„A House of Dynamite“ – Kathryn Bigelows nukleare Warnung an die Menschheit
Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“: ein faktenbasiertes Szenario, das menschliches und politisches Versagen offenlegt.
Die Rezension enthält fundamentale Spoiler.
Geschichten über bevorstehende Nuklearkonflikte erleben aus nachvollziehbaren Gründen eine Renaissance. Erst im vergangenen Jahr erschien Annie Jacobsens Dokufiction-Bestseller „Nuclear War: A Scenario“. Mit „A House of Dynamite“ hat Kathryn Bigelow nun einen Thriller inszeniert, der sich derselben Ausgangslange bedient: Eine Atomrakete befindet sich im Anflug auf die USA, und die Amerikaner wissen nicht, wer sie abgeschossen hat.
Jacobsens (lesen Sie unser ausführliches Interview mit ihr hier) tief fundierter Bericht über den Angriff eines bislang für unmöglich gehaltenen nordkoreanischen Atom-U-Boots, das unbemerkt bis an die US-Küste gelangt und zwei SLBMs auf die Vereinigten Staaten abfeuert, untersucht das Vorher und Nachher: das Versagen des amerikanischen Generalstabs bei der Planung einer angemessenen Reaktion, die Dysfunktion interner wie externer Kommunikation und die Unfähigkeit, die Bedrohung überhaupt einzuordnen – ist das wirklich Nordkorea? Unabhängig davon, dass das Land internationale Atomkonventionen unterläuft und Langstreckenraketentests unangekündigt durchführt?
Die zentrale Frage
Die USA reagieren seit Jahren empfindlich auf Kim Jong Un. In traumatischer Erinnerung bleibt der nukleare Fehlalarm von 2018, als Frühwarnsysteme auf Hawaii meldeten, der Diktator habe eine Bombe gestartet. Rund eine halbe Stunde lang glaubten viele Hawaiianer, sie müssten sterben. US-Präsident Trump, reingefallen auf das Versagen eigener Warnsysteme, drohte Kim Jong Un mit „Fire and Fury“; ein Sprecher des Diktators erklärte Trump daraufhin für geisteskrank.
Die Frage in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ lautet: Warum feuert Nordkorea nur eine einzige ICBM ab, wenn es einen kriegerischen Akt begehen will – etwa, um den Abschuss als Versehen erscheinen zu lassen? In Bigelows Film erinnert ein Colonel an den nuklearen Fehlalarm von 1983, als der russische Oberst Stanilslaw Petrow – später als „Mann, der die Welt rettete“ von der UN geehrt – die Falschmeldung von fünf angeblich gestarteten US-ICBMs korrekt als Fehlalarm einstufte. Hervorgerufen durch eine Sonnenspiegelung auf sowjetischen Satelliten. Petrow verhinderte damit den totalen Atomkrieg.
Der apokalyptische Horizont
„Nuclear War“-Autorin Annie Jacobsen schildert die Folgen der beiden Detonationen so drastisch, dass es kaum verwundert, warum Atombombenliteratur selten Bestseller wird: Der Gedanke allein ist kaum erträglich. Ein globaler Dritter Weltkrieg, der alles menschliche Leben auslöscht, sofern man nicht rechtzeitig in Neuseeland oder Südargentinien Zuflucht findet. Denn nach Identifikation der nordkoreanischen Atombombe starten die USA hunderte Langstreckenraketen in Richtung Nordkorea – über das russische Polarmeer, was Moskau als Angriff interpretiert.
Bigelows filmische Entscheidung
In ihrem Netflix-Film verzichtet Bigelow darauf, die amerikanische Antwort auf den Einschlag einer Atomrakete in Chicago – und damit den wahrscheinlichen Gegenschlag – zu zeigen. Ebenso bleibt der Einschlag der nordkoreanischen Rakete unsichtbar. Abblende.
Das kann man so machen.
Doch es ist legitim, die Roland-Emmerich-Frage zu stellen: Warum zeigt sie die Folgen des Einschlags nicht?
Fokus auf das Systemversagen
Bigelow richtet ihr Augenmerk auf den Zusammenbruch der militärischen und politischen Ordnung, bei STRATCOM, NNMCC, im Weißen Haus und im Pentagon. Sie zeigt, wie das Menschliche in den Machtmenschen – Fluchen, Stottern, Zögern – dazu führt, keine eindeutige Entscheidung treffen zu wollen, von der womöglich die Existenz der Menschheit abhängt. Sie verdeutlicht, dass die Menschen den eigenen Kommandosystemen nicht gewachsen sind (was eine Künstliche Intelligenz in DEFCON-1-Situationen täte, bleibt offen). „Jamming the President“ bedeutet hier: Generäle nutzen die Atomkriegsgefahr, um auf ihn einzureden. Die Tauben von links, die Falken von rechts – „Warten Sie ab, Mr. President.“ – „Nein, befehlen Sie den Gegenschlag.“
Der Präsident als Spiegel
Das Casting von Idris Elba als POTUS ist zugleich klug und unglücklich. Er spielt den Präsidenten als Narzissten, der – wie Trump, Obama oder George W. Bush – sich nie für die Atomcodes im „Black Book“ interessierte und nun binnen Minuten über Gegenziele entscheiden muss. Bigelow zeigt ihn erst spät; sein Zoom-Bildschirm bleibt während der Stabskonferenzen schwarz, nur die Stimme ist zu hören. So darf man sich lange ausmalen, welcher Präsidentendarsteller wohl im Oval Office sitzt. Wenn Elba im letzten Filmviertel schließlich erscheint, drängt seine Star-Power das Geschehen etwas an den Rand. Erinnern Sie sich an den „24“-Präsidenten Charles Logan? Ein unscheinbarerer Schauspieler wie Gregory Itzin wäre hier die feinere Wahl gewesen.
Politische Dimension und Deutungslücken
Experten sind sich einig, dass jeder nukleare Gegenschlag inklusive nuklearem Winter zur Vernichtung von mindestens sechs der acht Milliarden Menschen führen würde. Warum also hat Bigelow dann Kim Jong Un nicht eindeutig als Verursacher des Weltkriegs benannt? Fürchtet man bei Netflix die Wirtschaftsmacht der berühmten nordkoreanischen Filmindustrie? Oder dass sonst andere Hollywood-Produktionen von den Leinwänden der unzähligen Cineplexen von Pjöngjang verschwinden? Die Motive des irren Rocket Man werden auch in „A House of Dynamite“ benannt: Anerkennung als Militärmacht, Verhandlungsmasse. Und wenn nichts mehr hilft, flüchtet Kim Jong Un in seinen gigantischen Atombunker, der so groß sein soll wie eine Stadt, dazu ein Wasserfall. Seinen Platz in den Geschichtsbüchern als wahrer „Zerstörer der Welten“ hätte er sicher. Sofern Bücher noch geschrieben und gelesen werden können.
Die Metapher vom Pulverfass
Jede atomare Großmacht ist ein „House of Dynamite“: Entzündet sich ein Sprengkörper, folgen die anderen und das ganze Haus steht in Flammen. Der Astrophysiker Carl Sagan formulierte es in der sehenswerten ABC-„Viewpoint“-Sendung 1983 ähnlich treffend: „Stellen Sie sich einen Raum vor, voll mit Benzin – und darin zwei erbitterte Feinde. Der eine hat 9 000 Streichhölzer, der andere 7 000. Beide sind besorgt, wer stärker ist …“ Whoosh. Das so genannte Gleichgewicht des Schreckens ist wacklig.
„Viewpoint“ lief im US-Fernsehen nach der Erstausstrahlung von „The Day After“. Ob dieser Film Präsident Reagan dazu bewegt haben könnte, 1987 mit Gorbatschow das INF-Abkommen zur Vernichtung aller atomaren Mittelstreckenraketen zu unterzeichnen, bleibt filmhistorisch umstritten. Doch Reagan notierte in sein Tagebuch, der „The Day After“ habe ihn sehr deprimiert: „Er hat mir deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass es niemals zu einem Atomkrieg kommen darf.“
Im besten Fall sieht Donald Trump „A House of Dynamite“ und zieht die richtige Lehre. Da Bigelow sich jedoch vor allem auf das Versagen amerikanischer Bürokratie konzentriert, dürfte sich Trumps Gegenspieler im Osten über das Chaos freuen – „In meinem Land wäre das nie möglich!“. Auch wenn das garantiert nicht stimmt.