vorführraum. Nach der Vorführung schwiegen alle. Steven Bach dachte und sagte: Gut, der Film ist zu lang, und langweilig ist er auch. Aber er ist ein Meisterwerk. Was sollte er sagen.

Zu lang, zu langweilig – und ein Meisterwerk

Der Film kam vor Weihnachten 1980 in die amerikanischen Kinos und wurde von der Kritik geschlachtet. Es war vorbei.

Der Film ist zu lang, er ist langweilig, und er ist ein Meisterwerk. Schon der Prolog an der Universität von Cambridge, Massachusetts, bei der Abschlussfeier des Jahrgangs 1870 sieht aus wie GEMALT. Kris Kristofferson als Jim Averill und John Hurt als Billy Irvine umwerben die jungen Frauen, man tanzt auf dem Campus, man trinkt, Irvine hält eine witzige, scharfzüngige, defätistsiche Rede. Joseph Cotten als Rektor hat seinen letzten Auftritt.

Dann ist es 20 Jahre später, und Jim Averill reist mit dem Zug nach Casper, Wyoming, weil er eine Frau nach St. Louis bringen soll, die zum Tode verurteilt wurde. Von der Frau hört man nichts mehr. Averill hat sich betrunken, am Bahnhof trifft er einen alten Bekannten, die Stadt ist voll Immigranten, die ihre Habseligkeiten hinter sich her ziehen. Averill hört von einer Todesliste der Viehbarone, die eine Truppe aufstellen wollen, um die Diebe umzubringen. Die Geld-Aristokraten tagen in einem Club und beschließen die Selbstjustiz, und Billy Irvine ist besoffen und widerspricht als einziger. Am Billardtisch treffen sich Averill und Irvine, es ist ein altes Band zwischen ihnen, aber sie haben sich nichts mehr zu sagen. „Denkst du manchmal an die alte Zeit?“, fragt Irvine zum Abschied. „Ich denke jeden Tag daran“, sagt Averill.

In einer Kalesche fährt Averill nach Johnson County zum Haus von Ella Watson. Sie leitet ein Bordell; vielleicht liebt sie Averill, wahrscheinlich liebt sie Nate Champion, den Auftragskiller der Viehbarone, den Christopher Walken mit feucht schimmernden Augen spielt. Nate Champion ist die natürliche Wahl, er ist nicht gescheiter als Ella, während Jim Averill ein gebildeter Mann mit gutem Namen ist. Champion ist Amerika, Averill ist Europa.

Ella hat einen Kuchen für Averill gebacken. Sie gehen ins Bett, dann laufen sie nach draußen, Averill schenkt Ella die einspännige Kutsche, sie fahren übers Land. Ella badet im Fluss. Er will, dass sie mit ihm kommt, aber er sagt ihr nicht, dass er sie liebt. „Du hast gesagt, dass du mich magst, weil ich nicht nachdenke.“ – „Wann soll ich das gesagt haben?“ – „Ich weiß die Tageszeit nicht mehr genau.“ Dann sagt Averill: „Vielleicht werde ich alt.“ Sie fragt: „Denkst du denn, alles hört auf, weil du alt wirst?“ – „Vielleicht ist es so.“

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Während Averill betrunken in Ellas Schlafzimmer liegt, setzt Champion vor dem Spiegel dessen Hut auf. „Verdammt, du hast Stil, Jim, das muss ich dir lassen.“ Er macht Ella einen Heiratsantrag. Aber Ella Watson steht auf der Todesliste, weil sie Rindfleisch als Bezahlung angenommen hat. Averill verteidigt die Einwanderer gegen seine eigene Klasse, gegen den Ukas des Gouverneurs, sogar des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er verliest die Liste vor den versammelten Landnehmern, ein buntes Völkchen, kaum jemand spricht Englisch. Die Todeschwadron kommt mit dem Zug, dann reitet sie nach Johnson County. Vier Söldner vergewaltigen Ella. Averill erschießt die Bande. Doch Ella will nicht mit ihm gehen, und Averill packt seine Sachen. Sie hat ein Zuhause, er hat nichts. „Die Welt ist voller DINGE“, sagt er zornig. „Plötzlich entdeckst du die Pietät. Die Pietät einer Hure.“ – „Was bedeutet ,Pietät‘?“

Nate Champion stellt sich gegen die Viehzüchter. Er ist ein Romantiker, der den älteren Intellektuellen Averill bewundert und als Nebenbuhler respektiert. Einmal sieht man ihn, wie er am Tisch in unglenker Handschrift in sein Notizbuch schreibt: „Nathaniel Hawthorne, 1804-64“. Die Häscher umstellen die Hütte, die Champion liebevoll mit Tapeten drapiert hat. Sie schießen aus allen Rohren, sie stecken das Haus in Brand. In den Flammen schreibt Champion einen Zettel für Ella und Averill und steckt ihn in seine Westentasche, bevor er in den Tod geht. „Er hat dich geliebt“, sagt Ella zu Averill, aber der rasiert sich ungerührt weiter. „Habe ich es ihm gesagt? Ich habe es ihm gesagt.“ Auf der Straße vor dem Hotel reißt Averill sein Pferd herum und herum – und dann reitet er nach Johnson County, zur Schlacht der Einwanderer gegen die Söldner.

Fünf Jahre Pause für Cimino

Michael Cimino erzählt all das zu lang, und man versteht weder die Topografie richtig noch gar die juristischen Umstände. Man muss das nicht verstehen, denn „Heaven’s Gate“ ist ein Western, war der letzte für lange Zeit und ist eigentlich der letzte überhaupt. Das oktroyierte Ende – eine Art schlechter Gatsby auf einem Dampfschiff 1903 -, das Cimino drehen musste, ist ein Witz. Das eigentliche Ende ist der Tragödienschluss. Die bukolischen Idyllen, Christopher Walken, der am Anfang durchs aufgehängte Bettlaken einen Viehdieb erschießt, die Weite der Landschaft vor den Bergen, die Musik, das Rollschuhlaufen der Einwanderer in der Tanzhalle, der Tanz von Ella und Jim, der Hahnenkampf, die Musik von David Mansfield – das alles ist unvergesslich.

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Nach „Heaven’s Gate“ konnte Michael Cimino fünf Jahre keinen Film mehr drehen, dann kam „Im Jahr des Drachen“ mit Mickey Rourke. Mit „Der Sizilianer“ inszenierte Cimino 1988 noch ein marmornes Spätwerk. Er schreibt heute Romane, die in Frankreich gut laufen sollen. Steven Bach schrieb ein Buch über Leni Riefenstahl. United Artists hatte weiterhin die James-Bond-Filme. Es war nicht „Heaven’s Gate“, an dem das Studio beankrott ging. Der Film war bloß das Symptom: Die Regisseure hatten die Macht übernommen, sie tanzten den Geldgebern auf der Name herum – sie mussten wieder an die Kandare genommen werden. Mit der internationalen Verwertung spielte „Heaven’s Gate“ die Kosten wieder ein.

Aber die Geschichte ist einfach zu gut.

Criterion Collection
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