INVESTMENT-PARKS MIT GEDENKPLAKETTEN

W IE JEDE GRÖSSERE STADT HAT AUCH LONDON SEINE lebendigen musikalischen Denkmäler, die in ihrem Umfeld was Unverzichtbares bedeuten, dem Rest der Welt aber unergründlich bleiben. Alan Tyler zum Beispiel sieht man diesen Status sofort daran an, wie er breitbeinig auf der Bühne des Lexington steht und sich dabei so wenig bewegt wie möglich; einschließlich der linken Schlaghand, die sparsam auf und ab über seine große akustische Gitarre streift, während er seine bedächtige Frontier Ballad über den Vormarsch der Underground-Linien in die Vorstädte vorträgt: „I’m trying to tell the story of my Middle Saxon town.“ Gemeint ist Middlesex, die von Potters Bar im Norden bis nach Twickenham im Südwesten reichende, 1965 offi ziell in Londons Stadtgebiet aufgegangene Grafschaft. Aber was dabei an lokalem Sentiment mitschwingt, lässt sich aus der Ferne per Wikipedia nicht nachvollziehen.

Tyler ist Sänger der Rockingbirds, der sporadisch bestehenden, besten Country-Rock-Band der Stadt, und Talisman des Folk-Clubs „Come Down and meet the Folks“, der seit Menschengedenken durch die Pubs des von der Musiktradition irischer Einwanderer geprägten Londoner Nordens vagabundiert. Als solcher bewahrt er das Erbe einer versunkenen, kürzlich erst in „Singing From The Floor – A History of British Folk Clubs“(von J. P. Bean

bei Faber & Faber, inkl. Interviews mit Größen wie Martin Carthy, Peggy Seeger oder Wizz Jones) dokumentierten Szene. Alte Geschichten ähnlicher Art brachte neulich auch die Nord-Londoner Lokalzeitung „Camden New Journal“ in einem Porträt der 66-jährigen Christine Cas, seit 40 Jahren wohnhaft im seither zum Oligarchen-Ghetto verkommenen Viertel Belsize Park. Sie beschreibt sich darin als „original rock chick“ und erzählt nostalgisch von ihren Erlebnissen an der Seite von Eric Clapton, John Mayall und Jimi Hendrix, inklusive einer Anekdote, wie sie eine Jam-Session der beiden Letzteren im Klooks Kleek, einem kleinen Club in West Hampstead einfädelte. Und ich hatte gedacht, das wäre Linda Keith gewesen. Aber egal, der Punkt ist: Klooks Kleek, situiert in einem Pub namens The Railway Hotel, war eine der Geburtsstätten des britischen Rock, wie auch 50 Jahre danach noch die Live-Mitschnitte brodelnder Gigs von Cream, Zoot Money’s Big Roll Band oder der Graham Bond Organization belegen. Dieser Tage hat sich „Save the Railway“, eine Bürgerinitiative gegen den Umbau des Lokals zu Büros und Luxus-Apartments, gebildet. Christine Cas wiederum fordert eine blaue Gedenkplakette, wie sie in London historische Schauplätze -darunter auch Hendrix‘ Wohnung in Mayfair – zieren. Wenn die laufende Transformation der britischen Metropole in einen internationalen Immobilien-Investmentpark einmal fertiggestellt ist, wird von der einstigen Szene sonst auch nichts mehr übrig sein.

Sogar Alan Tyler wurde – früher undenkbar für einen Rockingbird -schon aus dem ehemaligen Middlesex über die Themse in den gerade noch leistbaren Südosten verdrängt. Vielleicht sollte man ihm ja auch so eine Plakette umhängen. Miete ließe sich davon allerdings keine zahlen.

Unser Autor ist Musiker und Korrespondent in London. Er löst David Swindells ab, bei dem wir uns noch mal herzlich für ein Jahr Briefeschreiben bedanken!

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