Istanbul-Report: In der Türkei klingen Proteste wie ein Rocksong

In den Straßen gesungen und von Millionen gestreamt, ist der kryptische neue Track „Kufi“ der türkischen Rockband Duman zur Hymne einer Bewegung geworden, ohne eine solche zu benennen.

ROLLING STONE Badge
Empfehlungen der Redaktion

Nachdem die Proteste auf dem historischen Platz Saraçhane in Istanbul aufgelöst worden waren, stieg Professorin Aslı Tunç in die U-Bahn. In der Hoffnung, dem Straßenlärm entkommen zu sein. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann still hinter einem Imbisswagen in der Nähe der Treppe. Dann ertönten aus einem kleinen Lautsprecher neben ihm die folgenden Liedzeilen.

Kufi – Der Soundtrack einer neuen Protestgeneration

Padişahı yine deviremedik, abi/Kuzular çok cahil/Kurtlar şeytani.“ („Wir konnten den Sultan immer noch nicht stürzen, Mann/Die Lämmer sind zu unwissend/Die Wölfe sind teuflisch.“)

„Ich stand auf dem Bahnsteig“, erinnert sie sich. „Plötzlich ertönte ‚Kufi‘ aus einem Lautsprecher. Der Text erfüllte die Station. Ich bekam Gänsehaut. Ich dachte: ‚Das ist das Lied dieser Protestbewegung.’“

Wie ein Lied zum Symbol wurde

Was sie Ende März hörte, war kein Sprechchor oder Manifest. Es war ein Lied voller Wiederholungen und Absurditäten, das aus dem Lautsprecher eines Straßenverkäufers unter den Straßen Istanbuls dröhnte. Aber genau so klingt moderner Protest in der Türkei. Dort, wo Humor und Kunst zu den wenigen Mitteln gehören, um mit dem gesellschaftspolitischen Umfeld fertig zu werden.

Die politische Lage: Verhaftung von İmamoğlu als Auslöser

Nachdem der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu am 19. März festgenommen und vier Tage später offiziell verhaftet worden war, erschütterte eine Welle von Protesten das Land. İmamoğlu war zuvor wegen Beleidigung von Amtsträgern in einer Rede aus dem Jahr 2019 verurteilt worden. Und die Staatsanwaltschaft hat ihn seitdem wegen Korruption und organisierter Kriminalität im Zusammenhang mit kommunalen Kontakten angeklagt.

Chronologie eines Wendepunkts

Diese Vorwürfe werden noch untersucht und sind für die Öffentlichkeit nach wie vor undurchsichtig. Der Zeitpunkt seiner Verhaftung – zeitgleich mit seiner für denselben Tag erwarteten Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur – hat viele dazu veranlasst, dies als politisch motivierten Schlag gegen die führende demokratische Oppositionspartei der Türkei, die CHP, zu sehen.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Musik als Form des Widerstands

Als Reaktion darauf nahm die Öffentlichkeit die Angelegenheit selbst in die Hand und verschaffte sich auf den Straßen und im Internet Gehör. Aus Lautsprechern dröhnten Texte wie „Elleri havada, kufi kafada“ („Hände hoch, Kufi im Kopf“).

„Kufi“ und die Tradition des musikalischen Protests

„Kufi“, der erste Song, den die türkische Rockband Duman seit über einem Jahrzehnt veröffentlicht hat, wurde zum unerwarteten Soundtrack einer politisch aufgeladenen Bewegung. Er ist mehr als nur ein Rocksong. Er ist eine Hymne, die bei Protesten gesungen, aus den Lautsprechern der U-Bahn dröhnt. Und von Millionen online geteilt wird.

TikTok, Reels und Streaming – Die virale Kraft von Kufi

Der Song wurde mehr als 62 Millionen Mal auf Spotify gestreamt. Seine beiden Lyric-Videos auf YouTube wurden mehr als 50 Millionen Mal angesehen. Und er wurde in insgesamt mehr als 43.000 TikToks und Instagram-Reels verwendet.

Pikachu – die Pokemonfigur wurde zur Symbolfigur des türkischen Widerstands

Proteste mit Humor: Pikachu wird zum stillen Symbol

„Kufi“ war nicht die einzige unerwartete Stimme, die während der Proteste laut wurde. Eine der bekanntesten Figuren war Pikachu. Videos des 21-jährigen Sportbegeisterten Hasan Taşkan, der als die ikonische Pokémon-Figur verkleidet war, tauchten in den Protestberichten in den sozialen Medien auf. Er trug weder ein Schild. Noch skandierte oder sang er. Stattdessen bewegte er sich in seinem leuchtend gelben Anzug durch die Menge. Manchmal rennend, manchmal springend, meist aber einfach nur leise zwischen den Demonstranten hindurch.

Zwischen Ironie und Ernst: Hasan Taşkan in Gelb

„Ich habe das nicht aus einem bestimmten Grund oder gar aus Protest gemacht“, sagt Taşkan. „Die Atmosphäre war sehr angespannt. Ich habe mich für die Pikachu-Figur entschieden, um die Stimmung aufzulockern. Und etwas Farbe ins Spiel zu bringen. Das Kostüm habe ich früher getragen, um kleine Kinder zu unterhalten.“

Er hatte nicht erwartet, zu einem Symbol zu werden. Aber als Videos von ihm im Internet kursierten, reagierten die Menschen. „Tausende sagten: ‚Du hast uns zum Lächeln gebracht.‘ Das hat mich sehr glücklich gemacht“, sagt er. Bald tauchten Menschen in ähnlichen Pikachu-Kostümen auf. Wie das auf dem Foto oben. Und machten seine Geste zu einem unerwarteten Trend bei den Protesten.

Andere, so bemerkt er, waren weniger großzügig. „Es gab Leute, die mich missverstanden haben. Oder einfach nur kritisieren wollten.“ Taşkan betont, dass er niemals politische Absichten hatte „Ich liebe mein Land, mein Volk und meine Polizei.“

Stimmen des Protests: B.G., Aslı Tunç und die Bedeutung von Symbolik

Während Taşkans Kostüm mit seinem surrealen Charme auffiel, engagierten sich andere auf persönlichere und nachdenklichere Weise für die Proteste. B.G., eine türkische Studentin an der Columbia University in New York, war zu Besuch in Istanbul und der Hauptstadt Ankara, als die Proteste begannen. Sie wurde Zeugin der Proteste in beiden Städten. „Die Menschen marschierten in riesigen Menschenmengen. Und skandierten Parolen“, berichtet sie. „Die Spannung in der Luft war etwas, das ich noch nie zuvor erlebt hatte.“ (B.G. bat aus Sorge um mögliche Konsequenzen einer öffentlichen Äußerung darum, anonym zu bleiben.

Musik als sichere Ausdrucksform in unsicheren Zeiten

Mit der Ausbreitung der Proteste verbreitete sich auch das Lied. „‚Kufi‘ war eigentlich schon am 13. Dezember 2024 erschienen. Aber erst als die Demonstrationen begannen, wurde es richtig populär.“

Duman, seit Ende der 1990er Jahre eine feste Größe in der alternativen Rockszene der Türkei, wurde mit Grunge-beeinflussten Alben berühmt, die poetische Melancholie mit protestierenden Untertönen verbinden. Die Band hatte auch in früheren politischen Krisenzeiten Aufmerksamkeit erregt. Während der Gezi-Park-Proteste 2013 – Demonstrationen für Bürgerrechte und öffentlichen Raum, die durch eine Umwelt-Sit-in-Aktion in Istanbul ausgelöst wurden – wurde ihr Song „Eyvallah“ zu einer der Hymnen dieser Zeit. Duman lehnte zwar ein Interview für diesen Artikel ab. Aber die Band hat erklärt, dass sie glaubt, dass ihre Musik alles, was sie sagen will, klar und vollständig zum Ausdruck bringt.

Für B.G. ist es wichtig, dass Künstler ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen. Auch wenn dies nur indirekt geschieht. „Es ist schön zu sehen, dass ein Musiker keine Angst hat, mit Protesten in Verbindung gebracht zu werden. Einige haben Angst. Und andere, die ohne Angst etwas posten, verlieren am Ende ihren Job“, sagt sie. „Diese Art der Beteiligung, auch wenn sie nur durch Musik geschieht, bedeutet etwas.“

„Kufi“ als kulturelles Gedächtnis

Obwohl „Kufi“ keine offensichtliche politische Aussage macht, hat seine Botschaft Resonanz gefunden. „Es ist wie ein Code. Eine Form von Symbolik“, fügt sie hinzu. „Auch aus diesem Grund ist es populär geworden. Und obwohl einige Teile des Textes kritisiert wurden, ist diese Symbolik geblieben.“ (Einige Hörer fanden den Text „zu surreal“ und meinten, sein kryptischer Ton lasse zu viel Raum für Interpretationen.)

Sie erinnert sich an ein TikTok-Video, in dem der Leadsänger von Duman während eines Konzerts scherzte. „Die Leute fragen mich ständig, wann sie dich ins Gefängnis werfen werden.“ Und er lachte. Es ist seltsam, wir wissen nicht mehr, ob wir lachen oder weinen sollen.

Kufi als Klang gewordener Widerstand

Für B.G. ist Musik zu einem Ersatz für andere Formen des Protests geworden. „Sich um einen Song zu versammeln, gibt den Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit, es stärkt den Zusammenhalt“, sagt sie. „Die Tatsache, dass man zumindest in irgendeiner Form noch Kritik üben kann, erinnert uns daran, dass es noch Raum für Meinungsäußerung gibt. Auch wenn es ein unsicherer Boden ist.“

Genau diese Spannung zwischen Sichtbarkeit und Risiko hat Aslı Tunç in ihrer Karriere analysiert. Die Professorin an der Istanbul Bilgi University ist spezialisiert auf Medien, Protestkultur und Meinungsfreiheit. Sie sieht den aktuellen Moment nicht nur als Protest. Sondern als kulturellen Wendepunkt, der wahrscheinlich bleibende Spuren hinterlassen wird. „Jeder Moment des Widerstands findet seinen Soundtrack“, sagt sie. Und verweist auf Beispiele wie Italiens ‚Bella Ciao‘. Ein Volkslied, das während des Zweiten Weltkriegs zur antifaschistischen Hymne wurde. ‚‘Kufi‘ wird zu einem dieser Lieder“, fügt sie hinzu. „Man kann es jetzt nicht mehr auslöschen. Jedes Mal, wenn wir es hören, werden wir uns an diese Tage erinnern.“

Sie sieht das Wiederauftauchen von Duman in den letzten Monaten nach mehr als einem Jahrzehnt des Schweigens als bewusstes Zeichen. „Sie hatten schon immer eine stille Protestenergie“, sagt Tunç. „Jetzt sind sie zurück mit Texten, die direkt, absurd, ironisch und in diesem Moment mutig sind.“

„Er fängt diese mechanische, urbane Schleife ein, die Gleichförmigkeit des politischen Lebens hier“

Was als kryptischer Songtext begann – „Hands in the air, kufi on the mind“ – wurde zu etwas Größerem. Kein Slogan. Keine Schlagzeile. Nur ein paar Worte, die ihren Weg in Playlists, Protestgesänge, Schulhöfe und soziale Medien fanden. Sie wurden nicht gesungen, weil es sicher war. Sondern weil sie in Worte fassten, was in Reden nicht gesagt werden konnte. Und für viele war das alles.

Für Tunç sind es der Rhythmus und die Wiederholung, die den Song so einprägsam machen. „Er fängt diese mechanische, urbane Schleife ein, die Gleichförmigkeit des politischen Lebens hier“, sagt sie. „Und verwandelt sie dann in Widerstand.“

OZAN KOSE AFP via Getty Images