John Irving über den Abschied von liberalen Illusionen

Von Martin Scholtz & Barbara Mauersberg D er Mann mit dem vollen weißen Haar grinst schadenfroh, als er durch das Fenster seines VW-Passat guckt. Als wolle er sagen: „Die Pleite hab ich geahnt.“ Eigentlich hatte er die Gäste aus Deutschland schon vor zehn Minuten, um 8 Uhr morgens, oben am Berg vor seinem Haus erwartet. Dummerweise hatte es über Nacht so heftig geschneit, dass wir mit unserem „City Car“ nur bis zur Zubringerstraße kamen – auf dem ungeräumten Weg nach oben ging nichts mehr. „Netter Wagen, leider Hinterradantrieb, damit kommt man im Winter in Vermont nicht weit“, stichelt Irving, um dann die Four-Wheel-Vorzüge seines german car zu preisen.

Aber genug geredet: Er fordert uns auf, ihm zu folgen („auf der gestreuten Straße habt ihr kein Problem“) – denn um 830 Uhr wird er als Gast-Lehrer in einer Schulklasse in seinem Wohnort Dorset erwartet Aber die „Maple Leaf School“ in Vermont ist nicht irgendeine Schule. Der Bestseller-Autor hat sie vor Jahren mit seiner Frau Janet und anderen besorgten Eltern gegründet, denen das Niveau der Public Schools nicht seheuer war. Eine Privatschule also mit angeschlossenem Kindergarten, untergebracht in einem unauffälligen Holzgebäude, wie sie in Neu-England typisch sind.

Mit dem Projekt hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Doch die örtliche Kritik, der millionenschwere Autor habe für sein Kind mal eben eine Schule gebaut, weil ihm die öffentliche nicht gut genug sei, will er so nicht stehen lassen. „Wir ermöglichen vielen Kindern aus der Region über Stipendien den Besuch der Schule. Das wird natürlich gern übersehen. Es ist keine Elite-Schule, es ist eine gute Schule“, betont Irving, als er an einigen Eltern vorbeischlendert.

Die Lehrer grüßen ihn gar wie den Hausmeisten der die defekte Dachrinne reparieren soll: „Hi, John, good to see ya.“ „Das Gebäude war früher eine Garage für Schneemobile. Wir haben’s nicht groß umgebaut, das meiste Geld geht in die Besoldung der Lehrer und in die Ausstattung – Computer und so.“

In der Klasse warten 16 Schüler, die Finger am Laptop, die Augen auf den Lehrer gerichtet. Es ist das dritte Mal, dass Irving ihnen etwas über Literatur erzählen will – „creative writing“ für Anfänger. An diesem Morgen will er über seine Erzählung von der „Pension Grillparzer“ reden – der ersten Geschichte, die der junge Garp in Irvings gleichnamigen Roman schreibt. Es geht um eine Familie, die den Auftrag hat, österreichische Hotels zu überprüfen und in Qualitäts-Klassen einzuordnen. Erste Station ist die „Pension Grillparzer“, die in eine höhere Kategorie aufsteigen möchte. Ob ihr das gelingt – angesichts all der bizarren Gestalten, die dort herumgeistern? Wie etwa dem Mann, der auf Händen geht?

Irving fangt erst mal mit dem Elementaren an. Austria for beginners. Eine Pension, das sei kein Hotel und auch kein Motel, eher was wie ein „Bed & Breakfast“. Natürlich könne niemand ständig auf seinen Händen laufen; die Kunst der Literatur bestünde eben darin, es so zu beschreiben, dass es trotzdem glaubhaft sei. Die Schüler nicken und hacken in ihre Computer. Ein Mädchen fragt, wie er das schaffe, so viele Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Irving mimt den Zampano. Das sei ein bisschen wie Jonglieren: Mit zwei Bällen sei es ziemlich langweilig, man müsse eben üben, nach und nach einen neuen ins Spiel bringen, ohne dass einer der anderen zu Boden falle.

Am Ende hat der Autor auch noch eine Frage: Der Buchtitel habe ihm nie gefallen; „Pension Grillparzer“ sei arg banal. Ob ihnen was Besseres einfiele. Doch im Club des lebenden Dichters dessen Werke neu zu benenennen – das traut sich dann doch keiner.

Das Schweigen wird abrupt von einer Horde Vorschul-Kids unterbrochen. Lautstark machen sie klar, dass die literarische Matinee beendet ist; sie brauchen den Raum. „Oh my God, here comes the Kindergarten“, grinst Irving, tätschelt liebevoll ein paar Kinderköpfe und sucht das Weite.

Als wir später zum Interview wieder zu seinem Haus fahren, lässt er uns in weiser Voraussicht von einem Freund ebenfalls einem Vierrad-Fan – abholen. Das Haus liegt tief in verschneiten Hügeln und hallt wieder vom Gebell eines Hundes.,,Dickens“ hat Irving den Labrador genannt – und so seinen Lieblingsschriftsteller geehrt. Sehr freundlich ist dieser Dickens und ein bisschen dick – doch das ist schließlich nichts gegen die Macken, die solche Hunde gewöhnlich in Irvings Romanen haben. Berüchtigt der Labrador „Kummer“ in „Das Hotel New Hampshire“: Er quält die ganze Familie mit seiner Flatulenz. Schwer zu überbieten, möchte man denken. Doch in Irvings jüngstem Roman treibt die Labradorhündin Medea ihr Unwesen: Sie leidet an Pantophagie, an Allesfresserei, und verschlingt während der Spaziergänge mit ihrem Herrchen massenweise Kot.

„Das Bizarre“ hat Irving schon immer interessiert – und es hat sich als Erfolgsrezept bewährt: Seit „Garp und wie er die Welt sah“ ihn 1978 berühmt machte, widmet sich Irving ganz dem Schreiben. Mit neun Romanen stand er auf den Bestsellerlisten ganz oben, sein neues Werk hat gleich nach Erscheinen wieder Platz Eins belegt „Die vierte Hand“ bietet die bewährte Mischung aus Satire und tieferer Bedeutung, die Irving zum verlässlichen Liebling der literarischen Gemeinde macht. Irving erzählt die skurrile Geschichte des Nachrichtenjournalisten und Frauenschwarms Patrick Wallingford, dem bei einer Live-Sendung von einem Löwen die Unke Hand abgebissen wird. Die mysteriöse Doris Qausen vermacht ihm die Hand ihres kürzlich verstorbenen Gatten. Im Gegenzug fordert die kinderlose Witwe ein „Besuchsrecht“ an der Hand – und ein Kind. Es ist der Beginn einer bizarren Beziehung.

Eine Verfilmung der „Vierten Hand“ ist bereits in Planung. Am liebsten würde Irving wieder mit Regisseur Lasse Hallström zusammenarbeiten, mit dem er bei der Adaption von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ ein Team bildete. Unter den Trophäen und Fotos, die die Wände seines Arbeitszimmers füllen, nimmt der Oscar für das Drehbuch einen Ehrenplatz ein: „Das ist mein nackter goldener Mann. Fühlen Sie mal, wie schwer der Kerl ist.“

Seit der Hollywood-Ehrung ist Irving noch beschäftigter als sonst. Nicht nur, dass er schon wieder am nächsten Roman arbeitet – als Oscar-Preisträger darf er nun auch den Juror spielen. Für die nächste Veranstaltung muss er täglich zwei DVDs mit aktuellen Filmen begutachten. Ein Meisterwerk habe er nicht gesichtet, seufzt et Der hoch gelobte „Beautiful Mind“ mit Russell Crowe sei nur mäßig. EgaL Irving fiihlt sich geehrt, seinen 60. Geburtstag (am 2. März) als vielbeschäftigter Mann feiern zu können. „Ich habe weit mehr zu tun als noch vor zehn Jahren“, sagt er und strahlt.

Das Lächeln schwindet schnell, als unser Interview beginnt. Denn mit der US-Flagge auf seinem Schreibtisch ist es Irving bitter ernst.

Mr. Irving, würden Sie sich selbst auch eine Hand transplantieren lassen, wenn Sie eine verloren hätten?

Nie. Ich mag es nicht ständig Pillen zu schlucken. Und das muss man, um die Abstoßung des Transplantates zu verhindern. Schon deswegen nicht.

Hätten Sie Probleme, mit der Hand eines anderen Mannes weiterzuleben?

Die Vorstellung ist furchtbar. Aus diesem Grund muss Patrick Wallingford ja auch notwendigerweise oberflächlich sein: Er denkt einfach nicht drüber nach, sonst könnte er’s nicht ertragen. Außerdem kann jeder Mensch durchaus mit einer Hand leben. Wenn du keine Tomaten mehr schneiden kannst, musst du eben jemanden finden, der dir hilft, Tomaten zu schneiden. Deshalb habe ich den Roman auch mit einer Unterstimme konzipiert, die fragt: Wer würde so was tun?

In Wien gab’s ja so einen Fall. Ein Mann, der seine Hände bei einem Briefbombenattentat verloren hat, lässt sich zwei neue transplantieren. Aber diese neuen Hände ekeln ihn, und er lässt sie sich wieder abschneiden.

Ich weiß von einem Australier, der seine neue Hand zwar mochte, aber die Medikamente nicht vertragen konnte. Er hörte auf, diese Pillen zu nehmen, und sein Immunsystem fing an, die Hand abzustoßen. Sie wurde grün, die Haut starb ab – er fühlte sich wie ein Zombie. Also musste die Hand abgenommen werden.

Ich glaube, wir werden in den nächsten zehn Jahren mehr über solche Identitätsprobleme lernen. Verantwortungsvolle Ärzte werden dann vielleicht sogar von solchen Operationen abraten.

Dein Gehirn, das bist du. Mit einem fremden wäre man eine andere Person.

Aber welche Person wäre man? Der Hirnspender, der Rest-Körperspender oder eine Art dritter Mann?

Sehr schwer vorzustellen.

Als Romancier versetzen Sie sich gerne in die Köpfe anderer Menschen. Sind Sie nicht neugierig, wie es sich etwa im Kopf Ihrer Frau anfühlt?

Aber was würde dann mit meinem alten Kopf passieren, der das so gerne wissen will? Den gäb’s ja nicht mehr. Und wenn etwas mit meinem Kopf so in Unordnung wäre, dass ich ein anderes Hirn brauchte, dann hätte ich bereits nicht mehr genug Hirn, um zu wissen, dass ich ein Hirn brauche. Und wenn meine Frau oder meine drei Söhne eines Tages sagen sollten: „Sein Kopf tut’s nicht mehr, wir sollten ihm das erstbeste Gehirn einpflanzen, das wir bekommen können“, dann sage ich schon jetzt: Das ist nicht mein Wille.

Was wäre, wenn Sie sich in den Kopf von George Bush versetzten? Was würden Sie tun, wenn Sie der Präsident der USA wären?

Solche Fragen beschäftigen zurzeit ja viele meiner liberalen Schriftsteller-Kollegen. Mir widerstrebt es, mich über die Politik der USA zu äußern. Ich bin kein Journalist. Und als Schriftsteller brauche ich sehr lange, um herausfiltern zu können, was jetzt das Richtige wäre. Ich habe selten aktuelle politische Entwicklungen kommentiert. Ich habe etwa über Abtreibungsrechte in den USA nur aus einer historischen Perspektive geschrieben. Mein „Vietnam“- Roman erschien erst 1998, lange nach dem Ende des Krieges.

Dann fragen wir nicht den Literaten, sondern den US-Bürger Irving.

Ich stehe der politischen Rechten in diesem Land sehr kritisch gegenüber.

Wir werden lange nicht wissen, welche Reaktion auf die Anschläge vom 11. September die richtige war oder gewesen wäre. Ich weiß nur, dass sich meine politische Perspektive auch nach dem 11. September nicht verändert hat. Ich bin kein Republikaner geworden.

Immerhin haben Sie den Schreibtisch mit der US-Flagge dekoriert.

Ich bin nun mal Amerikaner. Am 11. September haben 10 000 Kinder einen Elternteil verloren. Ich bin inzwischen weit weniger tolerant gegenüber anti-amerikanischen Strömungen, als es viele meiner Kollegen sind. Ich war allerdings schon immer Pro-Israel. Der Westen hat sich gegenüber den Israelis extrem heuchlerisch verhalten, wenn er deren Taktik gegen ihr Terrorismus-Problem beurteilte. Ich hoffe, dass wir den Israelis nun genauer zuhören. Wenn es Terror-Gruppen gibt, die es nur darauf absehen, zu töten, habe ich kein Problem damit, sie aufzuspüren und sie zu töten.

Ist das vielleicht nicht doch eine emotionale Uberreaktion?

Ich habe kein Mitleid mit den Taliban. Es gibt Länder, die sich außerhalb der gültigen politischen Grundregeln befinden. Ich habe kein Problem damit, wenn diese Länder bestraft werden.

Und Bush entscheidet, wer bestraft wird – und vor allem wie.

Das habe ich nicht gesagt. Ich habe übrigens auch nicht für ihn gestimmt Ich mag Bush nicht, primär wegen seiner innenpolitischen Positionen. Aber momentan gibt’s da einfach dieses Gefühl, seine Außenpolitik zu unterstützen und Amerika im Kampf gegen den Terroristen zu unterstützen.

Ich bin beunruhigt, dass die Republikaner im Zuge dieser Entwicklungen versuchen, nun auch innenpolitische Pflöcke einrammen – was ihnen sonst nie möglich gewesen wäre. Aber was Bushs Politik in Afghanistan betrifft, so bin ich nicht unzufrieden. Er wird von guten Leuten unterstützt Ich vertraue Leuten wie Colin Powell, die in internationalen Krisen nun mal viel mehr Erfahrung ab Bush haben.

Sehen Sie, ich sehe mich selbst nach wie vor als moderaten Linken, aber vor allem als Moralisten. Ich habe mein Land immer wieder kritisiert. Aber ich möchte Ausländern gegenüber nicht als vehementer Kritiker der USA auftreten. Und wenn ich weltweit dauernd mit Anti-Amerikanismus konfrontiert bin, kritisiere ich mein Land nicht auch noch auf dieselbe Art. Die amerikanische Linke hat die Bombardierung Afghanistans natürlich verdammt – als Akt amerikanischer Arroganz und Aggression. Diese Typen haben sich wohl selbst viel zu lange reden hören.

Ein paar Selbstzweifel können aber auch einer Weltmacht nicht schaden.

Es war zwar wichtig, dass Bush sagte: „Wir befinden uns nicht im Krieg mit dem Islam.“ Aber Salman Rushdie hat das kürzlich in einem exzellenten Essay für die „New York Times“ etwas genauer analysiert. „Dieser Konflikt hat sehr wohl mit dem Islam und seinen Intentionen zu tun“, schrieb er. Nach dem 11. September sah ich in britischen und anderen europäischen Zeitungen Statements, die nicht nur anti-amerikanisch, sondern antisemitisch waren.

Wir müssen die Verbrecher finden. Und wenn unsere Freunde, die Saudis und die Ägypter, sie verstecken, haben wir mit den falschen Leuten gesprochen. Ich habe in meinem eigenen Land immer christliche Fundamentalisten kritisiert, die Granaten auf Abtreibungskliniken werfen. Warum sollte ich mich jetzt islamischen Fundamentalisten gegenüber versöhnlich zeigen?

Ihr eigentliches Kriegsziel haben die USA nicht erreicht: Bin Laden ist immer noch auf freiem Fuß.

Ich bin froh, dass sie ihn noch nicht gefasst oder getötet haben. Dann würden viele Länder sagen: „Jetzt ist es vorbei.“ Falsch. Al Qaeda ist nicht die einzige Gruppe, die Terror-Akte gegen die USA propagiert. Wenn man weiß, was Hamas getan hat, was sie planen, und man dann weiß, wo ein Hamas-Mitglied wohnt, dann unterstütze ich die Israelis, wenn sie sagen: „We get him.“ Und diejenigen im Westen, die Israel dafür kritisieren, sind offenbar noch nie selbst attackiert worden.

Und Sie selbst?

Was würde ich wohl machen, wenn in der Nachbarschaft Leute mit gefahrlichen Hunden lebten, die eine Gefahr für meine Kinder wären? Wenn die Typen ihr Haus verlassen, gehe ich hin und erschieße die Hunde! Jeder, der sich um das Leben seiner Kinder sorgt, würde sich so verhalten.

Ist das eine Lehre, die Sie aus den Anschlägen gezogen haben?

Diese Einstellung hatte ich immer: Wenn Leute dich umbringen wollen, töte sie zuerst. Wenn man in Paris einen Mann an Bord eines Flugzeuges lässt, der eine Bombe im Schuh hat, dann, verdammt, ändert das Gesetz! Behandelt ihn nicht wie einen gewöhnlichen Verbrecher. Tötet ihn! Wenn er Freunde hatte, die ihm bei der Vorbereitung seines Attentats halfen, findet sie! Wir haben doch gesehen, wo das hinfuhrt, wenn man Friedensverhandlungen mit Leuten führt, die gar kein Interesse am Frieden haben.

Ein Schriftsteller, der so gar nicht an die Kraft der Worte glaubt?

Nein. Und ich befürchte, dass auch dieses Gespräch, das wir gerade fuhren, in diesem Punkt wertlos ist. Der Kampf gegen den Terrorismus ist so neu, dass auch niemand von uns voraussagen kann, wie lange er dauern wird. Meine größte Sorge ist, dass die Reaktion auf den 11. September langsam verblasst.

Sprechen wir über die Rolle der Medien nach dem 11. September. Der Journalist Wallingford wird berühmt, weil ihm ein Löwe vor laufender Kamera die Hand abbeißt. Diese Szene wird weltweit so oft wiederholt wird, bis jeder den „Löwenmann“ kennt. Mit dem Einsturz des WTC war es ähnlich.

Die Entscheidung, diese Bilder so oft zu zeigen, wurde aus demselben Zynismus getroffen. Traurig ist, dass dich die ständige Wiederholung ermüdet, selbst wenn etwas hinter der Nachricht steckt, mit dem du dich identifizierst.

Bei der Recherche zu Ihrem Buch haben Sie mit einem TV-Reporter zusammengearbeitet. Haben Sie dabei etwas über das Nachrichtengeschäft gelernt, das Sie noch nicht wussten?

Mir war nicht bewusst, wie viele Journalisten in dem Job frustriert sind, weil das System derart auf Einschaltquoten ausgerichtet ist. Nur wenn es populär ist, wird es überhaupt eine Nachricht.

Die Weltpolitik bleibt dabei auf der Strecke, zumal in den USA. Wallingfords Redakteur sagt mal: „Nichts mehr über die Deutschen, die sind durch.“

Es ist erstaunlich, wie wenig Platz dem Fall der Berliner Mauer eingeräumt wurde. Es war ein Thema fiir gerade mal 24 Stunden. Natürlich findet man Artikel über Deutschland in US-Zeitungen, aber versteckt auf den hinteren Seiten. Natürlich frustriert das Journalisten, die aus diesem Land berichten müssen. Die Wiedervereinigung oder die Entwicklung der Kaufkraft in Ostdeutschland, all diese Themen werden nicht gerade tiefgehend behandelt Daher der Satz des Redakteurs: „Die Deutschen sind durch“.

Gilt fiir Sie nicht auch die Regel: Sex und Katastrophen ziehen mehr als ein Roman über die Wiedervereinigung?

Einen Roman über die Wiedervereinigung würde ich auch nicht lesen wollen. Mich interessiert das Thema im echten Leben, aber nicht als Roman.

Warum ist ein Roman über jemanden, dem Löwen vor laufender Kamera seine Hand abfressen, interessanter?

Das sehen Sie falsch. Ich habe keinen Roman geschrieben über jemanden, der seine Hand verloren hat Ich habe über einen Mann geschrieben, der glaubt, dass ihm eine Hand fehlt. Tatsächlich fehlt ihm etwas anderes: ein wirkliches Leben. Insofern ist „Die vierte Hand“ kein Roman über einen Mann, der seine Hand verliert. Es ist ein Buch über jemanden, der sein Leben ändert.

Der Sieg der Moral: Aus dem Weiberhelden wird ein guter Ehemann.

Ich würde nicht sagen, dass er ein Weiberheld ist Nein. Er ist ein Mann, mit dem alle Frauen schlafen wollen. Und er lässt sich rumkriegen, ohne die Konsequenzen in Betracht zu ziehen.

Sind Sie sicher, dass Sie nicht Ihre Macht als Autor missbrauchen, um einen gutaussehenden jungen Mann für seinen Erfolg bei Frauen zu bestrafen?

Das war nicht meine Absicht. Um diesen Charakter zu gestalten, musste ich nur an ein paar Bekannte denken: Journalisten, Schauspieler – Leute, denen Erfolge einfach zufallen.

Glauben Sie, dass wahre Liebe und Treue zueinander gehören? In Ihrem Roman scheint es notwendig so zu sein.

Das stimmt Wallingford weiß: Wenn er mit Doris Clausen zusammenleben will, muss er akzeptieren, dass sie Treue verlangt Doris ist sehr ernst, Wallingford leichtfertig. Wobei ein derartiges Treuegebot natürlich nicht fiir jede Liebesgeschichte gilt. Es hat viel mit dem Charakter der Leute zu tun. Ich kenne Menschen, die leben seit langem zusammen, ohne dass sie sich treu sind. Und ich kenne Leute, die keine Form von Untreue akzeptieren würden. Für mich als Romancier ist wichtig: Ich verallgemeinere nicht Ich sage nicht: Nur so sieht wahre Liebe aus, nur so muss eine gute Beziehung sein. Mich interessiert der einzelne Fall.

Sind Sie als Autor schon zu abgebrüht oder weinen Sie im Kino manchmal über einen Liebesfilm?

Wie hieß noch der Film über die sterbende Prostituierte? Ach ja, „Waterloo Bridge“, das ist ein guter Film. Aber die meisten Film-Lovestorys funktionieren bei mir nicht – außer „Casablanca“ natürlich. Eine Lovestory und gleichzeitig die Verneinung einer Liebesgeschichte.

Glauben Sie, dass Ihre eigenen Liebesgeschichten Leute rühren können?

Ich bin zuversichtlich, was meine Talente als Autor betrifft, Menschen zu rühren. Ich will sie zum Lachen und zum Weinen bringen. Ich fange nie ein Buch oder ein Drehbuch an, bevor ich nicht weiß, welches die emotionalen Momente der Story sind. Das ist für mich auch der einzige Grund, warum ich überhaupt schreibe: Weil ich denke, eine Geschichte ist emotional: lustig oder traurig. Das ist mir weit wichtiger, als neunmalkluge, gedankenschwere Schinken zu schreiben.

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